MEDIZIN: Originalarbeit
Schulung oral antikoagulierter Patienten zur Arzneimitteltherapiesicherheit
Eine Cluster-randomisierte Studie in Hausarztpraxen
Educating orally anticoagulated patients in drug safety—a cluster randomized study in general practice
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Hintergrund: Mangelndes therapierelevantes Wissen bei oral antikoagulierten Patienten erhöht das Komplikationsrisiko. Eine standardisierte Patientenschulung könnte das Wissen und die Antikoagulation bei oral antikoagulierten Patienten verbessern.
Methode: An der Cluster-randomisierten, kontrollierten Studie in 22 Hausarztpraxen nahmen 319 antikoagulierte Patienten teil. Medizinische Fachangestellte schulten Interventionspatienten (n = 185) mit einem Video, einer Broschüre und einem Fragebogen. Kontrollpatienten (n = 134) erhielten nur die Broschüre. Primärer Endpunkt war therapierelevantes Wissen sechs Monate nach Schulung. Sekundäre Endpunkte waren Zeit im International Normalized Ratio (INR)-Zielbereich und Komplikationen.
Ergebnisse: Interventions- (Durchschnittsalter 73 Jahre) und Kontrollpatienten (72 Jahre) beantworteten vor der Schulung 6,8 ± 0,2 beziehungsweise 6,7 ± 0,2 Fragen richtig und 9,9 ± 0,2 beziehungsweise 7,6 ± 0,2 Fragen sechs Monate danach (Mittelwertdifferenz: 2,3; 95-%-Konfidenzintervall: 1,5–3,1; p < 0,001). Der INR-Wert lag sechs Monate vor Schulung 65 ± 2 % beziehungsweise 66 ± 3 % der Zeit im angestrebten Bereich und 71 ± 1 % beziehungsweise 64 ± 3 % der Zeit während sechs Monaten danach (Mittelwertdifferenz: 7 Prozentpunkte, 95-%-Konfidenzintervall: –2 bis –16 Prozentpunkte, p = 0,11). Komplikationsraten waren etwa gleich groß (12 versus 16 %, p = 0,30). Interventionspatienten befürworteten Schulungen häufiger als Kontrollpatienten (87 gegenüber 56 %).
Schlussfolgerungen: Die Schulung war praktikabel, verbesserte sicherheitsrelevantes Wissen nachhaltig und wurde von geschulten Patienten befürwortet. Sie verbesserte die Zeit im INR-Zielbereich allerdings nur tendenziell. Aufgrund der großen Wissensdefizite sollten standardisierte Schulungen für oral antikoagulierte Patienten in der Regelversorgung etabliert werden.


Circa eine Millionen Patienten (etwa 1 % der Bevölkerung) werden in Deutschland lebenslang mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA) oral antikoaguliert, am häufigsten mit Phenprocoumon (1). Wesentliche Indikationen zur oralen Antikoagulation sind die Behandlung und Prophylaxe venöser Thrombosen und arterieller Embolien bei Vorhofflimmern, nach tiefer Beinvenenthrombose oder bei mechanischem Herzklappenersatz (2–5).
Die Anwendung von VKA ist interaktionsanfällig. Abhängig von Risikofaktoren erleiden jährlich 0,3–4 % der oral antikoagulierten Patienten schwere Komplikationen wie gastrointestinale oder zerebrale Blutungen (6–8). Die Anwenung von VKA erfordert von Ärztinnen und Ärzten, aber auch von Patienten das genaue Einhalten von Kontrollen und Sicherheitsmaßnahmen. Mangelnde Patientenkompetenz gilt daher als Ursache für Komplikationen, und Patienten zu schulen gilt als wesentliche Möglichkeit, solche Komplikationen zu reduzieren (9, 10). Entsprechend wurden Schulungsprogramme entwickelt (11–14), die aber nur erfolgreich waren, wenn die Schulung auf Selbstmessung des International Normalized Ratio (INR)-Wertes aufbaute. Die Mehrheit der meist älteren oral antikoagulierten Patienten führt keine Selbstmessung durch und es gibt für diese Patientengruppe keine etablierte Schulung.
