MEDIZIN: Klinische Leitlinie
Diagnostik und Therapieempfehlungen bei Angststörungen
The diagnosis of and treatment recommendations for anxiety disorders
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Hintergrund: Angststörungen (Panikstörung/Agoraphobie, generalisierte Angststörung, soziale Phobie und spezifische Phobien) sind die häufigsten psychischen Erkrankungen. Die 12-Monatsprävalenz der Panikstörung/Agoraphobie beträgt beispielsweise 6 %.
Methode: Systematische Literaturrecherche von Originalarbeiten mit Kontrollgruppe bis zum 1. Juli 2013. Es wurden Studien zur Psycho- und Pharmakotherapie berücksichtigt. Experten aus 20 Fachverbänden und anderen Organisationen prüften die Evidenz der Therapieangebote anhand aller verfügbaren randomisierten klinischen Studien sowie einer Synthese der Empfehlungen anderer nationaler und internationaler Leitlinien.
Ergebnisse: Es wurden 403 randomisierte kontrollierte Studien bewertet. Angststörungen sollen mit Psychotherapie und Psychopharmakotherapie oder einer Kombination aus beiden behandelt werden. Dabei können beim ersten Therapieversuch Responseraten von etwa 45–65 % erreicht werden. Die kognitive Verhaltenstherapie hat unter den Psychotherapieverfahren das höchste Evidenzniveau. Psychodynamische Therapie wird in zweiter Linie empfohlen. Mittel erster Wahl unter den angstlösenden Medikamenten sind selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer. Bei der Behandlung ist die Präferenz des Patienten zu berücksichtigen. Nach Eintreten der Remission soll eine Pharmakotherapie noch 6–12 Monate fortgeführt werden. In Fällen, in denen eine Psycho- oder Pharmakotherapie nicht ausreichend wirksam war, soll die jeweils andere Therapieform oder eine Kombination angeboten werden.
Schlussfolgerung: Anhand einer großen Datenbasis von randomisierten kontrollierten Studien können robuste, evidenzbasierte Empfehlungen zur Therapie der Angststörungen gegeben werden. In künftigen Studien sollte die erforderliche Dauer einer Psychotherapie und die Wirksamkeit einer kombinierten Psycho- und Pharmakotherapie näher untersucht werden.


Angststörungen sind die häufigsten psychischen Erkrankungen (1). Frauen erkranken deutlich häufiger als Männer. Spezifische Phobien sind mit einer 12-Monatsprävalenz von 10,3 % am häufigsten (2); die betroffenen Patienten nehmen aber selten eine Behandlung in Anspruch. In der Häufigkeit folgen die Panikstörung/Agoraphobie mit 6,0 %, die soziale Phobie mit 2,7 % und die generalisierte Angststörung mit 2,2 %. Angststörungen haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten in ihrer Häufigkeit nicht zugenommen (3, 4). Sie treten häufig komorbid mit weiteren Angsterkrankungen, Depressionen, somatoformen Störungen und Suchterkrankungen auf (5). Sie entstehen nach heutiger Auffassung durch ein Zusammenspiel psychosozialer, genetischer und neurobiologischer Faktoren.
Die S3-Leitlinie Angststörungen
Die S3-Leitlinie Angststörungen (6) ist unter www.awmf.org/leitlinien als Kurz- und Langfassung frei verfügbar. Eine S3-Leitlinie muss die höchsten Qualitätsanforderungen nach den DELBI-Kriterien (7) erfüllen. Die Leitlinie wird von 20 Fach- und anderen Gesellschaften herausgegeben (eTabelle 1). An der Erstellung waren in den Jahren 2008 bis 2014 36 Vertreter der Fachärzte, Allgemeinärzte sowie Patientenvertreter beteiligt (eTabelle 2). Nach zehn Arbeitssitzungen wurde der abschließende Leitlinientext von einer Steuerungsgruppe (B. Bandelow, M. Beutel, T. Lichte, S. Rudolf) erstellt und den anderen Leitlinienmitgliedern in zwei Konsensuskonferenzen zur Abstimmung vorgelegt. Jede beteiligte Gruppe hatte eine Stimme. Empfehlungen wurden bei einer Zustimmung von mindestens 75 % angenommen. Die so erstellte Leitlinie wurde den Vorständen der beteiligten Gesellschaften vorgelegt. Die Leitlinienerstellung wurde durch Frau Prof. Dr. Ina Kopp von der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) begleitet; die Arbeitssitzungen und Konsensuskonferenzen wurden von ihr moderiert.
