ArchivDÄ-TitelSupplement: PRAXiSSUPPLEMENT: PRAXiS 3/2014Elektronisches Notrufsystem: Keine Spielerei

SUPPLEMENT: PRAXiS

Elektronisches Notrufsystem: Keine Spielerei

Dtsch Arztebl 2014; 111(38): [22]

Ollenschläger, Philipp

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Ab Oktober 2015 sollen in der Europäischen Union in Neuwagen elektronische Notrufsysteme vorhanden sein. Einige Fahrzeughersteller stellen schon seit geraumer Zeit derartige Systeme her – mit ärztlicher Hilfe.

Foto: Fotolia/GordonGrand
Foto: Fotolia/GordonGrand

Oktober 2015 ist es soweit – ab diesem Zeitpunkt soll in sämtlichen Neuwagen, die in der Europäischen Union (EU) vertrieben werden, das automatische Notrufsystem für Kraftfahrzeuge E-Call vorhanden sein. Bei einem Unfall wird dann künftig ein Notruf an die europaweite Notrufnummer 112 ausgelöst, und Daten werden direkt an die Notrufzentrale gesendet. Zur gleichen Zeit wird eine Sprachverbindung zwischen der Notrufzentrale und dem Fahrzeug aufgebaut. Wenn ein Insasse des Unfallautos noch in der Lage ist zu sprechen, können so wichtige Informationen über die Schwere der Verletzungen oder über den anstehenden Rettungseinsatz ausgetauscht werden. Der E-Call kann zudem auch manuell ausgelöst werden.

Anhand der gesendeten Daten erhält die Unfallleitstelle Informationen über den Zeitpunkt des Unfalls, die genauen Koordinaten des Ortes und über die Fahrtrichtung, was insbesondere bei Unfällen auf der Autobahn wichtig ist. Die EU-Kommission schätzt, dass mit der E-Call-Technik jährlich 2 500 Leben gerettet werden können.

Einige Fahrzeughersteller bieten schon länger derartige Notrufsysteme an: Der amerikanische Autobauer General Motors zum Beispiel vertreibt unter dem Namen Onstar bereits seit 1996 einen automatischen Notruf, bei Ford gibt es seit 2007 ein System namens Sync, das gleichermaßen Navigationssystem, Freisprechanlage und Ortungssystem ist; auch Mercedes Benz bietet einen automatischen Notfallassistenten an, der ein Bestandteil des Multimedia-Systems COMAND Online ist.

Der „Intelligente Notruf“

Bei BMW ist es der „Intelligente Notruf“, der ein Teil des Online-Systems „BMW ConnectedDrive“ ist und die Ortung nach Unfällen übernimmt. Der Münchener Autobauer ist einer der Vorreiter bei den automatischen Notrufsystemen. In den Vereinigten Staaten hat BMW bereits 1997 eine Notruf-Basisversion auf den Markt gebracht, zwei Jahre später gab es dieses System auch in europäischen Fahrzeugen. 2007 veröffentlichte das Unternehmen den Vorläufer der heutigen Version. Wesentlich beteiligt an der Entwicklung des elektronischen Notrufsystems von BMW waren auch Ärzte der Münchener Kliniken der Ludwig-Maximilian-Universität (LMU) und des Klinikums Schwabing, darunter Priv.-Doz. Dr. med. Oliver Pieske, seit Juli dieses Jahres Chefarzt für Unfallchirurgie, Orthopädie und Sporttraumatologie in Oldenburg. Zuvor war Pieske fast zwei Jahrzehnte am Klinikum Großhadern der LMU tätig. Dort kam der Kontakt zu BMW eher zufällig zustande, als er im Jahr 1996 einen Entwicklungschef von BMW behandelte. „Ein Kollege hat sich erkundigt, ob eine Kooperation mit BMW möglich sei“, erzählte Pieske. Daraus ist ein langjähriges Projekt entstanden, in dessen Rahmen Pieske seine Expertise für die Verletzungsprävention bei Unfällen einbringt. Bereits 1999 wurde er mit dem Josef-Ströbl-Preis zur Förderung wissenschaftlicher Leistungen auf dem Gebiet der Verkehrssicherheit ausgezeichnet.

