ArchivDeutsches Ärzteblatt10/2015Ländervergleiche: Doch kein OP-Weltmeister

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Ländervergleiche: Doch kein OP-Weltmeister

Stüwe, Heinz

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In den Länderrankings der OECD über die Häufigkeit chirurgischer Eingriffe steht Deutschland weit vorn. Aber ohne Berücksichtigung der Unterschiede in der Altersstruktur sind die Vergleiche nicht aussagefähig, wie eine neue Studie zeigt.

Der Vorwurf lautet, in Deutschland werde viel zu viel operiert. Wer Widerspruch wagt, hat keinen einfachen Stand. Denn die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) legte 2013 in zwei Arbeitspapieren Daten vor, die diese These vom „Operationsweltmeister Deutschland“ stützen. Schon vor zwei Jahren wiesen Experten auf Defizite in der Datenqualität hin.

Sie legten nahe, den schlagzeilentauglichen Länderrankings mit großer Skepsis zu begegnen. Schließlich unterschieden sich die 34 OECD-Mitgliedsländer nach Größe, Wirtschaftskraft und nicht zuletzt Entwicklungsstand ihrer Gesundheitssysteme stark voneinander. Ein entscheidender Punkt sei die unterschiedliche Altersstruktur in den Ländern. Das Wissenschaftliche Institut der Privaten Krankenversicherung (WIP) hat jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass allein aus diesem Grund die OECD-Vergleiche zur Häufigkeit chirurgischer Eingriffe und zur Höhe der Gesundheitsausgaben in ihrer Aussagekraft begrenzt sind.

Die bereinigte Statistik

In der Studie „Die Aussagekraft von Länderrankings im Gesundheitsbereich“ arbeiten Verena Finkenstädt und Dr. Frank Niehaus dieses Manko auf. In der unbereinigten OECD-Statistik weist Deutschland mit 287 Fällen pro 100 000 Einwohner für 2012 nach der Schweiz die zweithöchste Zahl von Hüftersatz-Operationen auf. In Österreich wurden fünf, in Schweden 16, in Frankreich 20 und in Dänemark 21 Prozent weniger Hüftendoprothesen eingesetzt. Zur besseren Vergleichbarkeit haben die Forscher die deutschen Fallzahlen je Altersgruppe und Geschlecht rechnerisch auf die Altersstruktur der anderen Länder übertragen. Die Gegenüberstellung dieser hypothetischen mit den tatsächlichen OP-Fallzahlen ergibt ein neues, nun um die Altersstruktur bereinigtes Ranking – mit spannenden Ergebnissen: Österreich weist nun nicht weniger, sondern 7,5 Prozent mehr Hüfttoperationen auf als Deutschland, das in der Rangliste auch von Norwegen und Luxemburg überholt wird. Die Schweiz bleibt auf Rang 1, aufgrund der relativ jungen Schweizer Bevölkerung altersbereinigt nun mit einem großen 24-Prozent-Abstand zu Deutschland. Die USA, die aufgrund der Rohdaten um 29 Prozent zurücklagen, weisen nun einen ähnlich hohen Wert wie Deutschland auf. Auch Schweden, Dänemark, Belgien und die Niederlande rücken deutlich näher heran.

Die Altersstandardisierung führt auch bei anderen chirurgischen Eingriffen zu einem veränderten Bild. Bei Koronarbypass-Operationen rutscht Deutschland von Rang 3 auf 10, bei Hernien-OPs von 6 auf 12, bei der transurethralen Prostataentfernung von 4 auf 8. Auch auf den Vergleich der Gesundheitsausgaben hat das Institut die Altersstandardisierung angewendet: Deutschland rutscht dabei von Rang 6 auf Platz 9 unter den Ländern mit den höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf. Bei allen Diskussionen über die Methodik von Ländervergleichen sei unbestritten, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in der Regel vom Lebensalter abhänge, resümiert das WIP: „Ohne Berücksichtigung der Altersstruktur kann daher aus einem Ländervergleich der Fallzahlen keine Überversorgung abgeleitet werden. Zusammenfassend zeigt die Untersuchung, dass das deutsche Gesundheitssystem ein hohes Maß an Versorgung durch chirurgische Eingriffe zu moderaten Kosten bereitstellt.“

Heinz Stüwe

Kommentar

OPs ohne Alterslimit

Jens Flintrop, DÄ-Redakteur

Immer wieder hat die Ärzteschaft darauf hingewiesen, dass steigende Operationszahlen auch dem medizinischen Fortschritt geschuldet sind. Es ist heute einfach kein großes Risiko mehr, der 75-jährigen Patientin ein „neues Knie“ oder dem 78-jährigen Patienten eine „neue Hüfte“ einzusetzen. Auch gibt es für Koronarbypass- oder andere Operationen eigentlich kein Alterslimit mehr. Da die Bevölkerung relativ alt ist, steigen die entsprechenden Operationszahlen hierzulande schneller als in Ländern mit jüngeren Einwohnern. Dass diese These jetzt ausgerechnet von Kostenträgerseite durch eine Studie gestützt wird, ist bemerkenswert. Die gesetzlichen Krankenkassen sollten die Erkenntnisse des PKV-Instituts verinnerlichen. Auch ihre Versicherten wollen im Alter vom medizinischen Fortschritt profitieren und ein aktives Leben führen. Genau das versprechen die Kassen ihnen übrigens auch. Entsprechend fordern auch betagte Kassenpatienten bei ihrem Arzt noch eine neue Hüfte oder ein neues Knie ein – was ja durchaus nachvollziehbar ist. Es ist Zeit für eine offene Diskussion darüber, welche Medizin wir uns als wohlhabende Gesellschaft leisten wollen.

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