Bei dieser Leitlinie handelt es sich wie bei anderen Leitlinien explizit nicht um eine „Richtlinie“ im Sinne einer Regelung des Handelns oder Unterlassens. Vielmehr bietet sie eine Orientierung für individuelle Therapieentscheidungen, die darüber hinaus durch die klinische Erfahrung der Behandler und durch die Patientenpräferenzen bestimmt sind.
Zu den geplanten Maßnahmen zur Disseminierung der Leitlinie zählt neben der Vorstellung der Leitlinie auf Fachtagungen und Fortbildungen durch Mitglieder der Leitliniengruppe vor allem auch die Erstellung einer Patientenversion (www.awmf.org/leitlinien). Die Leitlinie soll nach 5 Jahren aktualisiert werden.
Aufgrund der Vielzahl der verwendeten Studien können nicht alle Aussagen dieses Textes durch Quellenangaben belegt werden; es wird auf die Langfassung der S3-Leitlinie verwiesen.
Methodik
Durch elektronische Suche wurden bereits existierende Leitlinien zum Thema gesucht. In einem Peer-Review-Verfahren wurden diejenigen Leitlinien ausgewählt, die bestimmte Qualitätsmerkmale erfüllten (eTabelle 3). Eigene Literaturrecherchen wurden durchgeführt, wenn sich Diskrepanzen zwischen den bisherigen Leitlinien ergaben, Themengebiete nicht erschöpfend angesprochen waren oder seit der Erstellung der Referenzleitlinien neue Studien erschienen waren, die eine Änderung der Evidenzlage zur Folge hätte haben können. Alle verfügbaren randomisierten kontrollierten Studien (RKS) zur Therapie von Angststörungen, die bis 1. Juli 2013 erschienen waren, wurden gesichtet. Die Einschlusskriterien waren: In peer-reviewed journals veröffentliche Originalartikel; Behandlungsstudien von nach ICD oder DSM definierten Angsterkrankungen (Panikstörung/Agoraphobie, generalisierte Angststörung, soziale Phobie und spezifische Phobie) bei Erwachsenen; keine Einschränkung auf Subgruppen; Verwendung einer Kontrollgruppe (im Falle von Medikamentenstudien: Placebo oder Vergleiche mit Referenzmedikamenten; im Falle von Psychotherapiestudien: Warteliste, aktive Kontrolle [das heißt ein Gespräch mit dem Patienten ohne Anwendung spezifischer Therapietechniken] sowie „Behandlung wie üblich“ [Treatment as usual, TAU]); im Falle von Medikamentenstudien: auf dem Markt erhältliche und zugelassene Medikamente.
Beispielhaft wird hier für die Panikstörung/Agoraphobie die Literaturrecherche nach dem PRISMA-Statement (8) dargestellt: Suchalgorithmus in PubMed: ([„panic disorder“{Title}] OR [„agoraphobia“{Title}]) AND [„randomized“{All fields}] AND [„treatment“ OR “therapy”{All fields}]; date: 1980/01/01 to present; in ISI Web of Science: Title=[panic disorder OR agoraphobia] AND Topic=[randomized] AND Topic=[therapy]; Timespan: >1979; Search language=English, German). 1296 Publikationen wurden durch diese Recherche gefunden; 21 weitere wurden durch Handsuche identifiziert. Von den 1317 gefundenen Arbeiten wurden nach Screening anhand von Titel und Abstract 1100 Publikationen ausgeschlossen. Für die übrigen 217 Artikel wurden die Volltexte beschafft. Nach definierten Ausschlusskriterien (zum Beispiel Doppelpublikation, ausschließliche Subgruppenanalyse, Stichprobengröße < 10 pro Arm bei Einschluss, keine adäquate Kontrollgruppe und andere) wurden 48 Artikel ausgeschlossen; 169 Publikationen wurden in die Analyse übernommen. Für die übrigen Angsterkrankungen wurde entsprechend vorgegangen (siehe Langfassung der Leitlinie). Insgesamt gingen 403 RKS in die Bewertung ein.
Die Qualität der Studien wurde nach dem SIGN-Statement (9) geprüft. Methodische Mängel führten zum Ausschluss der Studien beziehungsweise zur Herabstufung der Evidenzaussage. Häufige Gründe für eine Herabstufung der Evidenzqualität waren: geringe Stichprobengröße (insbesondere bei Non-inferiority-Vergleichen), Nicht-Nennung eines Haupteffizienzkriteriums bzw. Nicht-Anwendung einer Bonferroni-Korrektur bei multipler Testung, inadäquate statistische Auswertung und Ähnliches.
