ArchivDeutsches Ärzteblatt6/2014Buch über Kindesmisshandlung: Polemik, die gleichwohl schmerzt

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Buch über Kindesmisshandlung: Polemik, die gleichwohl schmerzt

Gerst, Thomas

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Oft werden sie gerufen, wenn bereits nichts mehr zu retten ist, wenn ein Kind infolge von Misshandlungen durch ein Elternteil gestorben oder irreversibel geschädigt ist. Die Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat von der Berliner Charité berichten in dem Buch „Deutschland misshandelt seine Kinder“ über ihre beruflichen Erfahrungen mit Kindesmisshandlungen in der Familie. Und sie erheben schwere Vorwürfe gegen alle diejenigen, die offenbar nicht zu verhindern wissen, dass jede Woche in Deutschland drei Kinder an den Folgen elterlicher Gewalt sterben, dass jede Woche 70 Kinder so schwer misshandelt werden, dass sie ärztlicher Versorgung bedürfen, wobei die Autoren von einer weitaus höheren Dunkelziffer ausgehen. Das System des Kinderschutzes in Deutschland versage fast auf der ganzen Linie, lautet der Grundtenor des Buches, öffentlichkeitswirksam vorgestellt Ende Januar in Berlin bei der Bundespressekonferenz.

Auch bei den Kinder- und Jugendärzten wird das Buch auf wenig Begeisterung stoßen, gehören sie für die Autoren doch mit zu dem System, das nicht verhindert, dass Kindern in der eigenen Familie Schreckliches angetan wird. „Das Schweigen der Ärzte“ ist das fünfte Kapitel des Buches überschrieben, und auch hier wird kräftig ausgeteilt. Tagtäglich würden „Hunderte misshandelter Kinder wieder in die Hände ihrer Peiniger übergeben, mit aktiver Beihilfe der Ärzte oder zumindest mit ihrer stillschweigenden Duldung“. Ausgehend von Einzelfällen kommen Tsokos und Guddat zu dem Schluss, viele Ärzte neigten dazu, körperliche Gewalt gegen Kinder zu bagatellisieren. Kein Wunder, dass der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte postwendend die in dem Buch erhobenen Vorwürfe zurückweist – insbesondere den, dass es ökonomische Erwägungen seien, die Ärzte zum konsequenten Wegschauen bewegten.

Solch polemische Rundumschläge könnten dazu führen, dass durchaus Bedenkenswertes in dem Kapitel nicht mehr wahrgenommen wird. „Misshandlungsmedizin“, schreiben die Autoren, sei für viele Kinder- und Jugendärzte in Deutschland – anders etwa als im angloamerikanischen Sprachraum – immer noch Neuland. Sie müssten sich rechtsmedizinisch weiterbilden, um unfalltypische von misshandlungstypischen Verletzungen unterscheiden zu können. Tsokos und Guddat machen deutlich, dass das hohe Gut der ärztlichen Schweigepflicht nach der (Muster-)Berufsordnung dort seine Grenzen habe, wo „die Offenbarung zum Schutz eines höherwertigen Rechtsgutes erforderlich ist“; dies sei der Fall, wenn beim konkreten Verdacht auf Kindesmisshandlung Wiederholungsgefahr bestehe. Und: Bei konkretem Verdacht sollten die Ärzte gesetzlich verpflichtet werden, das potenzielle Missbrauchsopfer in eine Klinik zu überweisen, wo ein Rechtsmediziner oder eine forensisch geschulte Fachkraft zur Abklärung herangezogen werden kann.

Thomas Gerst, Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik
Thomas Gerst, Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik

Das Buch macht es vielen, die sich von den Kritikbreitseiten getroffen fühlen, leicht, dagegen zu argumentieren. Aber es bleiben die vielen geschilderten Einzelschicksale von geschundenen Kindern – zu Tode geschüttelt und geschlagen oder dauerhaft an Körper und Seele verletzt – und das unbestimmte Gefühl, dass in einer Gesellschaft, in der so etwas immer wieder vorkommt, vieles im Argen liegt. Und deshalb kann diese schmerzhafte Lektüre durchaus heilsam sein.

Thomas Gerst
Redakteur für Gesundheits- und Sozialpolitik

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