MEDIZIN: Editorial
Wie evidenzbasiert ist die Lagerung von Patienten mit neurologischen Erkrankungen?
How evidence based is the positioning of patients with neurological illness?


Die Entwicklung von und das Handeln nach Leitlinien hat in der Medizin eine zunehmend größere Bedeutung bekommen. Leitliniengerechtes, evidenzbasiertes Entscheiden und Behandeln wird zu einer Selbstverständlichkeit – überall da, wo eine durch entsprechende Studien abgesicherte Evidenz existiert. Auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat inzwischen in der 5. Auflage verfügbare Leitlinien zu Diagnostik und Therapie verschiedenster Erkrankungen herausgegeben (1).
Bemerkenswert ist nicht nur, für welche Themen es bereits eine gute Evidenzlage gibt, sondern fast mehr noch, wie viele alltägliche Verrichtungen und Maßnahmen aus tradierten Gewohnheiten heraus übernommen werden, ohne dass randomisierte und kontrollierte Studien zum Wirksamkeitsnachweis existieren.
Hinweise zur Lagerung des gesamten Körpers fehlen bislang
Dieses gilt beispielsweise auch für die Lagerung von Patienten mit Erkrankungen des zentralen oder peripheren Nervensystems. In der entsprechenden DGN-Leitlinie werden in erster Linie die Lagerung des hochgradig paretischen oder plegischen Armes nach Schlaganfall behandelt und die Anwendung von Schulterorthesen sowie eines am Rollstuhl zu befestigenden Therapietisches diskutiert beziehungsweise empfohlen. Bei Patienten mit erhöhtem intrakraniellen Druck wird eine Oberkörperhochlagerung angestrebt. Hinweise zur Lagerung des gesamten Körpers fehlen nicht nur in der deutschen, sondern auch in anderen Leitlinien wie der englischen (2) oder der US-amerikanischen (3) oder sind sehr allgemein gehalten, beispielsweise mit dem Verweis auf eine präferenzielle Lagerung auf der paretischen Seite (4). Dieses Vorgehen mit dem Ziel, durch Lagerung auf der betroffenen Seite somatosensorische Afferenzen zu fördern, wurde bereits vom Ehepaar Bobath propagiert (5). Eine systematische Überprüfung dieser Hypothese steht allerdings bislang aus.
Hochwertige multizentrische Studie
Die von Piepenbrock und Koautoren durchgeführte und in dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts publizierte Studie (6) nimmt sich dieses wichtigen klinischen Themas an. Die Untersuchung zur Lagerung von nicht gehfähigen Patienten mit zentral-neurologischen Erkrankungen erfüllt die grundlegenden Charakteristika einer wissenschaftlich hochwertigen multizentrischen Studie. Die Autoren haben in ihrem randomisierten und kontrollierten Design mit verblindeten Untersuchern sowohl objektive als auch subjektive Parameter erfasst. Es wurde eine Lagerung in Neutralstellung (LiN) mit einer konventionellen Lagerung verglichen. Bei der LiN werden insbesondere das obere Bein, die Halswirbelsäule und der Kopf mit Kissen und Decken unterstützt. Hierdurch verteilt sich der Druck gleichmäßiger und eine Überdehnung und Verkürzung der Muskeln werden vermieden. Im Gegensatz dazu ist bei der konventionellen Lagerung der Kopf leicht angehoben, der Rumpf lateral flektiert, der Schultergürtel verschiebt sich in Richtung Elevation und ist in Richtung Rumpf komprimiert. Eine zweistündige Lagerung in Neutralstellung führte zu einer besseren passiven Beweglichkeit in Hüft- und Schultergelenk und wurde häufiger als komfortabel angegeben als die konventionelle Lagerung. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Lagerung auf der paretischen oder der weniger betroffenen Seite erfolgte. Dieses sind in Bezug auf die Lebensqualität und Beweglichkeit des Patienten potenziell wichtige Ergebnisse.