Die Basierung einer Leitlinienempfehlung allein aufgrund von RKS wird häufig kritisch gesehen und wurde auch durch die Leitliniengruppe kontrovers diskutiert. Es wird kritisiert, dass in RKS eine bestimmte Auslese stattfindet; so werden oft komorbide beziehungsweise in der Regel suizidale Patienten ausgeschlossen. Eine Analyse der verwendeten Psycho- und Pharmakotherapiestudien ergab allerdings nicht, dass sich diese Therapieformen hinsichtlich des Einschlusses komorbider Patienten systematisch unterschieden. Da in unkontrollierten Studien nicht unterschieden werden kann, ob die Besserung durch die Behandlung oder allein durch Spontanheilungseffekte, die Tendenz zur Regression zum Mittelwert oder unspezifische Aufmerksamkeitseffekte entstanden ist, war sich die Leitliniengruppe einig, dass Empfehlungen im Wesentlichen aufgrund von RKS getroffen werden. Zwar sah das Protokoll vor, dass auch offene Studien, Fallserien oder Einzelfälle in die Analyse eingehen konnten; allerdings ergab sich nicht der konkrete Fall, dass Entscheidungen zum Evidenzgrad aufgrund solcher Studien getroffen werden mussten – wegen des Fehlens aussagekräftiger nicht-randomisierter Studien und des ausreichenden Vorhandenseins kontrollierter Studien.
Während die Evidenzkategorien nur auf Wirksamkeit der Therapien beruhen, beziehen die Empfehlungsgrade dagegen auch Risiken wie beispielsweise Medikamentennebenwirkungen ein (eTabelle 4).
Diagnostik
Angststörungen werden in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10 GM) (10) diagnostiziert (Kurzbeschreibung in Tabelle 1). In der Primärversorgung wird häufig die Kategorie „Angst und depressive Störung, gemischt“ (ICD-10 F41.2) verwendet; allerdings soll nach ICD-10 diese Diagnose nicht gestellt werden, wenn ängstliche und depressive Symptome in so starker Ausprägung auftreten, dass sie einzelne Diagnosen rechtfertigen. Da zur Therapie dieser Störung keine Studien vorliegen, wurde sie in der Leitlinie nicht berücksichtigt.
Angststörungen werden oft nicht erkannt, wobei eine Rolle spielt, dass Patienten eher über Schmerzen, Schlafstörungen oder andere somatische Beschwerden als über Angst als Leitsymptom klagen (11). Differenzialdiagnostisch müssen häufige psychische Störungen wie andere Angsterkrankungen, Depressionen, oder somatoforme Störungen oder körperliche Erkrankungen wie koronare Herzerkrankung, Asthma bronchiale und andere ausgeschlossen werden (Tabelle 2).
Versorgung
Bei der Versorgung von Angststörungen nehmen Hausärzte als erste Ansprechpartner eine wichtige Rolle ein; etwa 15 % der Patienten verbleiben ausschließlich beim Hausarzt (12). Psychotherapien erfolgen durch ärztliche und psychologische Psychotherapeuten. Bei nicht ausreichender Besserung, Suizidalität oder anderen Komplikationen sollte eine Überweisung zum Facharzt erfolgen. In der Regel können Angsterkrankungen ambulant behandelt werden. Indikation für eine stationäre Behandlung können sein: Suizidalität, ausgeschöpfte ambulante Maßnahmen, besondere Schwere oder ausgeprägte Komorbidität.
Therapieempfehlungen
Als Behandlungsindikationen gelten: Vorliegen einer Angststörung nach ICD-10 GM, ein mittlerer bis schwerer Leidensdruck des Patienten, psychosoziale Einschränkungen sowie Komplikationen einer Angsterkrankung (beispielsweise Suchterkrankung). Tabelle 3 fasst die Behandlungsempfehlungen zusammen (ausführliche Version: siehe Tabelle 1 des Leitlinientextes). Angststörungen können mit Psychotherapie und/oder Pharmakotherapie und weiteren Interventionen behandelt werden. Sowohl Psycho- als auch Pharmakotherapien erzielen nach Metaanalysen im Vergleich zur Kontrollgruppe sowie im Vorher/Nachher-Vergleich mittlere bis hohe Effektstärken. Beim ersten Therapieversuch können Responseraten von etwa 45–65 % erreicht werden.
