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Tarifeinheit – Achtung: Treppenwitz


Der Zug kommt nicht, regionale Busse und U-Bahnen sind hoffnungslos überlastet, auf den Straßen herrscht Stau: Fast jeder Deutsche hat den Streik der Lokführer auf die eine oder andere Art zu spüren bekommen und ganz persönlich zumindest mit Zeit bezahlt.
Gelassen nehmen das nur Wenige. Viele reagieren mit Wut und Unverständnis auf die Minderheitengewerkschaft eines außerhalb von Tarifkämpfen sonst öffentlich wenig wahrgenommenen Berufsstandes. Der Bürger sieht sich als Opfer einer kollektiven Bestrafung für den Tarifstreit anderer: Ist das so einfach?
Da werden Realitäten verschoben, Motive ver- und Rechte aus Bequemlichkeit heraus aberkannt. Die zugehörigen Personen stigmatisiert man in den Medien. Fast schon dankbar nimmt die Öffentlichkeit journalistische Hetze und zum Teil unfaire Angriffe auf die Protagonisten des Streiks an. Folgerichtig scheint der Gedanke, das Streikrecht als unsachgemäß, als überkommenes Relikt vergangener Zeiten zu brandmarken. Sollen „die“ sich doch einigen, ohne „uns“ zu behelligen.
Das alles kumuliert zu einem Zeitpunkt, an dem die Nation 25 Jahre Mauerfall zwischen Ost und West feiert. Diese Grenzöffnung war vor einem Vierteljahrhundert der unglaubliche Erfolg des Aufbegehrens, des Protestes, ein ideales Symbol friedlichen Widerstands, der Kampf um Grundrechte, die im System der DDR nicht gewährt wurden.
Und dann dieser Treppenwitz der Geschichte, dass das Aufbegehren für Grundrechte unserer Verfassung – dazu zählt das Streikrecht – in der Öffentlichkeit nicht einmal mehr als berechtigt wahrgenommen wird.
Jeder, der die Freiheiten des deutschen Grundgesetzes in unserer Demokratie bewahren will, muss sich über den Versuch der Bundesregierung ärgern, das Recht vieler Einzelberufe auf eigene und freie Interessenvertretung drastisch einzuschränken. Als lästig empfundene Arbeitskämpfe sollen durch die Subsumierung kleinerer Gewerkschaften – das sind nicht allein die in der Öffentlichkeit angegriffenen Lokführer, sondern auch die Vertretungen von Ärzten, Journalisten, Piloten und anderen – per Gesetz verhindert werden. Das Recht auf Arbeitskampf und Tarifabschlüsse soll künftig allein Mehrheitsgewerkschaften in Betrieben vorbehalten sein. Das muss nicht zwangsläufig an die DDR-Systematik erinnern, von der der 1. Vorsitzende des Marburger Bundes, Rudolf Henke, behauptet, dass deren staatliche Einheitsgewerkschaft FDGB als „Transmissionsriemen zwischen Regierung und Gesellschaft“ fungiert habe. Aber fern ist dieser Gedanke nicht.
Bis auf wenige Ausnahmen haben auch die großen Gewerkschaften bis zu ihrem Dach DGB inzwischen bekannt, dass man den Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums zumindest in diesem Punkt nicht gutheißen kann.
Wer einzelnen Berufsgruppen das Organisationsrecht, das Recht auf Selbstbestimmung und -vertretung in eigenen Angelegenheiten nimmt, lässt ein Stück Demokratie verkümmern. Mag sein, dass der Marburger Bund und seine Mitglieder diese Haltung vertreten müssen. Das ändert nichts daran, dass sie Recht haben.
Ob sie im weiteren Hergang auch Recht bekommen, wird die Zukunft zeigen. Das Aufbegehren gegen Grundrechtsbeschneidungen ist jedenfalls nicht nur im Sinne der Lokführer oder Ärzte, sondern von uns allen. Bitte keine weiteren Treppenwitze.
Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur
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Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.am Sonntag, 16. November 2014, 12:58
Treppenwitz?