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Pandemie-Prophylaxe mit Tamiflu®: Ein Fall von Multisystemversagen


Eine „unendliche Geschichte um Datentransparenz“ (DÄ, Heft 4/2013) hat ein Ende gefunden. Dabei hat sich bestätigt, was seit Jahren befürchtet wurde: Der Neuraminidasehemmer Oseltamivir (Tamiflu®) verkürzt die Symptomdauer einer Influenza um weniger als einen Tag – im Mittel um lediglich 16,8 Stunden – und führt häufiger zu Nebenwirkungen als bisher angenommen. Auch Hinweise darauf, dass die Rate an Komplikationen oder Klinikeinweisungen vermindert werden könnte, haben sich nicht bestätigt. Mit diesem Fazit einer Metaanalyse, die auch bislang nicht zugängliche Daten berücksichtigt (BMJ 2014; 348: g2545), wurde der Höhepunkt im langjährigen Streit zwischen dem Hersteller Roche und der Cochrane Collaboration erreicht.
Deren Wissenschaftler hatten Roche immer wieder vehement und unter medialem „Begleitfeuer“ des British Medical Journal („Tamiflu-campaign“) offenbar zu Recht beschuldigt, essenzielle Daten zur Wirksamkeit von Tamiflu® absichtlich zurückzuhalten, und forderten Zugang zu den Rohdaten der industriegeförderten Studien, um Berechnungen des Herstellers überprüfen zu können. Zweifel erhoben sich auch hinsichtlich der „Kosten-Nutzen“-Bilanz des Präparates. Denn um für die Neue Influenza (2009) gewappnet zu sein, hatten Regierungen weltweit Tamiflu® im Wert von acht Milliarden US-Dollar gekauft. Allein in Deutschland wurden 7,5 Millionen Therapieeinheiten eingelagert. Für Roche wurde der Neuraminidasehemmer damit zum Verkaufsschlager – für die Regierungen letztlich zum Ladenhüter, denn die Neue Influenza verlief blande. Vielmehr steht wegen der Haltbarkeitsdauer von sieben Jahren bald die Vernichtung der Tamiflu®-Vorräte an.
Was ist angesichts dieses Irrsinns alles schiefgelaufen? Für die Cochrane-Wissenschaftler handelt es sich um ein eindeutiges „Multisystemversagen“. Obwohl die Wirksamkeit von Oseltamivir bereits in den Zulassungsstudien als niedrig eingestuft worden war, wurde der Wirkstoff 2002 im Markt einführt. Ohne Zweifel: Die Regierungen vieler Länder standen angesichts der Pandemieangst ihrer Bevölkerungen unter mächtigem politischem Druck. Dennoch müssen sie sich retrospektiv fragen (lassen), ob die Entscheidung für die Bevorratung evidenzbasiert erfolgte. Damals lagen zwar nicht alle heute bekannten Fakten auf dem Tisch, aber Zweifel an der „dünnen Beweislage“ für eine solch kostenträchtige Maßnahme gab es national und international durchaus. Hierzulande hatten sich die Bundesländer trotz ihrer Hoheit in Gesundheitsfragen auf Aussagen der WHO und des Robert-Koch-Institutes gestützt, wonach Tamiflu für die medikamentöse Prophylaxe einer Influenzapandemie geeignet sei. Zudem bestand im Vorfeld der damaligen Bundestagswahl ein Spannungsfeld zwischen Bund und Ländern.
Die Cochrane-Gruppe fordert nunmehr, dass politische Entscheider künftig Zugang zu allen unpublizierten Daten haben sollten, um sich ein möglichst unverzerrtes Bild über ein Arzneimittel machen zu können. Wie immer sich Regierungen im Fall einer neuen Gesundheitsbedrohung auch entscheiden mögen, die Tamiflu®-Kontroverse hat einen positiven Einfluss auf die Transparenz im Umgang mit klinischen Daten gehabt: Die Europäische Arzneimittelbehörde hat angekündigt, künftig alle Informationen zu den Zulassungsanträgen neuer Medikamente zu veröffentlichen. Und das BMJ will Metaanalysen nur publizieren, wenn die Autoren Zugang zu den Rohdaten hatten.