SCHLUSSPUNKT
Körperbilder – Albrecht Dürer (1471–1528): Moralische Legitimation


Als der junge Albrecht Dürer Ende des 15. Jahrhunderts – so früh wie kein anderer Künstler nördlich der Alpen – begann, den nackten menschlichen Körper abzubilden, kam das einer Revolution gleich. Unbekleidete gab es auch zuvor in der Kunst, aber nur im Kontext zum Beispiel religiöser Sujets. Doch der Akt als individuelle künstlerische Ausdrucksform, das pralle Frauenleben, das der Nürnberger seinen Zeitgenossen mit ungewohnt naturalistischen Kupferstichen wie den „Vier Frauen“ vorführte, war neu und faszinierend. Zumal er die zentrale Gestalt von hinten präsentierte – kunsthistorisch die Geburtsstunde des Rückenakts.
Vor allem die drei vorderen weiblichen Figuren avancierten mit ihrer plastischen Leibesfülle und vitalen Sinnlichkeit im 16. Jahrhundert zum Vor- und Leitbild vieler Künstler. Dabei konnte Dürer seine „nacketen Körper“, wie er selbst seine Ganzkörperakte nannte, nicht nach lebenden Modellen zeichnen, sondern musste diese aus Versatzstücken zusammensetzen, wie die Bonner Kunsthistorikerin Prof. Anne-Marie Bonnet (1) betont: „Er amalgierte, was er in der Kunst und in der Natur beobachtete“, etwa beim Studium antiker Skulpturen und bei Werken von Renaissancekünstlern auf seiner ersten Italienreise 1494/95 oder, profaner, bei Aufenthalten im Nürnberger Badehaus. Dass dieser Aufbruch in ein neues künstlerisches Zeitalter eine moralische Legitimation erforderte, könnte erklären, warum Dürer seine Körperschau mit rätselhafter Symbolik unterlegte: Von der Decke des Raums, auf einer vertikalen Achse mit dem am Boden liegenden Schädel, hängt eine Kugel, die die Jahreszahl 1497 sowie die bis heute unentschlüsselte Inschrift O.G.H. trägt. Will der Teufel mit seiner typischen Gerätschaft, einer Netzfalle, die Seele des Betrachters oder die der Frauen fangen? Verweisen ihre Anordnung im Kreis und der Knochen zu ihren Füßen auf Hexen? Oder sind es Grazien nach antikem Vorbild, deren „Germanicità“ (Bonnet) Dürer parodierte? Beim humanistisch gebildeten Publikum um 1500 stieß sein Blatt in seiner Sinnoffenheit jedenfalls auf großen Anklang – als Kunstwerk für Eingeweihte. Sabine Schuchart
Ausstellung
„Dürers Mysterien. Rätsel in seinem graphischen Werk“
Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Graphisches Kabinett, Obenmarspforten 40, Köln
Di.–So. 10–18, Do. 10–21 Uhr;
bis 22. März 2015