MEDIZIN: Zur Fortbildung
Sportmedizinische Aspekte beim Segeln
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Schlüsselwörter: Segeln, Stütz- und Halteapparat, akute Verletzungen, Herz-Kreislauf
Medical problems of competitive sailing
and sailing of the elderly
Counselling competitive sailors, physicians are confronted with the biomechanics in competitive sailing. The
main problem is the enormous strain on the athletes’ spine and knees. 40 per cent of the athletes participating in
competitive sailing complain about spine problems and more than 30 per cent about knee problems. The cardiopulmonal activity of the competing sailor mirrors the actual condition of the regatta course. The pulse rate can
reach a peak of 170 per minute under the condition of a wind velocity of 5 to 6 Beaufort. In the case of sailors
with coronary heart disease who spend their vacation on larger sailing boats, we offer recommendations in
regard to the maximum amount of physical stress they are subjected to and in regard to a specific training of
their partners.
Key words: Sailing, locomotive and supportive apparatus, acute injury, cardiovascular
Die Belastungen beim Segeln sind vorwiegend von der Natur abhängig. Wind, Wellen, Strömung, Nässe sowie
extreme Temperaturen prägen sowohl die physische als auch die psychische Belastungssituation. Hinzu kommt
eine statisch muskuläre Beanspruchung.
Im Regattasport hängt die Leistung des Athleten nicht nur von seinen technischen und taktischen Fähigkeiten
und seiner Kondition ab, sondern auch von der Qualität von Boot und Segel. Für den betreuenden Arzt im
Segelsport hat sich die Bedeutung der Athletik im Vergleich zu früher deutlich gewandelt. Bei den olympischen
Bootsklassen ist ein hoher körperlicher Einsatz erforderlich, um die Boote bei entsprechendem Wind auf
maximale Geschwindigkeit zu bringen.
Biomechanische Bedingungen beim Segeln
Jeder Segler versucht, sein Boot so aufrecht wie möglich zu segeln, um die Geschwindigkeit optimal zu halten. Dem Einfluß des Windes setzt der Segler ein Drehmoment entgegen, das bei hoher Windgeschwindigkeit
größer werden muß (Abbildung 1). Dieses Drehmoment resultiert aus dem Produkt Last mal Lastarm
(Körperschwerpunkt - Mitschiffslinie). Fällt eine Bö ein, muß der Segler den Körperschwerpunkt von der Mitschiffslinie weiter entfernen, so daß der Lastarm und damit das Drehmoment vergrößert
wird.
Der über die Luvseite in die Segel einfallende Wind bewirkt über den Mast als Hebelarm eine Rotation
des Bootes zur Leeseite. Durch Hinauslehnen des Körpers außenbords versucht der Segler, eine optimale
Geschwindigkeit des Bootes zu erreichen. Darüber hinaus kann er durch Streckung seiner Hüfte bis zur
Horizontalen seines Oberkörpers den Schwerpunkt noch weiter nach außen bringen. Segler mit einem geringen
Körpergewicht müssen weiter außenbords hängen. Eine technische Hilfe, um die krängende Kraft des Windes zu
kompensieren, ist das in vielen Bootsklassen benutzte Trapez (Abbildung 2).
Einen Generationswechsel bedeutet die neue Zwei-Mann-Jolle (49er) im Olympischen Programm für Sydney.
Dieses Schiff erfordert hohes athletisches Können und Bootsgefühl. Entscheidend für den medizinischen Aspekt
sind die Ausleger, die am Boot angebracht sind, das Boot dadurch "verbreitern" und dem Segler die Möglichkeit
geben, weiter von der Mitschiffslinie entfernt zu agieren. Sie können den Vorteil schwerer Mannschaften
gegenüber Seglern mit geringerem Gewicht weitgehend ausgleichen. !
Aufgrund der teilweise hohen Belastung, unter anderem der ständig zu wiederholenden Komplexbewegung der
Wirbelsäule mit Beugung, Rotation und Seitneigung, ist ein guter Zustand der gesamten Muskulatur ein
absolutes Muß, um Beschwerden und Spätschäden zu vermeiden. Von der Belastungsform her gehört das
Regattasegeln zu den Langzeitbelastungen. Berücksichtigt man das Ablegen vom Hafen, mögliche
Startverschiebungen und anderes, können Zeiten von vier bis fünf Stunden erreicht werden.
