ArchivDeutsches Ärzteblatt5/2015DKV-Gesundheitsreport 2015: Sitzen geblieben

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DKV-Gesundheitsreport 2015: Sitzen geblieben

Maibach-Nagel, Egbert

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Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur
Egbert Maibach-Nagel, Chefredakteur

Wie gesund leben wir Deutschen? Das Gute vorweg: Immer weniger von uns trinken zu viel Alkohol. Der Anteil der Menschen, die laut DKV-Report „Wie gesund lebt Deutschland?“ 2014 zuviel davon konsumierten, sank unter den mehr als 3 100 vom Meinungsforscher GfK für die Sporthochschule Köln Befragten innerhalb von zwei Jahren von 16 auf 13 Prozent. Ebenfalls positiv ist: Unsere subjektiv empfundene Stressbelastung sinkt. Soviel zur „Haben-Seite“ des Reports.

Der Rest der inzwischen zum dritten Mal abgeprüften Benchmarks zum gesunden Leben deutet allerdings ins Negative. So stieg die Zahl der Raucher in den vergangenen zwei Jahren von 22 auf 24 Prozent an, auch die Ernährungsgewohnheiten der Deutschen werden schlechter.

Wirkliche Besorgnis bei Auftraggebern und Wissenschaftlern erregt aber, dass wir Deutschen uns immer weniger bewegen. 7,5 Stunden verbringt der Durchschnittsdeutsche täglich sitzend. Die Gründe: Vor allem, so die Kölner Sporthochschule, die Zunahme der Arbeit an Computern (24 Prozent der Zeit), aber auch steigender Fernsehkonsum (30 Prozent).

Insofern ist die Bilanz des Reports Wasser auf die Mühlen aller Befürworter der Präventivmedizin: Denn nur elf Prozent der Befragten leben, was Bewegung, Ernährung, Rauchen, Alkohol und Stressumgang betrifft, wirklich gesund, darunter mehr Frauen als Männer. Negativbeispiele sind, so die wissenschaftlichen Leiter des Reports, Prof. Dr. Ingo Froböse und Dr. Birgit Wallmann-Sperlich vom Zentrum Gesundheit der Deutschen Sporthochschule, vor allem die in der „Rushhour“ ihres Lebens befindlichen 30- bis 45-jährigen.

Auch wenn sich die Älteren unter uns mehr Mühe mit bewusster Ernährung geben, zu den Sitzenbleibern zählen sie trotzdem. Froböse weist ausdrücklich darauf hin, dass das bisschen Freizeitsport – laut RKI-Angaben etwa ein- bis zweimal die Woche – bei soviel „Sitzfleisch“ die Gesundheit nicht retten kann. Sitzen, so der Kölner Wissenschaftler, drohe aus volksgesundheitlicher Warte „das neue Rauchen“ zu werden. Stoffwechselstörungen, Leistungsschwächen, Muskelatrophien, koronare Herzkrankheiten, Rheuma, Arthrosen oder geschwächte Immunabwehr lauten seine Prophezeiungen für mögliche Geißeln der Gesellschaft.

Dass insbesondere auch der Blick auf die nachwachsende Generation wenig Anlass zur Hoffnung bietet, scheint der Report zu bestätigen: Weniger als die Hälfte der sechs- bis zwölfjährigen Kinder ist ausreichend körperlich aktiv (empfohlen ist eine Stunde pro Tag). Außerhalb der Schule sitzen Kinder an Wochentagen auch zu Hause rund vier, an Wochenenden viereinhalb Stunden täglich.

Befragt nach Lichtblicken oder Auswegen, nennt Froböse neben den Faktoren Wissen und Aufklärung vor allem die vorbildliche Erziehung durch die Eltern. Unterstützende Maßnahmen im Präventionsgesetz seien in Teilen zwar begrüßenswert, aber nicht ausreichend. Um grundlegende Erfolge erzielen zu können, empfiehlt der Kölner Wissenschaftler interdisziplinäre Ansätze unterschiedlicher Ressorts – quer durch fast alle politische Sparten. Erst durchdachte Ansätze, die auch Bildung, Bau, Verkehr, Familie, Erziehung, Soziales, Gesundheit mit in ein Gesamtkonzept einbinden, könnten Deutschlands Sitzenbleiber wieder auf Trab bringen. Prävention ist eben mehr als nur flankierende Gesetzgebung.

Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur

Kommentare

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Avatar #695569
Dr.BM.Kurth
am Donnerstag, 5. Februar 2015, 11:56

DKV-Gesundheitsreport: Anforderungen an Repräsentativität und statistische Genauigkeit

Aussagen zum Gesundheitsverhalten der Deutschen stoßen stets auf großes Interesse bei Ärzteschaft, Öffentlichkeit und Politik. Aus unserer Sicht sind jedoch bei dem zitierten DKV-Gesundheitsreport 2015 die Anforderungen an Repräsentativität und statistische Genauigkeit aus folgenden Gründen kritisch zu hinterfragen:

Responserate: Die Antwortquote des DKV-Gesundheitsreports liegt mit 13% sehr niedrig. Es ist nicht auszuschließen, dass dies – trotz Gewichtung – zu einer Verzerrung der Stichprobe führt.