Die Autoren entwickelten eine standardisierte Schulung für oral antikoagulierte Patienten ohne Selbstmessung, die in der ambulanten Praxis praktikabel und effektiv sein sollte. Ziel der Studie war es, zu untersuchen, ob sich bei oral antikoagulierten Patienten durch diese Schulung im Vergleich zu Patienten, die lediglich eine Broschüre erhielten, sechs Monate nach Intervention das behandlungsbezogene Wissen verbesserte. Sekundäre Studienendpunkte waren die Zeit, die die Patienten im INR-Zielbereich lagen, und Komplikationen im Studienverlauf.
Methodik
Patienten und Setting
Die Untersuchung war eine offene, Cluster-randomisierte, kontrollierte Studie mit oral antikoagulierten Patienten aus Hausarztpraxen im Jahre 2010–11. Das Studienprotokoll wurde veröffentlicht (15). Ein Clusterdesign wurde aus pragmatischen Gründen gewählt. Die Studie wurde von der Ethikkommission der Universitätsmedizin Göttingen genehmigt. Anfang 2011 schrieben die Autoren 85 Hausarztpraxen in der Region Göttingen und Braunschweig an. Die ersten 22 Praxen, die ihre Teilnahme zusagten, wurden in die Studie eingeschlossen. Unter Verwendung von SAS 9.1 wurden im Institut für Medizinische Statistik die 22 teilnehmenden Praxen durch zufällige Permutation in die beiden Interventionsgruppen randomisiert, so dass zwei gleich große Gruppen von Praxen entstanden. Oral antikoagulierte Patienten wurden anhand der Laborausnahmekennziffer 32015 zur oralen Antikoagulation über die Praxis-EDV vollständig mit Alter und Geschlecht erfasst. Einschlusskriterien waren Einwilligungsfähigkeit und ausreichende Sprachkenntnisse. Ausschlusskriterien betrafen Pflegeheimbewohner und Patienten, die nur in Vertretung gesehen wurden. Es wurden 986 Patienten identifiziert (Grafik 1).
Intervention
Die Autoren entwickelten eine circa einstündige Patientenschulung zu dreizehn Themenkomplexen zur oralen Antikoagulation mit Phenprocoumon nach internationalem Vorbild und Empfehlungen (13) (Tabelle 1). Die Schulungen wurden von medizinischen Fachangestellten (MFA) durchgeführt. Sie basierten standardisiert auf einem 20-minütigen Video, einer Nachbesprechung und einer achtseitigen Broschüre und einem dazu passenden Fragebogen. Die Materialen wurden in einer unabhängigen Praxis pilotiert und danach optimiert. Sie sind im Internet frei verfügbar (16, 17). Die MFA der Interventionspraxen wurden geschult, die Patientenschulung durchzuführen. Patienten der Kontrollgruppe erhielten lediglich die Broschüre ausgehändigt.
Messinstrumente und Studienendpunkte
Soziodemografische Daten, Patientenkompetenz zur oralen Antikoagulation und Angst vor Komplikationen wurden bei Einschluss in die Studie und nach sechs Monaten erfasst. Primärer Endpunkt der Studie war die Patientenkompetenz, gemessen mit einem von den Autoren entwickelten Fragbogen. Der Fragebogen überprüfte die 13 Themenkomplexe der Schulung. Darüber hinaus wurden fünf Fragen zur individuellen Krankheitssituation (Indikation, Behandlungsziel und -dauer, Zielbereich) gestellt, vier Fragen zu Einflussfaktoren auf die Gerinnung sowie vier Fragen zu praktischem Wissem (Warnhinweise und Prävention von Komplikationen) (Tabelle 1). Für den Summenscore wurden die Themenkomplexe gleich stark gewichtet. Das Maximum betrug 13 Punkte. Bei Fragen mit Mehrfachantworten wurden korrekte Antworten doppelt und inkorrekte Antworten einfach gewichtet und zu einem Maximum von einem Punkt addiert. Für jeden Fragenkomplex gab es die Option „weiß ich nicht“, die mit null Punkten gewertet wurde.
