THEMEN DER ZEIT
Sexueller Kindesmissbrauch: Am häufigsten unter Gleichaltrigen


Die Prävalenzforschung zu sexuellem Missbrauch steht in Deutschland noch am Anfang. Der Missbrauchsbeauftragte und das Kompetenzzentrum Kinderschutz an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Ulm luden deshalb internationale Experten zum Austausch ein.
Knapp fünf Jahre ist es her, dass die Missbrauchsskandale am Berliner Canisius-Kolleg, der Odenwald-Schule und anderen kirchlichen und weltlichen Institutionen bekannt wurden. Der gesellschaftliche und politische Aufschrei war groß. Die Bundesregierung initiierte daraufhin einen runden Tisch und installierte eine Unabhängige Beauftragte zu Fragen des sexuellen Missbrauchs. Viele Betroffene haben dadurch eine späte Anerkennung ihres Leids erfahren. Einiges ist auch in Richtung Prävention auf die Schiene gesetzt worden. Dennoch: Sexueller Missbrauch sei trotz der vielfältigen Bemühungen in den letzten Jahren nicht rückläufig und die Fallzahlen weiterhin hoch, bekannte der amtierende Missbrauchsbeauftrage Johannes-Wilhelm Rörig öffentlich in 2014: „Das gesellschaftliche und politische Engagement muss noch deutlich gesteigert werden“, forderte er.
Daten kontrovers diskutiert
Auch die Forschung zur Häufigkeitsangabe sexuellen Missbrauchs in Deutschland stehe noch am Anfang, bekannte Rörig. Die aktuelle Datenlage werde innerhalb der Fachkreise kontrovers diskutiert und weise Defizite auf. Deshalb hat der Unabhängige Beauftragte drei internationale Experten aus dem Forschungsfeld nach Berlin eingeladen, die in einem öffentlichen Expertengespräch Ende 2014 ihr Wissen austauschten.
Meldepflicht unterschiedlich
Der US-amerikanische Soziologe Prof. David Finkelhor, University New Hampshire, forscht seit mehr als 30 Jahren zur Epidemiologie des sexuellen Missbrauchs. Die sehr unterschiedlichen Zahlen, die kursierten, hingen immer auch von der Definition ab, erklärte er. Die Zahlen seien niedriger, wenn man ausschließlich sexuellen Missbrauch mit Penetration betrachtet. Deutlich höher würden die Zahlen, wenn man Übergriffe mit Berührungen im Genitalbereich oder an den Brüsten hinzunimmt. Unterschiedlich beziehungsweise nicht vergleichbar seien die Zahlen auch, weil es in manchen Ländern Meldepflichten zum sexuellen Missbrauch gibt und in anderen nicht. So gibt es in Deutschland keine strafrechtliche Meldepflicht für Ärzte.
Finkelhor hob weiter hervor, dass in vielen Studien der Machtunterschied, der per Definition bei sexuellem Missbrauch vorliegen muss, nur operationalisiert werde durch einen Altersabstand. Viele Übergriffe unter Gleichaltrigen, die aber tatsächliche Übergriffe mit Gewalt und Machtmissbrauch seien, würden deshalb übersehen. Neuere Studien wie die Optimus-Studie aus der Schweiz zeigten, dass das häufigste Problem für Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren – noch vor Missbrauch in der Familie und in Institutionen – Übergriffe durch Peers sind. Besonders gravierend sei, dass die Opfer dabei oftmals gefilmt und die Taten über soziale Netzwerke der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden. Dieses Phänomen sei weltweit nicht ausreichend untersucht; auch für Deutschland gebe es keine Zahlen, berichtete Finkelhor. Bedauerlich fand der Soziologe auch, dass es in einem wohlhabenden Land wie Deutschland keine Verlaufsdaten, also keine perspektivische Begleitung des Wegs der Betroffenen durch die Institutionen gebe.
Zur Bedeutung der Inzidenz von sexuellem Missbrauch als relevantem Marker sprach Prof. Nico Trocmé von der McGill School of Social Work Montreal, Kanada. Inzidenz sei im Vergleich zur Lebenszeitprävalenz der sensiblere Marker, um festzustellen, ob Bemühungen, sexuellen Missbrauch einzudämmen, auf gesellschaftlicher Ebene etwas verändern. Denn bis sich die Lebenszeitprävalenz verändert, brauche es einen viel längeren Zeitraum. Für die politische Steuerung und auch für die ärztliche Fortbildung seien deshalb Inzidenz-Ziffern sehr wichtig. Weltweit gebe es in den letzten zehn Jahren zwar einen leichten Rückgang der Prävalenz sexuellen Missbrauchs, sagte Trocmé. Gleichzeitig gebe es aber vielerorts, auch in Deutschland, einen dramatischen Anstieg der Inanspruchnahme von Hilfen in der Gesundheitsversorgung und in Beratungsstellen.