Regionale Unterschiede: Es wurden 200 Interviews pro Bundesland geführt (bis auf Bremen und Saarland). Da bei dieser Fallzahl die Schätzer breite Konfidenzintervalle haben, ist fraglich, inwieweit die zwischen den Ländern berichteten Unterschiede statistisch signifikant sind (solange keine Konfidenzintervalle oder andere statistischen Tests ausgewiesen werden).
Trendaussagen: Auch hier fehlen im Report Angaben zum Signifikanzniveau und zur Altersstandardisierung. Damit kann nicht beurteilt werden, ob ein Unterschied von zwei oder drei Prozentpunkten zur vorherigen Studie (Alkoholkonsum, Ernährung, Rauchen) statistisch belastbar ist.

Aussagen zur Kindergesundheit: Es wurden 337 Interviews mit Eltern von Kindern zwischen 6 und 12 Jahren geführt und in drei Altersgruppen ausgewertet. Pro Altersgruppe basieren die Aussagen somit auf rund 100 Interviews. Es gelten somit die bereits erwähnten Beschränkungen in der Aussagekraft der Ergebnisse, insbesondere, wenn diese noch regional untergliedert werden.
Diese Limitationen sind auch bei einer Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, wie zum Beispiel beim Trend des Rauchens oder Aussagen zum Gesundheitsverhalten nach Bildung und Einkommen. Nachfolgend einige Zitate aus dem Report:

Trend des Rauchens: „So stieg die Zahl der Raucher in den vergangenen zwei Jahren von 22 auf 24% an (…)“. Hier fehlt eine Einordnung dieses überraschenden Befunds in den gegenwärtigen Stand der Forschung. Längerfristige Trends werden nicht berücksichtigt. Sämtliche große Bevölkerungsstudien zum Thema „Substanzkonsum“ zeigen, dass der Anteil der Raucher und Raucherinnen seit einigen Jahren rückläufig ist – besonders auch im Jugend- und jungen Erwachsenenalter. Legt man die Daten des Epidemiologischen Suchtsurveys zugrunde, dann ist im Zeitraum von 2003 bis 2012 die 30-Tage-Prävalenz des Rauchens bei 18- bis 59-jährigen Männern von 37% auf 31% gesunken, bei gleichaltrigen Frauen von 31% auf 24%. Einen ganz ähnlichen Trend zeigen die Ergebnisse der Mikrozensen und der RKI-Gesundheitssurveys.

Bildungs- und Einkommensunterschiede: Der DKV-Gesundheitsreport findet in Bezug auf den Gesamtindex zum Gesundheitsverhalten lediglich geringe Unterschiede zwischen den betrachteten Bildungs- und Einkommensgruppen (Spannweite zwischen den Bildungsgruppen 10 bis 13%, zwischen den Einkommensgruppen 9 bis 12%). Obwohl die Unterschiede statistisch vermutlich nicht signifikant sind (keine Konfidenzintervalle ausgewiesen, keine Angaben zu statistischen Test), werden Aussagen hierzu abgeleitet, wie „Menschen mit mittlerer Reife leben im Bildungsvergleich am gesündesten: 13% von ihnen erlangen alle fünf Benchmarks, nur 10% der Personen mit einem abgeschlossenen Studium gelingt dies.“ Oder „Je höher der Verdienst der Befragten, desto weniger erreichen sie die Benchmarks in allen fünf Gesundheitskategorien.“ Auch diese Ergebnisse müssten kritisch diskutiert werden, da sie dem Stand der gesundheitlichen Ungleichheitsforschung in Deutschland widersprechen. Die vorliegenden Studien zeigen relativ eindeutig, dass mit zunehmendem Bildungsgrad und höherem Einkommen der Anteil an Personen, die sich gesundheitsförderlich verhalten, zunimmt.

Sehr geehrter Herr Maibach-Nagel, wir freuen uns sehr über Ihren Aufruf zu mehr Prävention, sind jedoch der Meinung, dass es belastbarere Studien zur Einschätzung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung gibt, um diesen durch Fakten zu untermauern. Daten, wie sie das Statistische Bundesamt, das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung mit dem Sozio-oekonomischen Panel, das Institut für Therapieforschung mit dem Epidemiologischen Suchtsurvey oder das Robert Koch-Institut mit den Studien des Gesundheitsmonitorings bereitstellen, würden Ihrem Anliegen sicherlich noch mehr Schlagkraft verleihen.

Nur als Beispiel: Für Kinder und Jugendliche, für die sich angeblich „wenig Anlass zur Hoffnung bietet“, gibt es die bereits in Ihrem Blatt mehrfache veröffentlichten Daten der für Deutschland repräsentativen „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS). Diese zeigen, dass zwar weniger als die Hälfte der Kinder das von der WHO empfohlene Aktivitätsniveau erreichen, aber mehr als drei Viertel der Kinder und Jugendlichen Sport treiben, der Großteil davon in einem Verein. Gibt es da nicht doch etwas Hoffnung?