Der Entscheidung für einen Behandlungsplan sollte eine Prüfung individueller Faktoren vorausgehen (Präferenz des Patienten, vorangegangene Behandlungsversuche, Schweregrad, Komorbidität einschließlich Substanzgebrauch, Suizidrisiko und andere). Grundlage jeder Intervention sollte die Aufrechterhaltung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung sein. Ärzte und Psychologen müssen Patienten objektiv über ihre Diagnose sowie über die Besserungschancen durch die jeweiligen Therapieformen unter Berücksichtigung der Evidenzlage informieren und auf Alternativen hinweisen, wenn gleichermaßen indizierte Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.
Angehörige sollten in die Therapie eingebunden werden. Auf die Wirtschaftlichkeit der Therapie ist zu achten. Details zur Therapie der generalisierten Angststörung finden sich bei Bandelow et al. (2013) (13).
Psychotherapie
Für die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) liegen für alle vier Angststörungen zahlreiche RKS vor, die eine Wirksamkeit im Vergleich zu Wartelisten und aktiven Kontrollen zeigen. Die KVT sollte sich an empirisch fundierten Behandlungsprotokollen (Manualen) orientieren. Bei Patienten mit Vermeidungsverhalten (zum Beispiel bei Agoraphobie) sollte die KVT Expositionselemente (Konfrontation mit angstauslösenden Situationen) beinhalten. Bei der Exposition hat es sich als günstig erwiesen, wenn sie in Begleitung eines Therapeuten erfolgt (14).
Da psychodynamische Verfahren in den bisherigen Leitlinien mangels Studien kaum Berücksichtigung fanden, wurde eine eigene Recherche durchgeführt, um auch die jüngst publizierten Studien mit manualisierter psychodynamischer Kurzzeittherapie einzubeziehen. Da die Zahl und methodische Qualität der RKS zur psychodynamischen Therapie deutlich geringer waren als für die KVT und manche Studien eine Überlegenheit der KVT zeigten, wird empfohlen, dass Patienten mit einer Panikstörung/Agoraphobie, generalisierten Angststörung und sozialen Phobie eine psychodynamische Psychotherapie angeboten werden sollte, wenn sich eine KVT nicht als wirksam erwiesen hat, nicht verfügbar ist oder wenn eine diesbezügliche Präferenz des informierten Patienten besteht. Für die spezifischen Phobien existieren nur Studien zur Verhaltenstherapie (die als Expositionstherapie durchgeführt werden soll).
Evidenzbasierte Aussagen zur notwendigen Dauer der Psychotherapie können angesichts der gegenwärtigen Studienlage nicht gemacht werden, da die meisten Studien über einen Zeitraum von 10 bis 24 Wochen durchgeführt worden waren und es kaum Studien gibt, die kurze mit langen Therapien hinsichtlich ihrer Wirksamkeit vergleichen. Die Therapiedauer sollte entsprechend der Krankheitsschwere, Komorbidität und der psychosozialen Rahmenbedingungen individuell geplant werden. Bei den spezifischen Phobien kann eine Expositionstherapie nach den vorliegenden Studien in nur wenigen Behandlungsstunden durchgeführt werden.
Die Leitliniengruppe prüfte auch nicht therapeutengestützte Verfahren via Computer oder Internet. Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Studien zur Durchführung solcher Therapien veröffentlicht wurden, reicht deren Evidenz nicht aus, um eine Gleichwirksamkeit mit einer Einzel-KVT nachzuweisen. Zudem werden Therapien ohne persönlichen Kontakt derzeit nicht von den Kostenträgern erstattet. Außerdem können sich medizinrechtliche Probleme ergeben (zum Beispiel bei Suizidalität des Patienten); weiterhin sind Datenschutzfragen ungeklärt. Bei Patienten mit einer Panikstörung/Agoraphobie können allerdings zur Überbrückung bis zum Therapiebeginn oder als therapiebegleitende Maßnahme nicht therapeutengestützte, auf der KVT basierende Interventionen mit Hilfe von Büchern, Audiomaterial, Computern oder Internet im Sinne einer Anleitung zur Selbsthilfe angeboten werden.
Auch Gruppen-KVT wurden in randomisierten kontrollierten Studien untersucht. Die Evidenz reicht jedoch nicht aus, um eine Gleichwirksamkeit der Gruppen- mit der Einzeltherapie nachzuweisen. Da es aber – beispielsweise bei der sozialen Phobie – sinnvoll erscheint, ein Selbstsicherheitstraining in einer Gruppe durchzuführen, sollte die Therapie sowohl Einzel- als Gruppentherapieelemente enthalten. Wenn eine Einzeltherapiemöglichkeit nicht zur Verfügung steht, kann eine Gruppentherapie angeboten werden.
