THEMEN DER ZEIT: Interview
Interview mit Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte (EBB) Alt Rehse: Ein klares Zeichen gegen Rechts setzen


Am Ort der NS-„Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse soll eine Erinnerungs- und Bildungsstätte entstehen. Ärztinnen und Ärzte sind aufgerufen, mit Spenden dazu beizutragen.
Herr Richter-Reichhelm, was verbinden Sie spontan mit Alt Rehse?
Richter-Reichhelm: Alt Rehse ist für mich eine klassische Erinnerungsstätte des kollektiven Tätertums. Die Erinnerung daran wach zu halten, gerade jetzt in der Zeit, in der rechte Strömungen nicht zu unterschätzen sind, halte ich für sehr wichtig. Alt Rehse ist – mit einem Alleinstellungsmerkmal in Deutschland – eine Stätte, bei der es um die Täterschaft geht. Dies zu fördern, ist neu für die Bundesgedenkstättenförderung, die uns jetzt zugeneigt ist.
In Ihrer Zeit als Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) hatten Sie ja auch schon mit Alt Rehse zu tun.
Richter-Reichhelm: Nach der Wende war Alt Rehse mit seinen Liegenschaften der kassenärztlichen Selbstverwaltung zugesprochen worden. Es gab damals in der KBV-Vertreterversammlung sehr ernsthafte Diskussionen darüber, wie man das Gelände angemessen nutzen könnte. Gegen eine Nutzung als Fortbildungsstätte wurde vorgebracht: An einem Ort, an dem Ärzte zu Tätern geworden sind, kann man keine normale ärztliche Fortbildung machen. Zudem bestand damals die Sorge, dass das Gelände, auf dem immerhin drei Armeen stationiert waren, wegen Bodenverunreinigungen gar nicht mehr genutzt werden könnte. Schließlich wurde mit knapper Mehrheit entschieden, die Liegenschaft zurückzugeben.
Die Bewohner des Musterdorfs haben ihre Häuser zu einem fairen Preis von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Mecklenburg-Vorpommern erwerben können. Der ganze Park ist an den Bund zurückgegeben worden, das Gutshaus, in dem jetzt die „Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse“ geplant ist, an die Gemeinde Penzlin.
Zu dem Zeitpunkt hat die NS-Vergangenheit von Alt Rehse also eher eine untergeordnete Rolle gespielt.
Richter-Reichhelm: Die war zwar in der Diskussion durchaus präsent, insbesondere mit Blick darauf, dass man dort nicht einfach eine 08-15-Ausbildung hätte machen können. Das war jedem klar. Aber die Vertreterversammlung hat leider Alt Rehse nicht als Chance gesehen, das NS-Thema aufzugreifen und sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.
Nun gibt es ja nicht wenige Ärztinnen und Ärzte, die meinen, man sollte diese ganze NS-Erinnerungsarbeit ruhen lassen. Wie würden Sie die davon überzeugen, dass eine Spende für die Erinnerungsstätte Alt Rehse sinnvoll ist?
Richter-Reichhelm: Man darf die Augen nicht einfach verschließen und sagen: Die Deadline ist überschritten, das ist verjährt, und wir decken den Mantel des Schweigens darüber. Das wäre sicherlich falsch. Zumal wir – ich wiederhole mich jetzt – leider in der Bevölkerung immer wieder Strömungen haben, die dem nationalsozialistischen Gedankengut hinterherweinen. Unser Ziel ist es, dort gegenzuhalten. Wir wenden uns ja nicht nur an die Ärzteschaft, sondern auch an die breite Bevölkerung, an Schulklassen, die nach Alt Rehse kommen sollen. Sie sollen hier in Verbindung etwa mit Sachsenhausen oder anderen Konzentrationslagern eine Gesamtschau bekommen: die Täter hier, die Opfer dort. Ich glaube, es stünde der Ärzteschaft sehr gut an, dort mit relativ bescheidenen Eigenmitteln, die wir schultern müssten, Flagge zu zeigen, ein klares Signal zu setzen gegen Rechts, gegen Diktatur und gegen eine Verzerrung der Gesundheitspolitik.
Was meinen Sie mit Verzerrung der Gesundheitspolitik?
Richter-Reichhelm: Was die Nationalsozialisten damals gemacht haben, war ja ein Schwenk um 180 Grad. Jeder Arzt, auch heute, ist eigentlich der Überzeugung, dass er primär für seinen einzelnen Patienten da ist. Für den ist er verantwortlich und für den muss er Hilfe und Linderung schaffen. Das wurde von den Nationalsozialisten umgekehrt: Der einzelne Patient war nichts mehr, der gesunde Volkskörper war alles. Man sollte immer wieder darauf hinweisen, dass es einmal diese Phase gab.