Am Ende dieser Belastungszeiten kommt es zunehmend zu muskulären Ermüdungen mit entsprechender
Schwächung der optimalen physiologischen Haltung. Beim Steuermann, der verantwortlich für die Manöver und
das optimale Trimmen von Segel und Mast ist, werden vorwiegend Arm- und Schultermuskulatur dynamisch
belastet. Hier steht bei starkem Wind die Kraftausdauer im Vordergrund. Der zweite Mann im Boot (Vorschoter)
ist mitentscheidend für das Gewichtstrimmen des Bootes und belastet bei gestreckter Körperhaltung beim
Ausreiten bestimmte Muskelgruppen (wie Bauchmuskulatur, Streckmuskulatur des Oberschenkels) stärker als
andere Muskeln. Hier wird neben der Kraftausdauer auch die Schnellkraft gefordert, um beispielsweise aus einer
tiefen Hängeposition wieder zurück ins Boot zu gelangen und eine optimale Ausreitposition zu erhalten.
In der Ausreitposition des Hängens wird die Lendenwirbelsäule beansprucht. Bei einer 90°-Beugung im
Hüftgelenk errechnet man eine Vertikalbelastung der unteren Lendenwirbelsäule von etwa 3 600 Newton. Dieser
Wert gilt jedoch nur für die ruhende Position, bei hohen Wellen können 5 000 Newton überschritten werden.
Durch diese Belastungen beim Ausreiten und Hängen erfährt der Körper durch Böen im Segeln und
Wellenschlägen gegen den Bootsrumpf ruckartige, passive Beschleunigungen, deren Ausmaß physiologische
Grenzwerte des Stütz- und Halteapparates überschreiten können. Dies gilt vor allem bei einer Vorschädigung
oder angeborenen Normvarianten der Wirbelsäule.
Die über einen langen Zeitraum gehaltene Sitzposition mit starker Wirbelsäulenkrümmung kann zu einer
verminderten Stabilität und zu schmerzhaften Muskelverspannungen führen. Dies wird durch Nässe und Kälte
noch zusätzlich gefördert. Beim Sitzen auf der Bordkante mit einem großbogigen Rundrücken, der auch beim
Hinauslehnen unverändert beibehalten wird, erfolgen Ausgleichsbewegungen bei Windböen hauptsächlich aus
der Hüfte und den unteren beiden Lendenwirbelsäulensegmenten, geringer auch aus dem Iliosakralgelenk. Die
Gefahr einer starken Beanspruchung des Kreuzbein-Lendenwirbelsäulenüberganges als Drehscharnier könnte
damit gegeben sein.
Die Kyphosierung der Wirbelsäule kann zwar aktiv durch eine Anspannung der Rückenstrecker begradigt
werden. Dies bedeutet aber eine zusätzliche Muskelarbeit. Ein Teil der Haltekraft wird von der Zugspannung der
Wirbelsäulenbänder und Bandscheiben übernommen. Durch diese Rundrückenhaltung kommt es zu einer
Kompression der ventralen Wirbelkörperkanten und des vorderen Bandscheibenringes.
Beschwerden am Stütz- und Halteapparat
Ein weiterer kritischer Punkt im Hinblick auf die Biomechanik ist das Kniegelenk. Beim Segeln sind die
Belastungsverhältnisse des Kniegelenkes im Vergleich zum Stehen umgekehrt.
Hier ist die Belastung des Kniescheibengleitlagers gerade bei Kniestreckung ausgesprochen hoch, weil der
Oberschenkel als Hebel das Rumpfgewicht in waagerechter Lage halten muß. Dabei entstehen hohe
Muskelspannungen, die sich mitunter auch in Tendopathien des Kniestreckapparates äußern. Zwei Muskeln sind
zur Stabilisierung im Jollensitz entscheidend: Der M. iliopsoas und der M. quadriceps. Durch die stark unter Zug
stehende Muskulatur wird der Druck auf den hyalinen Knorpel der Patella sehr groß.
Die Kniescheibe muß im Jollensitz einen Druck von etwa 1 200 Newton aushalten. Darüber hinaus kommt es zu
Beschwerden am Ansatz der Quadrizepssehne, an der Tuberositas tibiae und im Bereich der distalen
Patellaspitze.
Durch den Bordkantendruck wird auch die dorsale Beinmuskulatur immer wieder beeinträchtigt. So sind
Reizungen der Sehnen in der Kniekehle und das "Einschlafen" der Füße beim Ausreiten durch
Quetschdruckbelastungen von Nerven und Gefäßen bei den Seglern weit verbreitet. Bei einer Umfrage in den
1980er Jahren an 100 Seglern (4, 7) klagten 40 Prozent der Teilnehmer während der Kieler Woche über
Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule. Das Beschwerdebild war abhängig von der gesegelten Bootsklasse.
So wurden die häufigsten Beschwerden bei den Finnseglern, die wenigsten bei den Steuerleuten der 470er
angegeben.
Schönle (6) befragte 50 Leistungssegler, die an Weltmeisterschaften teilnahmen. 44,5 Prozent hatten chronische
Rücken- und 30,9 Prozent Kniebeschwerden angegeben. 34,2 Prozent der Leistungssegler waren völlig
beschwerdefrei. Ähnliche Untersuchungen wurden von Newton und Bettermann (1, 3) durchgeführt. !
Akute Verletzungen
Die akuten Verletzungen (6) betreffen überwiegend die Hände, den Kopf sowie Kniegelenke und Füße. Bei 86
Segelverletzungen waren zu 31 Prozent Finger und Hände beteiligt, wobei die Rißwunden im Vordergrund
standen. Auch Verbrennungen an der Handinnenfläche nach "Durchrauschen" der Schot sowie Prellungen und
Frakturen traten auf. In 22,1 Prozent der Fälle war der Kopf mit Platzwunden und einigen wenigen
Gesichtsfrakturen betroffen. Ursächlich war fast immer die Kollision mit dem Großbaum bei
unvorhergesehenem Bugwechsel verantwortlich. Zahlreiche Verletzungen gab es auch beim An- und Von-BordGehen mit Sprüngen auf den rutschigen Steg.
Bei einer Untersuchung von 180 Kaderathleten des DSV im Olympiastützpunkt Kiel zeigte sich beim
allgemeinen Verletzungsprofil eine Verletzungshäufigkeit von 34,4 Prozent der Befragten, die in den letzten fünf
Jahren mindestens eine Verletzung davontrugen, 16,1 Prozent davon waren mehrfach verletzt. Interessant war
dabei auch die Tatsache, daß sich 46,4 Prozent der Athleten nicht beim Segeln, sondern in einer anderen Sportart
verletzten, und nur 43,6 Prozent in ihrer Kadersportart Segeln.
Mit 59,7 Prozent war die untere Extremität und mit 16 Prozent die obere Extremität am häufigsten betroffen. Es
folgten der Rumpf (12,8 Prozent), der Kopf (9,6 Prozent) und mit 6,4 Prozent die Wirbelsäule.
Herz-Kreislauf-Belastung des Seglers
Die Herz-Kreislauf-Belastung des Seglers wird vom Regattakurs und der Windgeschwindigkeit bestimmt. Durch
die hohe emotionale Belastung können vor dem Start Pulsfrequenzen von 130 bis 140 Schlägen/min erreicht
werden. Der Noradrenalin-Adrenalin-Quotient war bei kleineren Windstärken geringer als bei Starkwind. Dies
zeigt die große psychische Belastung während der Regatta. Bei einer Untersuchung beim Lasersegeln stieg die
Herzfrequenz bei fünf bis sechs Windstärken, hoch am Wind gesegelt, auf 170 Schläge pro Minute an. Sowohl
auf den Raumstrecken als auch auf den Vorwindkursen war die Kreislaufbelastung geringer (Grafik).
Blutveränderungen
Während sich der Hämatokrit sowohl im Training als auch beim Regattasegeln nur unwesentlich veränderte,
kam es zu einem erheblichen Abfall des Kaliumspiegels, im Mittel von 4,3 6 2 auf 3,9 6 2 mmol/l. Der Grad der
Ermüdung, der mit der Borg-Skala erfaßt wurde, korrelierte mit dem Abfall des Kaliumspiegels (8).
Haut
Viele Segler vernachlässigen auf dem Wasser den Schutz ihrer Haut. Obwohl das UV-Licht durch das Wasser,
im Gegensatz zum Schnee, praktisch nicht reflektiert wird, kann die Strahlungsintensität, vor allem in südlichen
Regionen, hoch sein. Der kurzwellige Anteil des ultravioletten Lichtes (UVB) kann zu einem chronischen
Lichtschaden führen.
Belastungen und Risiken auf großen Segelbooten
Schwerste Verletzungen mit Todesfällen wurden durch umschlagende Segel oder Bäume verursacht.
Schädelprellungen mit kurzer Bewußtlosigkeit können tödlich sein, wenn die betroffenen Segler über Bord
gehen und ertrinken. Das Ertrinken ist die häufigste Todesursache aller maritimen Todesfälle. In der breiten
Öffentlichkeit finden vor allem Regatten auf großen Schiffen, wie der Admirals-Cup, Beachtung. Bei solchen
Schiffen, deren Segelfläche über 140 m² beträgt, können bei hohen Windstärken gewaltige Kräfte freigesetzt
werden, die zu erheblichen Verletzungen führen können.
