SUPPLEMENT: Perspektiven der Kardiologie
Gendermedizin: Wie Frauen sich „kardial“ unterscheiden


Das Verständnis von Geschlechterunterschieden, die bei kardiovaskulären Erkrankungen vielfältig auftreten, sollte dazu beitragen, Therapien zielgruppenspezifischer und damit sicherer zu machen.
Bisher wurden das medizinische Wissen und dessen praktische Umsetzung sehr „geschlechter-neutral“ gelehrt und im klinischen Alltag angewandt. Viele Studien und Statistiken zeigen jedoch, dass es eine Vielzahl von Erkrankungen gibt, die bei gleichen Therapiestrategien und getrennter Auswertung der Daten nach dem Geschlecht ein sehr unterschiedliches Ergebnis aufweisen.
Geschlechterunterschiede finden sich bei der Mehrzahl der häufigen Erkrankungen, so auch bei Herzkreislauferkrankungen (1). Insbesondere bei der Koronaren Herzerkrankung und bei Herzinsuffizienz müssen spezifische Aspekte bei Frauen und Männern hinsichtlich Diagnostik und Behandlung bedacht werden. Es ist wichtig, dass die behandelnden Ärzte diese Unterschiede kennen – zumal sie in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen werden.
Akute Koronarsyndrome
Akute Koronarsyndrome ereignen sich vor allem bei Männern. Das stimmt für die Altersgruppe unter 60, aber nach 75 Jahren stellen Frauen die Mehrzahl der Patienten. Das war immer so. Nun nimmt die Zahl der akuten Koronarsyndrome vor allem bei jüngeren Frauen signifikant zu. Statistiken aus Deutschland und Frankreich gehen in die gleiche Richtung (2). Das Bewusstsein dafür bei den Patienten/-innen und Ärzten/-innen ist noch gering und aufgrund des fehlenden Gefahrenbewusstseins kommt es immer wieder zu Verzögerungen in der Diagnosestellung.
Was sind die Ursachen dieser Änderungen? Geschlechterunterschiede bei Risikofaktoren, vor allem Stoffwechselerkrankungen und Übergewicht im Lebensstil und vermehrter Stress im Alltagsleben mögen dazu beigetragen haben. Stress wurde ganz akut in der VIRGO-Studie als wichtiger Risikofaktor für das Auftreten und den schlechten Verlauf eines Myokardinfarktes bei Frauen identifiziert (3). Diabetes ist ein wichtiger Risikofaktor, der das Auftreten einer Koronaren Herzerkrankung bei Frauen stärker fördert als bei Männern. Häufigere Komorbiditäten wie Übergewicht und chronische Entzündungen sowie ungünstige Veränderungen im Gerinnungssystem und in der Endothelfunktion tragen wahrscheinlich zum größeren kardiometabolischen Risiko bei diabetischen Frauen bei (4).
Die Frühstadien des Diabetes beziehungsweise des Prädiabetes, der bei älteren Europäern eine Prävalenz von bis zu 40 Prozent erreicht hat und mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko einhergeht, unterscheidet sich ebenfalls geschlechtsspezifisch (5). Frauen haben eher eine gestörte Glukosetoleranz, Männer früher pathologische Nüchternglukosewerte. Die Leitlinien empfehlen die Messung der Nüchternglukose und des HbA1c oder einen oralen Glukosetoleranztest für Patienten mit koronarer Herzerkrankung. Bei Frauen mit zusätzlichen Risikofaktoren scheint die Durchführung eines oralen Glukosetoleranztests besonders wichtig zu sein.
Schließlich liegt bei circa acht Prozent der akuten Koronarsyndrome bei Frauen (wesentlich seltener bei Männern) ein Tako-Tsubo-Syndrom zugrunde. Hier handelt es sich um eine akute stressbedingte adrenerge Überstimulation des Herzens, die bei normalen epikardialen Kranzarterien zum Pumpversagen führen kann. Die Mortalität wird mit etwa fünf Prozent angegeben; Rezidive mit circa acht Prozent.
Stabile Angina pectoris
Bei stabiler Angina pectoris ist die Interpretation der nichtinvasiven Diagnostik bei Frauen weniger zuverlässig als bei Männern. Die gilt besonders für die Altersgruppe unter 60, wo die Prävalenz obstruktiver Koronarerkrankungen noch relativ niedrig ist. Unspezifische EKG-Veränderungen in Ruhe, Hormoneffekte und eine niedrigere Belastungstoleranz tragen wahrscheinlich zu der niedrigeren Sensitivität und Spezifität nicht bildgebender, nicht invasiver Belastungstests bei Frauen bei.
Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) empfehlen bildgebende Verfahren wie Emissionstomographie, SPECT oder Stressechokardiographie, mit einer Präferenz für nicht radiologische Untersuchungen bei jungen Frauen. Darüber hinaus wird vor allem von amerikanischen Autorinnen der Einsatz der Magnetresonanztomographie (MRT) diskutiert, da damit auch kleine Narben identifiziert werden können. Wichtig ist insbesondere bei Frauen, die thorakale Strahlenexposition niedrig zu halten; sie ist zum Beispiel bei der SPECT höher als bei dem Herzkatheter oder dem CT.
Insgesamt lassen sich bei Frauen mit stabiler Angina Pectoris angiografisch seltener Obstruktionen der epikardialen Gefäße nachweisen. In dieser Patientengruppe sollten extrakardiale Ursachen von Brustschmerzen mit einer mikrovaskulären Funktionsstörung unterschieden werden, da Frauen mit mikrovaskulärer Koronarerkrankung ein deutlich erhöhtes Risiko für Herzinfarkte, Tod, Schlaganfall oder notfallmäßige Krankenhausaufnahmen haben. Die diagnostischen Möglichkeiten zur Abklärung der koronaren Mikrozirkulation haben sich sehr verbessert und beinhalten auch die nicht invasive Messung der koronaren Blutflussreserve durch transthorakale Echokardiographie oder Perfusionscomputertomographie, invasiv über die Bestimmung der koronaren Flussreserve mit Adenosin oder Acetylcholin (6). Darüber hinaus bietet die MRT die Möglichkeit, subendokardiale Minderperfusion als eine Ischaemieursache bei normalen epikardialen Kranzarterien nachzuweisen. Es sollte bewusst sein, dass spontane Koronardissektionen vor allem bei Frauen zwischen 45 und 60 Jahren auftreten.
Koronare Herzerkrankung
Die Arzneimittelbehandlung bei Frauen und Männern mit Koronarer Herzerkrankung ist im Prinzip die gleiche. Lediglich Geschlechterunterschiede in der Pharmakokinetik, die zu unterschiedlicher Bioverfügbarkeit wichtiger Arzneimittel führen, müssen bedacht werden. Grundsätzlich sollen vor allem bei kleinen, älteren Frauen die Nierenfunktion überprüft werden und die Konsequenzen einer reduzierten renalen Elimination von Pharmaka bedacht werden. Darüber hinaus werden einige wichtige kardiovaskuläre Arzneimittel geschlechtsspezifisch über CYPp450-Isoenzyme metabolisiert, was zur Akkumulation einiger häufig gebrauchter Betablocker (siehe Seite 29) bei Frauen führen kann.
Eine Koronardilatation, vor allem unterstützt durch die neuen Medikamenten freisetzenden Stents (DES), hat das gleiche gute Ergebnis bei beiden Geschlechtern. Frauen haben allerdings etwas mehr Komplikationen – vor allem lokale aufgrund der kleineren Gefäße, wenn ein radialer Zugangsweg gewählt wird.
Darüber hinaus müssen Antikoagulanzien vor und nach Katheterintervention sorgfältig an das Körpergewicht und die Nierenfunktion bei Frauen angepasst werden. Häufige Blutungskomplikationen konnten vor allem auf relative Überdosierung dieser Substanzen zurückgeführt werden.
Es wird diskutiert, ob Frauen mit nicht-transmuralem Infarkt ebenso sehr von einem routinemäßig invasiven Vorgehen profitieren wie Männer. Wahrscheinlich sind bei Frauen eher individuelle Nutzen-Risikoabwägungen gefragt.
Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz mit eingeschränkter linksventrikulärer systolischer Funktion betrifft mehr Männer als Frauen in den westlichen Gesellschaften, zumindest im Alter unter 75 Jahren. Dagegen hat Herzinsuffizienz mit erhaltener linksventrikulärer Auswurffraktion eine größere Häufigkeit bei Frauen.