Der sekundäre Studienendpunkt war die Zeit im INR-Zielbereich, ermittelt mit der Methode nach Rosendaal (18). Ausgewertet wurden 248 Patienten mit INR-Zielbereich von 2–3, für die in beiden Zeitphasen (6 Monate vor und 6 Monate nach Studieneinschluss) jeweils mindestens drei INR-Messungen in einen Zeitraum kontinuierlicher Phenprocoumoneinnahme von mindestens drei Monaten vorlagen. Zusätzlich wurden Komplikationen am Ende des Beobachtungszeitraums erfasst. Weitere Endpunkte waren die Selbsteinschätzung des Wissens und die Einschätzung der Notwendigkeit einer Schulung.
Fallzahlschätzung und statistische Auswertung
Die Fallzahlschätzung resultierte in 330 Patienten, die in 22 randomisierten Praxen dem Kontroll- oder dem Interventionsarm zugeteilt werden sollten, um eine Wahrscheinlichkeit von 80 % zu erzielen, einen statistisch signifikanten Interventionseffekt auf einem zweiseitigen Signifikanzniveau von 5 % zeigen zu können. Die Fallzahlplanung basierte auf den Annahmen, dass ein standardisierter Interventionseffekt (Cohen’s D) von (mindestens) 0,41 und eine Intra-Klassen-Korrelation von 0,05 vorliegen.
Für die statistische Auswertung der primären und sekundären Endpunkte wurden hierarchische Modelle mit zufälligen Effekten für die Praxen (Cluster) und festen Effekten für Intervention und Baseline-Erhebung angepasst. Für binäre Endpunkte (zum Beispiel einzelne Komplexe des Fragebogens) wurden verallgemeinerte gemischte lineare Modelle mit logit-Linkfunktion angepasst. Für die Subgruppen-Analysen wurden ebenfalls hierarchische Modelle mit zufälligen Effekten angepasst. Zusätzlich wurden ein fester Effekt des Moderators und dessen Wechselwirkung mit der Intervention in das Modell aufgenommen. Für die Interventionseffekte wurden Wald-Typ-95-%-Konfidenzintervalle (95-%-KI) und p-Werte für die Nullhypothese, dass kein Gruppenunterschied vorliegt, bestimmt. Die Intra-Klassen-Korrelationen wurden mit 95-%-Konfidenzintervallen angegeben, die durch nichtparametrischen Bootstrap mit 9 999 Wiederholungen bestimmt wurden. Die berechneten Korrelationskoeffizienten sind Pearson-Korrelationskoeffizienten. Alle statistischen Auswertungen wurden mit SAS Version 9.3 durchgeführt.
Ergebnisse
Von initial 979 antikoagulierten Patienten in den Praxen schlossen insgesamt 319 (Intervention: 185, Kontrolle: 134) Patienten die Studie wie vorgesehen ab (Grafik 1). Im Interventionsarm nahmen 86 Frauen und 99 Männer teil, im Kontrollarm 64 Frauen und 70 Männer. Das Durchschnittsalter lag bei 73 Jahren (Standardabweichung [SD] ± 10) im Interventionsarm gegenüber 72 (SD ± 10) Jahren im Kontrollarm. Häufigster Einnahmegrund für Phenprocoumon war nach Angabe der Patienten Vorhofflimmern (77 % im Interventionsarm / 62 % im Kontrollarm); es folgten Thrombosen, Lungenembolien und mechanischer Herzklappenersatz. Komplikationen in der Vorgeschichte gaben 8 % beziehungsweise 11 % der Patienten an. Angst vor Gerinnselbildung hatten 50 % beziehungsweise 55 %, Angst vor Blutungen 47 % beziehungsweise 58 % der Patienten (Tabelle 2). Nach der Schulung sank die Angst vor Blutungen in beiden Studienarmen auf 25 % ab, und die Angst vor Gerinnselbildung betrug 26 % versus 34 %. Zwischen den Studienarmen war kein statistisch relevanter Unterschied.