Wie sieht es derzeit mit der Finanzierung des Projekts aus?
Richter-Reichhelm: Wir haben das positive Votum des Expertengremiums des Kulturstaatsministeriums. Das hat im dritten Anlauf geklappt. Der Bund über die Bundesgedenkstättenverordnung und das Land Mecklenburg-Vorpommern sind bereit, Geldmittel zur Verfügung zu stellen, wenn die nachhaltige Betriebsführung gewährleistet ist. Da bin ich froh, dass nun die KBV mit im Boot ist und entsprechende Geldmittel beisteuert. Das ganze Projekt wird rund 5,8 Millionen Euro kosten, und wir können damit rechnen, ungefähr 1,65 Millionen Euro vom Bund und 2,25 Millionen vom Land Mecklenburg-Vorpommern zu bekommen. Den Rest – 1,9 Millionen – müssen wir aus Eigenmitteln finanzieren. Hier sind wir auf Spenden angewiesen.
Wenn man es auf den einzelnen Arzt herunterrechnet, wäre das pro Person doch eine überschaubare Summe.
Richter-Reichhelm: Bei rund 400 000 Ärzten wären das weniger als fünf Euro für den einzelnen Arzt. Wir müssen ja alle Rechnungen erst mal selber bezahlen, also vorfinanzieren. Wir brauchen also Eigenkapital. Wir müssen nicht gleich den ganzen Brocken von 1,9 Millionen Euro auf den Tisch legen, aber es muss schon sichtbar werden, dass wir auf einem guten Weg sind, diese Summe mit Spendengeldern zusammenzu-bekommen.
Sie haben als Verein das ehemals zum Rittergut Alt Rehse gehörende Gutshaus erworben. Was genau soll damit passieren? Das meiste Geld wird ja wohl in Baumaßnahmen fließen.
Richter-Reichhelm: Das geht erst mal in Dach und Fach – von einer Festigung des Fundaments, das man wohl unterspritzen muss, bis zu einem völlig neuen Dachstuhl, in dem jetzt der Holzwurm sitzt, und einer Neugestaltung der Außenfassade. Sämtliche Sanitäreinrichtungen und Fenster müssen erneuert werden. Abreißen und etwas Neues hinstellen wäre billiger, aber damit wäre der Bezug zur Vergangenheit verloren. Das Gutshaus steht zudem unter Denkmalschutz und darf gar nicht verändert werden.
Was genau ist in dem Haus geplant?
Richter-Reichhelm: Im Erdgeschoss wird es eine Dauerausstellung zur Geschichte des Ortes Alt Rehse und zur „Führerschule“ geben. Dazu gibt es schon ein klares Konzept. Deutlich soll hier auch der Weg, der hin zu Aussonderung und Tötung von kranken und behinderten Menschen führte, aufgezeigt werden. In der Ebene darüber, vormals der Beletage, wird Platz sein für Wechselausstellungen, Vortragsräume, für eine kleine Cafeteria, Sanitärräume, Garderoben und Büroräume für das Personal. Für das Obergeschoss sind Seminarräume vorgesehen. In Kenntnis der Nazi-Ideologie soll dort über aktuelle medizin-ethische Themen diskutiert werden. Da gibt es ja gerade bei der Genomforschung, der Stammzellforschung und den modernen medizinischen Verfahren, PID et cetera viele Dinge, über die man diskutieren muss
Das Gespräch führte Thomas Gerst.
Heilen und Vernichten im Dienste des Nationalsozialismus
Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ war das ideologische Zentrum der NS-Ärzteschaft. Seit 1934 entstanden im mecklenburgischen Alt Rehse auf einer Fläche von 69 Hektar mehr als 60 Neubauten. In Alt Rehse wurde ein Paradigmenwechsel in der Medizin und Gesundheitspolitik ideologisch und ästhetisch untermauert: Nicht mehr das Individuum stand nun im Mittelpunkt ärztlichen Handelns, sondern der Volkskörper.
Der Arzt übernahm die Rolle des „Gesundheitsführers des Volkes“. Neue ethische Grundprinzipien legitimierten die Voraussetzungen für eine umfassende Umsetzung der Politik von Heilen und Vernichten. Bis 1943 erfolgte in Alt Rehse die „weltanschauliche Schulung“ von mehr als 10 000 Ärzten, Hebammen und Apothekern.
Mehr zur Geschichte, zu aktuellen Veranstaltungen und zum Erinnerungsprojekt unter www.gutshaus-ar.de