Hypertrophe Kardiomyopathie und dilatative Kardiomyopathie sind häufiger bei Männern zu erwarten, dagegen ist die stressinduzierte Kardiomyopathie oder das Tako-Tsubo-Syndrom eindeutig bei Frauen häufiger. Eine leitlinienbasierte Diagnostik bei Herzinsuffizienz unterscheidet sich nicht bei Männern und Frauen. Allerdings haben große Überwachungsstatistiken gezeigt, dass Echokardiographie bei Frauen seltener eingesetzt wird als bei Männern (7). Im Einzugsbereich erfahrener deutscher Zentren scheint diese Differenz nicht mehr zu bestehen. Ärzte sollten diese Tendenz zu Versorgungsunterschieden kennen, um bewusst gegen sie anzugehen.
Behandlung
Zahlreiche Herzinsuffizienz-Medikamente wie Digitalis, Antiarrhythmika, Antikoagulantien, Betablocker können bei Männern und Frauen unterschiedlich wirken. ACE-Hemmer, aber nicht Angiotensin-Rezeptor-Blocker, führen zu mehr Reizhusten bei Frauen als bei Männern.
Die Sterblichkeit bei Herzinsuffizienz unter Digitalis-Behandlung war in einer Post-Hoc Analyse bei Frauen größer als bei Männern (8). Die Gründe dafür sind noch unklar, können jedoch in den höheren Blutspiegeln bei den Frauen trotz angepasster körpergewichtsbezogener Dosierung liegen. Letztlich wäre die oft niedrige Nierenfunktion kleiner alter Frauen ursächlich. Andere Ursachen könnten Geschlechterunterschiede in der kardialen Ionenkanalfunktion sein. Östrogen und Testosteron beeinflussen zahlreiche Ionenkanäle des Herzens. Unter anderem haben Frauen eine längere korrigierte cQT-Zeit – das heißt eine längere Repolarisationsphase, in der das Herz vulnerabel ist. Daher ist das weibliche Geschlecht ein Risikofaktor für fatale ventrikuläre Tachykardien vom Typ „Torsade de Pointes“, die durch Antiarrhythmika, Antidepressiva, Antiallergika und andere Medikamente ausgelöst werden können.
Kardiale Resynchronisationstherapie (CRT) verbessert das Überleben und die Lebensqualität bei Patienten mit Herzinsuffizienz – vor allem, wenn Leitungsverzögerungen im Herzen vorliegen (9, 10). In einigen Studien haben Frauen mehr vom CRT profitiert als Männer: Ihr Überlebensvorteil war weitgehend unabhängig von der QRS-Dauer und den zugrundeliegenden klinischen Befunden (10, 11). In einer kürzlich erstellen Metaanalyse wiesen die Daten darauf hin, dass bei Frauen die Indikation für eine CRT bei kürzerer QRS-Dauer als bei Männern gestellt werden könnte (12, 13).
Frauen mit Herzinsuffizienz mit eingeschränkter Auswurffraktion werden für Herztransplantation und Implantation mechanischer Kreislaufunterstützungssysteme später als Männer in den Transplantationszentren vorgestellt (14). Die Register der internationalen Gesellschaft für Herz- und Lungentransplantation (ISHLT) zeigten für Frauen wiederholt eine schlechtere Prognose nach Assist-Implantation. Die Überprüfung der klinischen Daten belegte, dass Frauen in fortgeschritteneren Krankheitsstadien zugewiesen wurden, was ihren Überlebensnachteil erklären könnte (15).
Arzneimittelsicherheit
60 Prozent aller Patienten, die wegen schwerer Arzneimittelnebenwirkungen ins Krankenhaus eingewiesen werden, sind Frauen. Tatsächlich sind prädisponierende Faktoren wie Polytherapie, Alter und Depression bei Frauen häufiger als bei Männern. Hypokalämie, Hyponatriemie, die durch Antihypertensiva ausgelöst werden, manifestieren sich bei Frauen schwerer als bei Männern. Daher sollten sie entsprechend intensiv bekämpft werden.