Vor der Schulung hatten die Studienteilnehmer große sicherheitsrelevante Wissenslücken, besonders hinsichtlich Wechselwirkungen, Erkennen von Notfallsituationen und Ernährungsvorschriften. Sechs Monate nach der Schulung wussten die Patienten im Interventionsarm deutlich mehr (Tabelle 1, Grafik 2a). Vor der Schulung beantworteten Interventionspatienten und Kontrollpatienten 6,8 ± 0,2 beziehungsweise 6,7 ± 0,2 Fragen und Fragenkomplexe richtig, sechs Monate nach der Schulung waren es 9,9 ± 0,2 Fragen im Interventionsarm gegenüber 7,6 ± 0,2 Fragen im Kontrollarm (Mittelwert/Standardfehler [SEM], Mittelwertdifferenz 2,3; 95-%-KI: 1,5–3,1; p < 0,001) (Grafik 2c). Die Intra-Klassen-Korrelation (Maß für die Ähnlichkeit der Patienten aus einer Praxis) lag bei 0,18 (95-%-KI: 0,08–0,28).
Sechs Monate nach Schulung schätzten Interventionspatienten ihr Wissen auf einer Vier-Punkte-Likert-Skala (1 = unzureichend, 2 = mittelmäßig, 3 = gut, 4 = sehr gut) besser ein als vorher. Bei den Kontrollpatienten fiel die Veränderung geringer aus (0,38 ± 0,06 gegenüber 0,20 ± 0,07 Punkte, adjustierte Mittelwertdifferenz: –0,03; 95-%-KI: 0,15–0,09; p = 0,62). Die Besserung der Einschätzung korrelierte in der Interventionsgruppe nur schlecht mit der Änderung des gemessenen Wissens (Intervention: r = 0,10 [p = 0,17], Kontrolle: r = 0,07 [p = 0,44]). Die Schulung stabilisierte die Zeit der INR im Zielbereich tendenziell. Sechs Monate vor Schulung betrug die INR bei Interventions- und Kontrollpatienten 67 % ± 2 % beziehungsweise 66 % ± 3 % des angestrebten Bereichs. Sechs Monate nach Schulung lag die INR dann bei 72 % ± 2 % beziehungsweise 64 % ± 3 % des INR-Zielbereichs (Grafik 2b) (Mittelwert/SEM, Mittelwertdifferenz: 7,1 Prozentpunkte (95-%-KI: –2 bis 16 Prozentpunkte, p = 0,11). Die Intra-Klassen-Korrelation war 0,07 (95-%-KI: 0,02–0,17). Komplikationen traten in Interventionsgruppe und Kontrollgruppe etwa gleich häufig auf (12 % versus 16 % p = 0,30). Im Interventionsarm erlitten 7,6 %, 5 % und 1,1 % der Patienten Blutergüsse, Nasenbluten beziehungsweise eine Thrombose gegenüber 10,5 %, 4,5 % und 0,0 % im Kontrollarm; andere Komplikationen betrafen nur einzelne Patienten.
Die Akzeptanz der Schulung war gut. Die Notwendigkeit einer Schulungsmaßnahme bejahten am Ende der sechs Monate deutlich mehr Patienten, die die Schulung erlebt hatten, als Patienten des Kontrollarms (87 % versus 56 %, p = 0,001). Besonders schätzten sie die persönliche Beratung durch die medizinischen Fachangestellten (MFA) (84 %) und die Wissensvermittlung durch das Video (62,7 %). Der Unterschied zwischen Interventions- und Kontrollpatienten war besonders groß hinsichtlich der Befürwortung des Videos (63 % versus 13 %, p < 0,001) und kleiner bezüglich der persönlichen Beratung (84 % versus 69 %, p = 0,002) und der Broschüre (68 % versus 43 %, p = 0,03) zur Schulung. In beiden Studienarmen bevorzugten die überwiegende Mehrheit die Hausarztpraxis gegenüber dem Krankenhaus als den geeigneten Schulungsort (96 % und 82 %, p = 0,001).
Der Schulungseffekt unterschied sich nicht signifikant zwischen den weiblichen und männlichen Probanden (p = 0,433). Ebenso konnte keine Wechselwirkung zwischen Schulbildung und Intervention gefunden werden (p = 0,88). Deskriptive Kennzahlen sind Tabelle 3 zu entnehmen.
Patienten, die zum Zeitpunkt der Studie älter als 75 Jahre waren, profitierten mehr von der Intervention (adjustierte Mittelwertdifferenz: 2,8; 95-%-KI: 1,8–3,8) als die jüngeren Studienteilnehmer (adjustierte Mittelwertdifferenz: 1,8; 95-%-KI: 0,8–2,8; p = 0,03).