In Schweden gibt es einen eigenen Lehrstuhl innerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie gegen Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch. Der Lehrstuhlinhaber Prof. Carl Göran Svedin, Universität Linköping, betonte, dass der Zugang über die Schulen sehr wichtig sei, besonders für die regelmäßig durchgeführten Prävalenz-Surveys in Schweden. Kritisch bewertete Svedin hingegen Online-Befragungen, weil dabei immer unklar sei, welche Selektionseffekte vorliegen. Dies sei zwar die kostengünstigste Art, an Daten zu gelangen, und sie werde immer häufiger eingesetzt. Methodisch sei dies jedoch sehr fragwürdig. In einer Kooperation mit den baltischen Ländern führt Schweden seit mehreren Jahren Befragungen mit den gleichen Fragen durch, um eine Entwicklung erkennen zu können. Befragt werden jeweils die Schulabgänger, also die 16- bis 18-Jährigen, die selber entscheiden können, ob sie an der Umfrage teilnehmen wollen. Heraus kamen sehr verlässliche Daten zur Häufigkeit sexuellen Missbrauchs, berichtete Svedin. Diese Studie werde zudem als „Omnibus“ verwendet, in die speziellere Fragen eingefügt werden können. Beispielsweise wurden – weltweit zum ersten Mal – Jugendliche direkt gefragt, ob sie sich schon einmal gegen Geld prostituiert haben. Resultat: Im reichen Schweden kommt das nicht selten vor.
In der Diskussion mit den Experten wurde grundsätzlich gefragt, ob das Jugendalter überhaupt der richtige Zeitpunkt sei, um nach sexuellem Missbrauch zu fragen. Aus allen Studien weltweit gehe nämlich hervor, dass bei den 40- bis 60-jährigen Betroffenen die Bereitschaft am größten ist, Auskunft zu geben – wenn sie eigene Kinder haben, Kindheitstraumata aufgearbeitet haben oder darüber nachdenken, dies zu tun. Nach dieser Zeitspanne sinke die Bereitschaft, darüber zu reden, deutlich ab. Im Jugendalter könnten also die konkretesten Erinnerungen erwartet werden, im mittleren Lebensalter jedoch die Offenheit.
Expertise für Deutschland
Die vorgestellten Erfahrungen der Professoren Finkelhor, Trocmé und Svedin sollen die Prävalenzforschung in Deutschland einen Schritt voranbringen. Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie und Leiter des dortigen Kompetenzzentrums Kinderschutz, com.can. (www. comcan.de), wurde beauftragt, bis zum kommenden Sommer eine Expertise zu erstellen. „Der Auftakt war sehr stimulierend“, sagte Fegert.
Petra Bühring
3 Fragen an . . .
Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Leiter des Kompetenzzentrums Kinderschutz in der Medizin
Hat es Sie überrascht, dass die meisten Übergriffe unter Peers stattfinden?
Fegert: Nein, wir haben das vor ein paar Jahren bereits in einer Expertise für das bayerische Landesjugendamt deutlich gemacht und auch am Runden Tisch sexueller Missbrauch darauf hingewiesen. Doch das von einem internationalen Experten zu hören, war für mich ein Highlight und auch ein To-do: Wir müssen darauf stärker fokussieren.
Ein leichter Rückgang der Prävalenz, aber eine stark zunehmende Inanspruchnahme. Wie erklären Sie das?
Fegert: Dieser Unterschied resultiert aus dem Verhältnis von Hellfeld und Dunkelfeld. Das medizinische und beraterische Hellfeld hat sich deutlich seit der Kampagne des Unabhängigen Beauftragten und seit Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes verändert. Es trauen sich viel mehr Leute, sich an uns zu wenden. Wir gehen oft unter in Fällen, obwohl die absolute Zahl wahrscheinlich sinkt. Wir kennen die Inzidenz bisher nicht, aber die Versorgungsangebote reichen nicht aus. Eine Studie zur Inzidenz ist deshalb sehr wichtig.
Wäre bei dem von Schweden initiierten Prävalenz-Survey nicht auch eine Beteiligung Deutschlands sinnvoll?
Fegert: Deutschland ist angefragt worden, hat sich aber nicht beteiligt, weil der Kultusbereich sich geweigert hat, in Schulen solche Untersuchungen durchführen zu lassen. Ich überlege, was wir jetzt unternehmen können. In Deutschland gab es zwar auch Versuche, Schulbefragungen durchzuführen, doch teilweise mit viel zu jungen Kindern, was natürlich die Eltern auf den Plan gebracht und die Kultusministerien hoch kritisch sensibilisiert hat.
Sehr sinnvoll scheint der schwedische Ansatz, die Abgängerklassen zu befragen, die rückwirkend über ihre Jugendphase berichten. So bekommt man relativ realistische Daten über Vorfälle im Kindesalter.