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bärbel-Maria Kurth, Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut
Avatar #106067
dr.med.thomas.g.schaetzler
am Samstag, 31. Januar 2015, 10:54

Der Tod rückt im Sitzen näher!

TV-Glotzen, PC-Nutzen, Bürostuhl-Tätigkeiten, Sitzungen, chat-rooms, Autofahren und am Lebensende nur noch Rollstuhl-Fahren? Der Tod rückt im Sitzen näher! “Television Viewing, Computer Use, Time Driving and All-Cause Mortality: The SUN Cohort” ist der Titel einer Publikation von Francisco Javier Basterra-Gortari et al. im Journal of the American Heart Association (JAHA). Doch von einer echten prospektiven Studie, mit der eine Hypothese geprüft, bestätigt oder verworfen wird, ist diese aktuelle Untersuchung weit entfernt. J Am Heart Assoc. 2014; 3:e000864
http://dx.doi.org/10.1161/JAHA.114.000864

Es handelt sich um eine sogenannte Follow-Up-Studie. Niemand kann exakt im Voraus sagen, wie lange er zukünftig im Büro sitzen, fernsehen, Computer benutzen oder Auto fahren werden wird, sondern sich allenfalls bei Befragungen retrospektiv grob erinnern, dass da mal irgendwas mit TV, PC und PKW war: „13 284 Spanish university graduates with a mean age of 37 years were followed-up for a median of 8.2 years“ und wurden per Fragebogen zum Thema Sitzdauer pro Tag dazu befragt.

Ein bekanntes Motto lautet: 'Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft'. E. S. George et al. haben dazu im Int J Behav Nutr Phys Act. Anfang 2013 veröffentlicht: „Chronic disease and sitting time in middle-aged Australian males: findings from the 45 And Up Study”
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3571940/
Sie fanden einen positiven Zusammenhang zwischen der täglichen Sitzdauer und dem Auftreten von Diabetes mellitus bzw. anderen chronischen Krankheiten im Rahmen einer ebenfalls retrospektiven Krankheits-Register-Studie. Damit ihre Erkenntnisse nicht auf dem Niveau bleiben: 'Je flacher die Atmung, desto schlechter die Lungenfunktion', forderten sie prospektive Studien zur Klärung eines Kausalitäts-Zusammenhangs. Denn nicht nur Bewegungsmangel und das viele Sitzen allein lassen Krankheiten entstehen. Sondern auch und gerade die krankheits- und behinderungsbedingten Bewegungs- und Leistungs-Einschränkungen diktieren u. a. die tägliche Sitzdauer. Andernfalls müssten Bus- und Taxifahrer, Piloten, Rennfahrer, Büro- und Verwaltungsangestellte, im Deutschen Ärzteblatt Kommentare schreibende Kollegen/-innen oder Pförtner reihenweise Bewegungsmangel bedingt krank werden und tot umfallen.

Erst die ABC-Morbidität von Adipositas, Bewegungsmangel und Co-Faktoren wie metabolisches Syndrom, Hyperinsulinismus, endokrine Pankreasinsuffizienz, Insulinresistenz, idiopathische und genetisch-hereditäre Faktoren machen z. B. den Typ-2-Diabetes mellitus aus.

Nach einer Analyse des australischen "AusDiab-Registers" aus dem Jahr 2011 soll sechs Stunden täglicher Fernsehkonsum das Leben im Mittel um fünf Jahre verkürzen (Br J Sports Med 2011, online 15. August). Unter Verwechslung von Wirkung und Ursache wurde die unsinnige Hypothese aufgestellt, dass "Fernsehkonsum von 6 Std. tgl." s e l b s t aktiv das Leben verkürzen könne.

Andernorts wurde sogar publiziert, möglichst wenig fernzusehen, reduziere präventiv die Prävalenz von Typ-2-Diabetes (JAMA. 2011;305(23):2448-2455). Aber entscheidend bleibt doch: Wir sterben wegen der Endlichkeit aller Lebensvorgänge u n d weil wir uns vor dem Sterben über kurz oder lang nicht mehr so viel bewegen können.

Auch laut der hier angesprochen DKV-Studie der privaten Deutschen Krankenversicherung zum Thema: "Deutsche - Ein Volk von Sitzenbleibern" mit ihrem exzessiven TV-Konsum und durchschnittlich 7,5 Stunden Sitzen pro Tag sind diese doch nur Surrogat-Parameter: Die Fernsehdauer und das Stillsitzen sind Indikatoren für Krankheits- und Motivationsmangel-bedingte Mobilitätseinschränkungen, aber keine validen, monokausalen Parameter für Morbidität und Mortalität. Unsere Patienten sterben nicht, w e i l sie fernsehen, sondern w ä h r e n d der Fernseher läuft!

Mf+kG, Dr. med. Thomas G. Schätzler, FAfAM Dortmund
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