THEMEN DER ZEIT
Taifun Haiyan: „200 bis 300 Patienten kamen jeden Tag“


Der Taifun Haiyan hat Tausende Philippinos in den Tod gerissen, Millionen verloren ihr Zuhause. Ein Hausarzt aus Nordrhein, der mit der Hilfsorganisation Humedica vor Ort war, berichtet von Zerstörung, Leid und der Bedeutung des Weihnachtsfestes für die betroffenen Menschen.
Am Abend des 7. November 2013 zog der Taifun Haiyan mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 300 Kilometern pro Stunde über die philippinischen Inselgruppen Samar und Leyte hinweg. Die zumeist aus Holz und Wellblech bestehenden Hütten hatten dieser Naturgewalt nichts entgegenzusetzen. Als der Taifun vorübergezogen war, hatten Millionen Menschen ihr Obdach verloren, Tausende auch ihr Leben.
Am 8. November brach ein erstes Team der Hilfsorganisation Humedica zu den Philippinen auf, um den Opfern von Haiyan Erste Hilfe zu leisten. Das zweite Team folgte am 15. November; unter den acht Ärzten, drei Pflegekräften und zwei Koordinatoren war auch der Niederkasseler Allgemeinmediziner Dr. med. Michael Brinkmann. In einem teilzerstörten Krankenhaus in Tacloban, der Hauptstadt der Provinz Leyte, schlugen die Helfer ihr Lager auf. „Wir hatten keinen Strom und kein fließendes Wasser“, berichtet Brinkmann. „Aber wir hatten Arzneimittel für etwa 3 000 Patienten, vor allem Antibiotika, Schmerzmittel und Antihypertensiva.“ Schnell sprach sich herum, dass in der Klinik wieder Ärzte arbeiteten – zwischen 200 und 300 Patienten kamen täglich. Zunächst waren es vor allem Menschen, deren Verletzungen bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht versorgt worden waren. „Viele hatten tiefe Schnittverletzungen, die ihnen durch umherfliegende Wellblechdächer beigebracht wurden“, sagt Brinkmann. „Zahlreiche Verletzungen hatten sich infiziert, wir mussten Abszesse behandeln und Patienten mit Sepsis.“
Als nach einigen Tagen Schnittwunden und Frakturen versorgt waren, kamen viele Menschen mit obstruktiven Atemwegserkrankungen in die Klinik. „Auf den Philippinen ist jetzt Regenzeit“, erklärt Brinkmann. „Die Menschen waren permanent im Nassen, und es war windig. Zudem haben sie begonnen, den Müll zu verbrennen, der auf der Straße lag, um ihn so zu beseitigen. Über der Stadt lag oft beißender Rauch.“ Die Folge waren Pneumonien und Obstruktionen. In der Klinik fanden die Ärzte zwei Inhalationsgeräte, die sie mit einem zwischenzeitlich eingeflogenen Generator betreiben konnten. Nach drei bis vier Tagen ging es den meisten Patienten wieder deutlich besser.
Zusätzlich zu ihrer Arbeit in der Klinik fuhren Brinkmann und seine Kollegen auch mit einem Jeep hinaus zu den umliegenden Dörfern. „Dort haben wir mit dem Capitano, dem Dorfvorsteher, gesprochen, der uns in einem halbwegs trockenen Gebäude untergebracht hat, meistens einer Schule oder einer Kirche“, erzählt Brinkmann. „Einmal haben wir unsere Apotheke auf einem Altar aufgebaut, weil kein anderer Tisch zur Verfügung stand.“
In diesen Dörfern haben sie auch viele Tage nach der Katastrophe Menschen gefunden, deren schwere Verletzungen noch unversorgt waren. „Neun Tage nach der Katastrophe wurde ein 50-jähriger Mann in schlechtem Gesamtzustand auf einer Trage aus Bambusstämmen zu uns gebracht“, berichtet Brinkmann. Zwei seiner Söhne waren bei ihm. Eine Palme sei auf seinen Rücken gefallen, erzählten sie. Seither könne er seine Beine nicht mehr bewegen. „Eigentlich hätte dieser Mann sofort mit einem Rettungshubschrauber in ein Krankenhaus geflogen werden müssen“, sagt Brinkmann. Doch sie hätten nicht einmal ein Handy gehabt, um Hilfe zu holen. „Das waren die bedrückendsten Momente“, so der 54-jährige Hausarzt, „weil uns die sehr begrenzten Möglichkeiten deutlich vor Augen geführt wurden.“ Irgendwann hätten die Dorfbewohner dennoch ein Fahrzeug organisiert, mit dem der Mann in ein Krankenhaus gefahren wurde. „Zum Abschied haben mich die Kinder gefragt, wann ihr Vater wieder laufen könne“, sagt Brinkmann. „Ihnen zu sagen, dass er nie wieder laufen kann, habe ich nicht übers Herz gebracht.“
Haiyan war einer der stärksten tropischen Wirbelstürme, die jemals gemessen wurden. Mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 315 Kilometern pro Stunde gilt er als stärkster tropischer Sturm, der seit Beginn der Aufzeichnungen auf Land getroffen ist. Entsprechend groß sind die Schäden, die er verursacht hat: Dem philippinischen „National Disaster Risk Reduction and Management Council“ zufolge verloren mehr als vier Millionen Menschen ihr Zuhause. 1,1 Millionen Häuser wurden ganz oder teilweise zerstört, 6 069 Menschen verloren ihr Leben, 27 468 wurden verletzt, und 1 779 Personen werden auch heute noch vermisst.