Eine weitere Wechselwirkung wurde zwischen der Angst vor Blutung und der Intervention beobachtet. Bei Patienten, bei denen die Angst vor einer Blutung vorhanden war, zeigte sich ein größerer Schulungseffekt (adjustierte Mittelwertdifferenz: 2,75; 95-%-KI: 1,9–3,6) im Vergleich zu den angstfreien Patienten (adjustierte Mittelwertdifferenz: 1,83; 95-%-KI: 1,2–2,5 , p = 0,03). Grafik 3 stellt die Schulungseffekte aufgetrennt nach den Subgruppen dar.
Diskussion
Hauptergebnisse
Die Autoren konnten zeigen, dass eine standardisierte persönliche Patientenschulung durch medizinische Fachangestellte (MFA) basierend auf einem Video, einer Broschüre und einem Fragebogen sicherheitsrelevantes Wissen bei Patienten in Hausarztpraxen deutlich und nachhaltig verbesserte. Daneben verlängerte die Schulung die Zeit im therapeutischen INR-Zielbereich tendenziell, ohne zusätzliche Komplikationen zu verursachen. Teilnehmende Patienten empfahlen die Schulung.
Bedeutung der Ergebnisse und Vergleich mit der Literatur
Die eigenen Patienten wussten zu Studienbeginn wenig über ihre Therapie, wie auch die Probanden in vielen anderen Studien (18–20). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die meisten Patienten schon mehrere Jahre Phenprocoumon einnahmen. Durch die Schulung verbesserte sich das Wissen in allen Bereichen erheblich – sowohl im Vorher-nachher-Vergleich als auch im Vergleich der Studienarme (Tabelle 1, Grafik 3). Am stärksten waren die Lerneffekte im Bereich Ernährung, zum Vorgehen bei vergessener Tabletteneinnahme und zum Wissen, dass Paracetamol als sicherstes frei verkäufliches Schmerzmittel gilt.
Das Wissen verbesserte sich auch bei Kontrollpatienten, wenn auch deutlich weniger. Broschüren alleine zeigen nur wenige und inkonsistente Effekte, die bisher meist nur in Bezug auf Wissen evaluiert wurden (20, 21). Der Einsatz von Multimediaelementen zur Patientenschulung ist bisher nur unzureichend evaluiert worden (22). Wichtiger Vorteil von Multimediainterventionen ist, dass sie zeitsparend einsetzbar sind, wenn eine notwendige Schulung, zum Beispiel durch Praxispersonal, nicht zeitnah durchgeführt werden kann. Diese Situation tritt zum Beispiel regelmäßig bei der Krankenhausentlassung neu antikoagulierter Patienten auf. Ein Kritikpunkt an bisherigen Studien zu verbesserten Patienteninformationen ist, dass in den meisten Studien nur Wissen ein Endpunkt war. Als wichtig werden neben klinischen Endpunkten auch die Veränderung von Verhalten und Gefühlen wie Ängsten angesehen. Viele Krankenhäuser führen Patientenschulungen durch, erfahrungsgemäß sind Patienten jedoch in der akuten Krankheitssituation wenig aufnahmefähig.
Der INR-Wert von Patienten im Interventionsarm lag tendenziell länger im therapeutischen INR-Zielbereich. Der Unterschied zum Kontrollarm war jedoch statistisch nicht signifikant (Grafik 3b). In beiden Studienarmen waren Patienten schon bei Einschluss besser eingestellt als in anderen Studien (11, 23–26). Dadurch gab es ein nur geringes Verbesserungspotenzial und die Zahl der Studienteilnehmer war zu gering, um einen signifikanten Effekt nachzuweisen. Die Verbesserung der INR im Zielbereich um 7 % liegt im Bereich dessen, was mit pharmakogenetischer Dosisanpassung bei VKA bestenfalls erreicht werden kann (23–27). Dass eine Verbesserung bei einem so hohen Ausgangsniveau durch eine so einfache Maßnahme überhaupt möglich war, spricht dafür, die Etablierung der Schulung zu fördern.
Auch für die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK), die eingesetzt werden, wenn eine stabile Einstellung mit Phenprocoumon nicht möglich ist (28–30), sind viele Elemente der Schulung relevant, wie zum Beispiel das Erkennen von Warnsymptomen oder das Vorgehen bei vergessener Tabletteneinnahme, so dass hier eine analoge Schulung notwendig erscheint.
Stärken und Schwächen der Studie
Dies ist die bisher größte Studie zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit bei oral antikoagulierten Patienten durch eine Schulungsmaßnahme (12). Der Vergleich von Geschlechts- und Altersverteilung der teilnehmenden mit der bei nichtteilnehmenden Patienten sowie nichtkontaktierten Patienten ergab keinen Hinweis auf eine Verzerrung bei der Patientenauswahl. Die meisten Studienteilnehmer waren bereits seit mehreren Jahren antikoaguliert worden, die Einnahmedauer wurde aber nicht erfasst. Ein Bias durch motiviertere und gebildetere Teilnehmer, die wussten, dass ihr Wissen überprüft wurde, ist möglich. Die videogestützte Intervention hängt nicht von der Lesekompetenz ab, so dass in der Routineversorgung auch Patienten erreicht werden könnten, die wegen der schriftlichen Prüfung die Studienteilnahme ablehnten.
Diese Studie hat als erste die Nachhaltigkeit des Wissenszuwachses über sechs Monate gemessen. Die Studie war nicht gepowert für die Endpunkte INR im Zielbereich und Komplikationen. Die relativ hohe Intra-Klassen-Korrelation von 0,18 für den Effekt auf Wissen ist Ausdruck einer starken Abhängigkeit des Effekts von der Praxis. Dies ist am ehesten durch eine noch nicht optimale Standardisierung der individuellen Nachbesprechung durch die MFA zu erklären. Hier ist eventuell eine intensivere Schulung der MFA notwendig.
Resümee
Die Autoren konnten zeigen, dass eine persönliche, durch Video, Broschüre und Fragebogen standardisierte Schulung durch medizinische Fachangestellte in Hausarztpraxen durchführbar war und für die Patientensicherheit relevantes Wissen zur oralen Antikoagulation nachhaltig verbesserte. Auch wenn die INR im therapeutischen Zielbereich nur tendenziell beeinflusst wurde, sollte aufgrund der großen sicherheitsrelevanten Wissensdefizite eine standardisierte Schulung für oral antikoagulierte Patienten etabliert werden.
Danksagung
Die Autoren danken allen teilnehmenden Praxen, MFA und Patienten, der Schauspielpatientin Brigitta Queisser, der Studienassistentin Hannelore Schneider-Rudt, Imagofilm, der Apotheke in Hardegsen, dem Zahnarzt im Film, PD Dr. med. dent. Dirk Ziebolz und dem tegut-Supermarkt an der Lutter in Göttingen.
Förderung
Gefördert wurde das Projekt im Modul 3 der Ausschreibung „Erhöhung der AMTS durch Förderung der Patientenkompetenz“ des Bundesgesundheitsministeriums, Förderkennzeichen 01GX0706.
Studienregistrierung
Deutsches Register Klinischer Studien: DRKS00000586, Universal Trial Number UTN U1111–1118–3464
Interessenkonflikt
PD Dr. Vormfelde ist seit Februar 2014 Angestellter der Firma Novartis.
Dr. Abu Abed, Dr. Hua, Dr. Schneider und Prof. Chenot erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 31. 3. 2014, revidierte Fassung angenommen: 18. 6. 2014
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Jean-François Chenot, MPH
Abteilung Allgemeinmedizin
Institut für Community Medicine
Universitätsmedizin Greifswald
Fleischmannstraße 42–44
17475 Greifswald
Zitierweise
Vormfelde SV, Abu Abed M, HuaTD, Schneider S, Friede T, Chenot JF: Educating orally anticoagulated patients in drug safety—a cluster randomized study in general practice. Dtsch Arztebl Int 2014; 111: 607–14.
DOI: 10.3238/arztebl.2014.0607
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsmedizin Göttingen: Dr. med. Duc Hua, Prof. Dr. med. Chenot
Institut für Medizinische Statistik, Universitätsmedizin Göttingen: Dr. rer. nat. Schneider, Prof. Dr. sc. hum. Friede
Abteilung Allgemeinmedizin, Institut für Community Medicine, Universitätsmedizin Greifswald:
Prof. Dr. med. Chenot
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