Für andere Psychotherapieformen, wie Applied Relaxation, interpersonelle Therapie, klientenzentrierte Gesprächstherapie und andere konnte die Leitliniengruppe keine für eine Empfehlung ausreichende Evidenz finden.
Pharmakotherapie
Den Empfehlungsgrad A erhielten Medikamente aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI). Eine B-Empfehlung erhielten Medikamente wie das trizyklische Antidepressivum Clomipramin (bei Panikstörung) oder Pregabalin (bei generalisierter Angststörung). Benzodiazepine, obwohl wirksam, sollen aufgrund gravierender Nebenwirkungen (unter anderem Abhängigkeitsentwicklung) nicht angeboten werden. In Ausnahmefällen (zum Beispiel schwere kardiale Erkrankung, Kontraindikationen für Standardmedikamente, Suizidalität und andere) können sie unter sorgfältiger Risiko-Nutzen-Abwägung zeitlich eng befristet angewendet werden.
Eine Pharmakotherapie sollte nach allgemeinen medizinischen Standards durchgeführt werden. Die Patienten müssen über unerwünschte Arzneimittelwirkungen, mögliche Wechselwirkungen, Kontraindikationen sowie Warnhinweise informiert werden; hierzu wird auf die aktuelle Fachinformation verwiesen. Patienten sollten darauf hingewiesen werden, dass die Wirkung von Antidepressiva mit einer Latenz von etwa zwei Wochen (Bereich 1–6 Wochen) einsetzt.
SSRI und SNRI haben eine flache Dosis-Response-Kurve, das heißt, dass schätzungsweise 75 % der Patienten bereits auf die initiale (niedrige) Dosis reagieren. Bei manchen Patienten kann es sinnvoll sein, mit der Hälfte der empfohlenen Dosis zu beginnen. Bei Leberfunktionsstörungen können Dosierungsanpassungen erforderlich sein. Um initiale Unruhe und Schlafstörungen zu verhindern, sollte die Dosis morgens oder mittags gegeben werden. In manchen Fällen können Dosierungen am oberen Ende des indizierten Bereichs notwendig sein und sollten bei Bedarf auch angeboten werden. Die Behandlung mit SSRI und SNRI soll in der Erhaltungstherapie in der gleichen Dosis fortgeführt werden, die in der Akuttherapie erfolgreich war. Nach Eintreten der Remission soll eine Pharmakotherapie noch 6–12 Monate fortgeführt werden. Die Dauer kann verlängert werden, wenn ein Absetzversuch zu einem Wiederauftreten der Angstsymptomatik führt, wenn der Krankheitsverlauf besonders schwer war oder wenn sich aus der Anamnese Hinweise auf eine lange Behandlungsnotwendigkeit ergeben. Die Dosis sollte bei Beendigung langsam reduziert werden, um Absetzphänomene zu vermeiden.
Es gibt keine ausreichende Evidenz zur Behandlung von spezifischen Phobien mit Medikamenten.
Kombination von Psycho- und Pharmakotherapie und Vorgehen bei Therapieresistenz
Für die Panikstörung existieren mehrere Vergleichsstudien von Psycho- und Pharmakotherapie und deren Kombination. Insgesamt spricht die Mehrzahl der Studien für einen Vorteil der Kombination gegenüber den Monotherapien. Bei der generalisierten Angststörung fehlen verwertbare Studien; bei der sozialen Phobie ist die Datenlage inkonsistent. Keine Studie findet Nachteile einer Kombination. In Fällen, in denen eine Psycho- oder Pharmakotherapie allein nicht ausreichend wirksam war, soll die jeweils andere Therapieform oder kann eine Kombination beider Verfahren angeboten werden. Wenn ein Medikament nicht wirksam ist, sollte nach 4–6 Wochen eine Umsetzung auf ein anderes Standardmedikament erfolgen. Bei einer Teil-Response ist zunächst eine Dosiserhöhung zu erwägen. Tabelle 3 enthält einen Stufenplan zu medikamentösen Behandlungsalternativen bei Nichtansprechen oder Unverträglichkeit von Medikamenten. Wenn ein Wechsel innerhalb der Standardmedikamente nicht erfolgreich war, kann auf Medikamente umgesetzt werden, die in zweiter Linie empfohlen werden, zum Beispiel trizyklische Antidepressiva oder Pregabalin. Bei Off-Label-Behandlungen mit Medikamenten, die für Angststörungen nicht zugelassen sind (z. B. Quetiapin), sind medizinrechtliche Aspekte zu berücksichtigen.