Für den in der Praxis tätigen Sportarzt spielt in der gesundheitlichen Beratung der Segler die Frage nach der
Belastbarkeit beim Segeln auf großen Segelbooten die größere Rolle.
Die übliche Größe dieser Schiffe liegt zwischen 8 m und 12 m. Häufig hat der Dickschiffsegler den 50.
Geburtstag schon hinter sich.
Welche sportmedizinischen Aspekte ergeben sich beispielsweise auf solch einem Schiff für Patienten nach
einem Herzinfarkt?
1 Er darf nicht alleine segeln, das Funkgerät oder Telefon muß von den übrigen Besatzungsmitgliedern bedient
werden können.
1 Der Partner muß bei einem Zwischenfall das Schiff alleine zum nächsten Hafen segeln können. Der Partner
muß mit dem Motor, den Segeln und den Navigationsinstrumenten vertraut sein.
1 Eine Rettungsinsel sollte zur Standardausrüstung gehören.
1 Bei hohen Windgeschwindigkeiten muß frühzeitig die Segelfläche verkleinert werden. Vorteilhaft sind
natürlich Rollreffanlagen.
1 Die Tagesplanung sollte mit der mehrtägigen Wettervorhersage übereinstimmen, so daß bei Windstärken über
6 nicht ausgelaufen wird. Dies gilt vor allem für das An- und Ablegen, da das Abdrücken an den Pollern größere
Kräfte erfordert.
1 Die Tagestour sollte auf vier bis fünf Stunden begrenzt werden. Nach dem Anlegen im Hafen wird ein
größerer Spaziergang oder eine Radtour als Ausgleich durchgeführt.
Gefährdung beim Segeln
Freizeitsegler sind häufig ungenügend vorbereitet. Das Tragen einer ohnmachtssicheren Rettungsweste wird auf
Hochseeyachten oft nicht beachtet. In Dänemark ist das Tragen von Rettungswesten Pflicht! Um Seenotfälle zu
vermeiden, sollten sich Schiff und Besatzung jederzeit in einem Zustand befinden, der sie befähigt, möglichst
jedem Wetter und jeder Situation gewachsen zu sein. Dafür zu sorgen, ist die Aufgabe eines verantwortlichen
Schifführers (2). Für Langzeittouren empfiehlt sich das vom Deutschen Seglerverband herausgegebene Buch
"Medizin auf See". Hier werden Verletzungen, Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten so beschrieben,
daß die Zeitspanne bis zum Erreichen eines Krankenhauses überbrückt werden kann.
Segeln ist eine herrliche Freizeitsportart, deren Inhalte durch die Natur geprägt werden. Wetteränderungen und
Zunahme der Windgeschwindigkeit können jedoch erhebliche Gefahren mit sich bringen, so daß alle Ärzte ihren
Patienten eine sorgfältige Ausbildung in Segelschulen empfehlen sollten.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1999; 96: A-542-546
[Heft 9]
Literatur
1. Bettermann AA: Zwei typische Leiden des Segelsportes. Prakt Sport-Traumatologie und Sportmed
1988; 3: 19-24.
2. Kofahl M (Hrsg): Medizin auf See. Busse Seewald: DSV-Verlag, 1995.
3. Newton F: The prevalence of anterior knee pain and back pain in elite youth dinghy sailors is compared
with that in a similar population of non-sailing youth sports players. Dissertation, University of Nottingham,
Faculty of Medicine, 1993.
4. Rieckert H: Sportmedizinische Aspekte beim Segeln. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 1993; 44:
301-304.
5. Schönle C: Traumatologie der Segelverletzungen. Akt Traumatologie 1989; 3: 116-120.
6. Schönle C: Pain and joint stress in sailing. Med Sci Res 1993; 21: 875-880.
7. Steidle A: Analyse der knie- bzw. wirbelsäulenbelastenden Faktoren beim Segeln. Schriftl Hausarbeit
(Lehramt an Gymnasien), Universität Kiel, 1985.
8. Stieglitz O: Fatigue and serum potassium in high performance sailors. Med Sci Res 1993; 21: 855-858.
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Hans Rieckert
Institut für Sport und
Sportwissenschaften
Abteilung Sportmedizin
Olshausenstraße 40
24098 Kiel
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