Am Anfang habe man vielen Menschen den Schock angemerkt, unter dem sie standen, berichtet Brinkmann: Viele hätten unter Schlaf- und traumatischen Belastungsstörungen gelitten. „Im Grunde genommen hätte die gesamte Region psychisch therapeutisch betreut werden müssen“, meint der Hausarzt aus Niederkassel. Die Stimmung habe sich jedoch geändert, als die Versorgungssituation besser geworden sei, als die Menschen Lebensmittel bekommen hätten, Wasser und eine flächendeckende medizinische Versorgung. Auch die kostenfreie Behandlung auf gutem Niveau habe ihnen Mut gemacht. „Die Bewohner von Leyte haben gemerkt, dass Menschen aus aller Welt zu ihnen gekommen sind, um ihnen zu helfen“, sagt Brinkmann. „Das hat ihnen auch psychologisch geholfen.“
Zu den Aufgaben der Hilfsorganisationen zählte ebenfalls die Impfung gegen Masern und Polio, die sie im Rahmen des Impfprogramms der WHO durchgeführt haben und die nicht in den Leistungen des philippinischen Gesundheitssystems enthalten ist. „Die medizinische Versorgung in Leyte hat vor dem Taifun gut funktioniert“, sagt Brinkmann, „allerdings nur für Gutverdienende, die sich die Behandlung privater Ärzte leisten konnten.“ Das staatliche System hingegen sei veraltet und überlastet gewesen.
Nach den Zerstörungen durch Haiyan sind zahlreiche Spendengelder geflossen. „Das ermöglicht es den Hilfsorganisationen, schnelle Aufbauhilfe zu leisten“, sagt Brinkmann. Diese Hilfe müsse auch von den ausländischen Organisationen geleistet werden – denn ob die Regierung in Manila den drei betroffenen Inseln helfen werde, sei zweifelhaft. Wichtig sei es jedoch, dass die Hilfsorganisationen nur so lange in den Regionen bleiben, bis die lokalen Strukturen wieder funktionierten. „Denn wenn wir zu lange vor Ort bleiben, besteht die Gefahr, dass sich die lokalen Strukturen verschieben, und die Ansprüche der Bevölkerung steigen“, meint Brinkmann. Deshalb sei es wichtig, die Versorgung im richtigen Moment wieder zu übergeben, wahrscheinlich Ende Dezember.
Auch das nahende Weihnachtsfest könnte Brinkmann zufolge den Menschen helfen, die Katastrophe zu verarbeiten: „Auf den Philippinen sind mehr als 80 Prozent der Menschen katholisch. Am Heiligabend werden sie in den zerstörten Kirchen Christmetten abhalten. Und ich glaube, dass ihre starke Religiosität es ihnen leichter machen wird, im Alltag wieder Struktur und Rhythmus zu finden.“
Ohnehin sei er mit einem positiven Gefühl wieder nach Hause geflogen, erzählt Brinkmann. „Kurz vor meiner Abreise habe ich viele Menschen gesehen, die sich Baumaterial aus den Trümmern gezogen haben, um sich ein neues Zuhause aufzubauen. Technische Trupps waren unterwegs, um die Stromversorgung wieder zu errichten.“ Die Menschen hätten wieder selbst Hand angelegt, und es sei keine Lethargie mehr zu spüren gewesen. Und auch die Kinder hätten wieder in den Straßen gespielt.
Falk Osterloh
www.humedica.org, Spendenkonto 4747,
BLZ 73450000, Sparkasse Kaufbeuren