Behandlung älterer Patienten
Studien zur Behandlung älterer Patienten gibt es nur für die generalisierte Angststörung – wahrscheinlich, weil die anderen Angststörungen im höheren Lebensalter seltener beobachtet werden. Die wenigen verfügbaren Studien zur KVT bei Menschen über 65 Jahren zeigen gegenüber der Therapie von Erwachsenen von 18 bis 65 eine eingeschränkte Wirksamkeit. Zur Behandlung älterer Patienten mit Medikamenten gibt es nur wenige Studien, die eine Wirkung von Duloxetin, Venlafaxin, Pregabalin und Quetiapin zeigten. Bei der Behandlung älterer Menschen müssen neben möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten und Kontraindikationen folgende Faktoren beachtet werden: erhöhte Sensibilität im Hinblick auf anticholinerge Eigenschaften, erhöhtes Risiko für orthostatische Hypotonie und EKG-Veränderungen, Sturzgefahr und mögliche paradoxe Reaktionen auf Benzodiazepine.
Schwangerschaft und Stillzeit
In der Schwangerschaft sollte das Risiko einer unbehandelten Angsterkrankung gegenüber dem Risiko einer Schädigung des Kindes abgewogen werden. Es ist zu erwägen, ob gegebenenfalls psychotherapeutischen Maßnahmen der Vorzug gegeben werden sollte. Manche Autoren fanden erhöhte Risiken bei der Behandlung mit Antidepressiva (15–17); daher soll eine Behandlung mit Vorsicht durchgeführt werden. Auch in der Stillzeit muss eine Risikoabwägung stattfinden.
Sporttherapie
Bei der Panikstörung wird Sport empfohlen (Ausdauertraining; zum Beispiel dreimal pro Woche 5 Kilometer Joggen). Allerdings ist die Datenlage nicht ausreichend, um Sport als Monotherapie zu empfehlen. In den vorliegenden Studien war Sport weniger wirksam als ein Medikament (18) beziehungsweise nicht besser wirksam als eine Entspannungs-Kontrollgruppe (19).
Selbsthilfegruppen
Patienten sollen über Selbsthilfe- und Angehörigengruppen informiert und, wenn angebracht, zur Teilnahme motiviert werden.
Interessenkonflikt
Die an der Leitlinienerstellung beteiligten Personen haben ihre Interessenskonflikte (wie zum Beispiel Vortragshonorare von pharmazeutischen Unternehmen oder eine Funktion als Interessenvertreter für eine bestimmte Therapierichtung) offengelegt. Das Leitliniengremium war bemüht, trotz dieser möglichen Einflüsse die Empfehlungen ausschließlich auf die objektiven wissenschaftlichen Evidenzbeurteilungen zu basieren. Bei Abstimmungen wurden diejenigen Mitglieder ausgeschlossen, bei denen ein Interessenskonflikt bestand.
Prof. Bandelow erhielt Honorare für Beratertätigkeit von Lilly, Lundbeck, Otsuka und Pfizer. Teilnahmegebühren für Kongresse und Reise- und Übernachtungskosten wurden ihm von Pfizer und Servier erstattet. Für Vorträge auf wissenschaftlichen Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen erhielt er Honorare von AstraZeneca, Glaxo, Janssen, Lilly, Lundbeck, Meiji-Seika, Otuska, Pfizer und Servier.
Prof. Beutel erhielt für die Vorbereitung von wissenschaftlichen Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen Honorare von Pfizer, Servier und Boehringer-Ingelheim.
Dr. Rudolf, Prof. Lichte, PD Wiltink erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 13. 5. 2014, revidierte Fassung angenommen: 22. 5. 2014
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Borwin Bandelow, Dipl.-Psych.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsmedizin Göttingen
von-Siebold-Straße 5
37075 Göttingen
Sekretariat.Bandelow@med.uni-goettingen.de
Zitierweise
Bandelow B, Lichte T, Rudolf S, Wiltink J, Beutel M:
Clinical practice guideline: The diagnosis of and treatment
recommendations for anxiety disorders. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 473–80. DOI: 10.3238/arztebl.2014.0473
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
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