Zusammenfassung
Das Verständnis von Geschlechterunterschieden, die bei kardiovaskulären Erkrankungen relativ vielfältig auftreten, sollte dazu beitragen Therapien zielgruppenspezifischer zu machen und damit die Therapie insgesamt patientenfreundlicher und sicherer. ▄
DOI: 10.3238/PersKardio.2015.03.20.03
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Vera Regitz-Zagrosek
für die EUGenMed Cardiovascular Clinical Study Group
Sabine Oertelt-Prigione, Eva Bossano-Prescott, Flavia Franconi,
Eva Gerdts, Anna Foryst Ludwig, Angela Maas,
Alexandra Kautzky-Willer, Dorit Knappe, Ulrich Kintscher,
Karl Heinz Ladwig, Karin Schenck-Gustafsson, Verena Stangl
Interessenkonflikt: Die Autorin hat Vortragshonorare erhalten von
Daiichi Sankyo, MSD, Pfizer
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1215
1. | Oertelt-Prigione S, Regitz-Zagrosek V. Sex and Gender Aspects in Clinical Medicine. 2011: 201. |
2. | Puymirat E, Simon T, Steg PG, et al.: Association of changes in clinical characteristics and management with improvement in survival among patients with ST-elevation myocardial infarction. JAMA. 2012; 308: 998–1006 CrossRef MEDLINE |
3. | Xu X, Krumholz HM: Sex Differences in Perceived Stress and Early Recovery in Young and Middle-Aged Patients with Acute Myocardial Infarction. Circulation 2015; in press CrossRef |
4. | Donahue RP, Rejman K, Rafalson LB, et al.: Sex differences in endothelial function markers before conversion to pre-diabetes: does the clock start ticking earlier among women? The Western New York Study. Diabetes care 2007; 30: 354–9 CrossRef MEDLINE |
5. | Authors/Task Force M, Ryden L, Grant PJ, et al.: ESC Guidelines on diabetes, pre-diabetes, and cardiovascular diseases develop-ed in collaboration with the EASD: the Task Force on diabetes, pre-diabetes, and cardiovascular diseases of the European Society of Cardiology (ESC) and developed in collaboration with the European Association for the Study of Diabetes (EASD). European heart journal. 2013; 34: 3035–87 CrossRef MEDLINE |
6. | Task Force M, Montalescot G, Sechtem U, et al.: 2013 ESC guidelines on the management of stable coronary artery disease: the Task Force on the management of stable coronary artery disease of the European Society of Cardiology. European heart journal 2013; 34: 2949–3003 CrossRef MEDLINE |
7. | Cleland JG, Swedberg K, Follath F, et al.: The EuroHeart Failure survey programme–a survey on the quality of care among patients with heart failure in Europe. Part 1: patient characteristics and diagnosis. European heart journal. 2003; 24: 442–63 CrossRef |
8. | Rathore SS, Wang Y, Krumholz HM. Sex-based differences in the effect of digoxin for the treatment of heart failure. N Engl J Med. 2002; 347: 1403–11 CrossRef MEDLINE |
9. | Bristow MR, Saxon LA, Boehmer J, et al.: Cardiac-resynchronization therapy with or without an implantable defibrillator in advanced chronic heart failure. N Engl J Med 2004; 350: 2140–50 CrossRef MEDLINE |
10. | Moss AJ, Hall WJ, Cannom DS, et al.: Cardiac-resynchronization therapy for the prevention of heart-failure events. N Engl J Med 2009; 361: 1329–38 CrossRef MEDLINE |
11. | Arshad A, Moss AJ, Foster E, et al.: Cardiac resynchronization therapy is more effective in women than in men: the MADIT-CRT (Multicenter Automatic Defibrillator Implantation Trial with Cardiac Resynchronization Therapy) trial. Journal of the American College of Cardiology 2011; 57: 813–20 CrossRef MEDLINE |
12. | Cheng YJ, Zhang J, Li WJ, et al.: More favorable response to cardiac resynchronization therapy in women than in men. Circulation. Arrhythmia and electrophysiology 2014; 7: 807–15 CrossRef MEDLINE |
13. | Zusterzeel R, Selzman KA, Sanders WE, et al.: Cardiac resynchronization therapy in women: US Food and Drug Administration meta-analysis of patient-level data. JAMA internal medicine 2014; 174: 1340–8 CrossRefMEDLINE < /td> |
14. | Regitz-Zagrosek V, Petrov G, Lehmkuhl E, et al.: Heart transplantation in women with dilated cardiomyopathy. Transplantation 2010; 89: 236–44 CrossRef MEDLINE |
15. | Weymann A, Patil NP, Sabashnikov A, et al.: Gender differences in continuous-flow left ventricular assist device therapy as a bridge to Transplantation: A risk-adjusted comparison using a propensity score-matching analysis. Artificial organs 2014 CrossRef |