ArchivDeutsches Ärzteblatt3/2015Ärztestreik in Frankreich: Überschattete Debatte

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Ärztestreik in Frankreich: Überschattete Debatte

Korzilius, Heike

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Millionen Menschen gingen am 11. Januar in Frankreich auf die Straße, um nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo gegen Terror, für eine freie Gesellschaft und deren Symbol, die Meinungs- und Pressefreiheit, zu demonstrieren. Angesichts von Gewalt und Tod ist verständlicherweise die Gesundheitspolitik für den Moment aus dem Blickfeld geraten.

Heike Korzilius, Politische Redakteurin
Heike Korzilius, Politische Redakteurin

Dabei stehen im französischen Gesundheitssystem grundlegende Veränderungen an, wenn das Parlament den Plänen von Gesundheitsministerin Marisol Touraine zustimmt, von 2017 an, ähnlich wie in Deutschland, in der Krankenversicherung das Sachleistungsprinzip einzuführen. Die Regierung von François Hollande hatte bereits im Wahlkampf versprochen, auf diese Weise den Zugang zum Gesundheitswesen zu erleichtern und so zu verhindern, dass Patienten aus finanziellen Gründen auf eine ärztliche Behandlung verzichten.

Noch bezahlt der Patient in Frankreich den (niedergelassenen) Arzt direkt. In der Regel erstattet ihm die Krankenkasse das Geld abzüglich eines Selbstbehalts im Laufe einer Woche zurück. Bei armen Patienten oder chronisch Kranken, die das Vorstrecken der Behandlungskosten überfordern würde, verzichten manche Ärzte freiwillig auf die Kostenerstattung und reichen ihre Rechnung direkt bei der Krankenversicherung ein. Dass dieses System jetzt die Regel werden soll, hat unter den Ärzten massive Proteste ausgelöst.

Nachdem Kundgebungen und Praxisschließungen über die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel die Politik unbeeindruckt ließen, rollt jetzt eine zweite Protestwelle. Mehrere Ärztegewerkschaften haben zum „totalen Verwaltungsstreik“ aufgerufen und die Ärzte aufgefordert, verschiedene Funktionen der elektronischen Gesundheitskarte, beispielsweise Krankschreibungen, zu boykottieren und die Krankenkassen mit einer Papierflut zu überziehen. 95 Prozent der Ärzte, schreibt die französische Tageszeitung Le Monde, lehnten die Regierungspläne ab. Sie schwächten die Eigenverantwortlichkeit der Patienten und mündeten letztlich in der unkontrollierten Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen. Außerdem befürchteten viele Ärzte, dass die Direktabrechnung mit rund 400 Krankenkassen zu Zahlungsverzögerungen und überbordender Bürokratie führe.

Über die Vor- und Nachteile der Kostenerstattung wird auch in Deutschland regelmäßig debattiert. Bei den Patienten ist sie unbeliebt. Gesetzlich Krankenversicherte, die das Recht haben, Kostenerstattung zu wählen, machen davon kaum Gebrauch. Auch das Bild innerhalb der Ärzteschaft ist hierzulande deutlich uneinheitlicher als in Frankreich. Bislang haben sich weder der Deutsche Ärztetag noch die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung dafür ausgesprochen, das Prinzip der Sachleistung zugunsten der Kostenerstattung abzuschaffen. Die Forderung nach festen und kostendeckenden Preisen für ärztliche Leistungen knüpfen beide Gremien nicht an ein Erstattungsmodell. Verfechter der Kostenerstattung sind vor allem freie Verbände wie der Hartmannbund.

Die vorsichtigere Position der verfassten Ärzteschaft könnte zwei gewichtige Gründe haben: Einer Umfrage im Fernsehsender arte zufolge hat ein Drittel der Franzosen aus finanziellen Gründen schon einmal auf eine medizinische Behandlung verzichtet. Und für die Abrechnung stehen in Deutschland zwischen Kassen und Arzt die Kassenärztlichen Vereinigungen.

Heike Korzilius
Politische Redakteurin

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