Resultate werfen weitere Fragen auf
Wie bei vielen anderen Untersuchungen werfen die Resultate weitere relevante Fragen auf, die auch von den Autoren bereits zum Teil formuliert wurden und insbesondere die möglichen Langzeiteffekte einer Lagerung in Neutralstellung betreffen. Auch praktische Aspekte, wie die Frage, ob beziehungsweise wie viel Zeit die LiN-Lagerung in Anspruch nimmt, sollten dargestellt werden. Darüber hinaus ist klinisch von großer Relevanz, ob eine Lagerung in Neutralstellung die Entwicklung von Kontrakturen beeinflussen kann. In diesem Zusammenhang sei auf eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit der Cochrane Gruppe verwiesen, in der geschlussfolgert wurde, dass bislang kein Nachweis einer Wirksamkeit von passiven Bewegungen zur Kontrakturvermeidung gelungen ist (7).
Die Arbeit von Pickenbrock et al. sollte in Anbetracht bisher nicht festgestellter Nebenwirkungen bereits jetzt dazu ermutigen, nicht gehfähige Patienten mit Erkrankungen des zentralen Nervensystems unter sorgfältiger Beobachtung in Neutralstellung zu lagern. Zukünftige Studien zur Anwendung dieses Verfahrens sollten nicht nur die Ergebnisse der Kurzzeitanwendung replizieren, sondern insbesondere Langzeiteffekte untersuchen, auch das Kriterium Schmerz erfassen sowie den funktionellen Zustand des Patienten, zum Beispiel mittels Barthel-Index oder Functional Independence Measure (FIM), charakterisieren und im Verlauf kontrollieren.
Diese Ergebnisse von Pickenbrock et al. eröffnen die Möglichkeit, weitgehend kostenneutral und mit relativ einfachen Mitteln das Befinden und die Beweglichkeit der Patienten zu verbessern.
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Joachim Liepert
Abteilung für Neurorehabilitation
Kliniken Schmieder, 78476 Allensbach
j.liepert@kliniken-schmieder.de
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
NICE clinical guideline 162, 2013 guidance.nice.org.uk/cg162
(last accessed on 16. December 2014).
1. | Diener HC, Weimar C (eds.): Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Stuttgart: Thieme 2012. |
2. | NICE: Stroke rehabilitation. Long-term rehabilitation after stroke. NICE clinical guideline 162, 2013 guidance.nice.org.uk/cg162 (last accessed on 16. December 2014). |
3. | Jauch EC, Saver JL, Adams HP Jr, et al.; American Heart Association Stroke Council; Council on Cardiovascular Nursing; Council on Peripheral Vascular Disease; Council on Clinical Cardiology. Guidelines for the early management of patients with acute ischemic stroke: a guideline for healthcare professionals from the American Heart Association/American Stroke Association. Stroke 2013; 44: 870–947. CrossRef MEDLINE |
4. | Summers D, Leonard A, Wentworth D, et al.; American Heart Association Council on Cardiovascular Nursing and the Stroke Council: Comprehensive overview of nursing and interdisciplinary care of the acute ischemic stroke patient: a scientific statement from the American Heart Association. Stroke 2009; 40: 2911–44. CrossRef MEDLINE |
5. | Bobath B, Bobath K: Die motorische Entwicklung bei Zerebralparesen. Stuttgart: Thieme 1998. |
6. | Pickenbrock H, Ludwig VU, Zapf A, Dressler D: Conventional versus neutral positioning in central neurological disease—a multicentre randomized controlled trial. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 35–42. VOLLTEXT |
7. | Prabhu RK, Swaminathan N, Harvey LA. Passive movements for the treatment and prevention of contractures. Cochrane Database Syst Rev. 2013; 12: CD009331. MEDLINE |
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Reviews in the Neurosciences, 202210.1515/revneuro-2021-0085
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