Künftig soll in europäischen Neuwagen der E-Call sowohl automatisch als auch per Knopfdruck ausgelöst werden. Foto: dpa
Künftig soll in europäischen Neuwagen der E-Call sowohl automatisch als auch per Knopfdruck ausgelöst werden. Foto: dpa

Bei BMW habe man sich gefragt, wie es möglich sei, ein Unfallauto mit in die Rettungskette einzuschließen und so dafür zu sorgen, dass Verletzte die schnellstmögliche und für die Verletzungen angemessene Versorgung bekommen, erläuterte Pieske. Alle drei Minuten, die polytraumatisierte Patienten mit schwerem Abdominaltrauma nicht behandelt werden, steigert sich ihre Sterblichkeit um ein Prozent. Deswegen sei es so wichtig, dass das adäquate Rettungsmittel zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingesetzt wird, betonte Pieske. Um dies zu garantieren, senden die sogenannten Crash-Sensoren bei einem Unfall automatisch einen Notruf an das BMW-Callcenter. Ein Mitarbeiter versucht daraufhin, mit den Insassen Kontakt aufzunehmen. Ist dies nicht möglich, wird der weitere Rettungsprozess unmittelbar eingeleitet. Gleichzeitig kommuniziert ein zweiter Callcenter-Mitarbeiter mit dem Rettungsdienst. Darüber hinaus arbeiten im BMW-Callcenter Dolmetscher, so dass Verunglückte mit einem Mitarbeiter in ihrer Muttersprache kommunizieren können.

„Ein entscheidender Indikator, um die Schwere eines Unfalls festzustellen, ist zudem der sogenannte URGENCY-Algorithmus“ führte Pieske aus. Der Algorithmus nutzt Daten aus im Fahrzeug eingebauten Crash-Messgeräten zur Identifizierung von Unfall-Ereignissen und macht die Schwere des Unfalls mit einer Ampelgrafik sichtbar. Der Algorithmus entstand auf der Basis von Daten die im Rahmen einer Kooperation mit US-amerikanischen Instituten geliefert wurden.

Datenschützer kritisieren

Auf den ersten Blick sieht das E-Call-Projekt durchweg positiv aus: Todesfälle werden verhindert, Verletzte erhalten schneller die für sie angemessene Notfallversorgung. Doch es gibt auch Kritik an der Technik. Datenschützer befürchten, dass die übermittelten Daten die technische Grundlage für eine europaweite Überwachungsinfrastruktur sei. Der Deutsche Anwalt-Verein warnte zum Beispiel vor dem „gläsernen Autofahrer“. Es sei nicht auszuschließen, dass die gesammelten Daten etwa zu Fahrweise, Tempo und Bremsverhalten nach einem Unfall gegen den Nutzer verwendet werden könnten.

Auch Pieske findet Datenschutz wichtig: „Dies ist ein legitimer Wunsch der Bevölkerung.“ Er habe während seiner beruflichen Laufbahn jedoch keinen Patienten oder Angehörigen getroffen, der sich nach einem Unfall gegen eine medizinische Versorgung sperrte, weil ein Datenschutzproblem vorgelegen habe. Es sei wichtig, Telekommunikation und Telemedizin zu verwenden, um das hohe Gut Gesundheit hochzuhalten: „Hier muss man pragmatisch denken. Das Projekt ist ja keine Spielerei – nach Unfällen geht es oft um Leben oder Tod.“ Hinzu kommt, dass in den aktuellen BMW-Modellen der intelligente Notruf deaktivierbar ist. Und: Ohne Kollision oder bewusste Aktivierung des Notrufs durch einen Fahrzeuginsassen zeichnet das Notrufsystem ohnehin keine Daten auf. Philipp Ollenschläger

Kommentare

Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote