ArchivDeutsches Ärzteblatt13/2015Kasuistik: Schwere Depression mit initialem Suizidwunsch

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Kasuistik: Schwere Depression mit initialem Suizidwunsch

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Ein bisher gesunder Patient äußert nach Erstdiagnose einer Parkinsonerkrankung einen dringenden Todeswunsch und die Absicht, Suizid zu begehen.

Ein 55-jähriger Patient stellt sich in Begleitung seiner Ehefrau und seiner erwachsenen Tochter in der psychiatrischen Universitätsklinik vor. Bei dem bis dahin gesunden Gymnasiallehrer wurde vor drei Monaten beim niedergelassenen Neurologen eine Parkinsonerkrankung diagnostiziert, eine medikamentöse Therapie wurde eingeleitet. Die Angehörigen beschreiben einen sozialen Rückzug und seit zwei Monaten eine fast vollständige Vernachlässigung früherer Interessen. Der Patient sagt, dass er eigentlich nicht wisse, warum ihn seine Familie in die Klinik bringe, er habe noch nie psychische Probleme gehabt. Er habe sich im Internet gut informiert und sei zu der Entscheidung gekommen, das unweigerliche Siechtum einer Parkinsonerkrankung mit baldiger vollkommener Hilflosigkeit nicht erleben zu wollen. Auch sein Gedächtnis habe nachgelassen, er bekomme sicher auch eine Demenz und habe Kontakt zu einer Sterbehilfeorganisation in der Schweiz aufgenommen, was seine Familie jedoch bemerkt habe. Er verstehe nicht, warum man seine Entscheidung nicht respektieren wolle, er würde ja auch seine Familie mit dieser Entscheidung entlasten. Sehr widerwillig erklärte sich der Patient auf Drängen seiner Familie zu einer stationären psychiatrischen Behandlung bereit, obwohl er darin keinen Sinn sehe. Im Aufnahmebefund imponierte eine ausgeprägte depressive Symptomatik mit wahnhafter Überzeugung einer unmittelbar bevorstehenden Hilfs- und Pflegebedürftigkeit durch die Parkinsonerkrankung. Nach dem Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung gelingt es, seine Einwilligung in eine antidepressive Behandlung zu erreichen; im Verlauf einer sechswöchigen pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlung zeigte sich eine vollständige Remission der depressiven Symptome. Die überwertigen gesundheitlichen Sorgen relativierten sich und weichen einer angemessenen Einschätzung. Die Parkinsonsymptome zeigten sich unter der spezifischen Behandlung deutlich gebessert, die vielfältigen neurologischen Behandlungsmöglichkeiten könnten nun wahrgenommen und als hilfreich erlebt werden.

Fragestellung

Bei Vorliegen einer schweren somatischen Erkrankung werden häufig Todeswünsche geäußert. Dies ist für die behandelnden Ärzte belastend und wirft zunächst die Frage auf, ob dieser Todeswunsch Symptom einer komorbiden Depression ist. Auch ohne psychische Erkrankung können Todeswünsche auftreten; sie entstehen dabei nicht selten durch erlebten äußeren Druck, zum Beispiel der Sorge, anderen zur Last zu fallen. Sollte der Arzt diesen Todeswunsch einfach akzeptieren? Besteht bei Patienten der Wunsch zu sterben oder ein Suzidwunsch, muss immer das Vorliegen einer möglichen psychischen Erkrankung wie zum Beispiel eine schwere Depression durch eine gründliche Untersuchung abgeklärt werden, die dann auch erfolgreich behandelt werden kann. Nicht selten wird durch eine Depression die Bewertung einer somatischen Erkrankung dramatisch verändert; das führt zu gefährlichen Schlussfolgerungen, die sich durch eine adäquate Behandlung auflösen.

Kommentar

Besteht bei Patienten der Wunsch zu sterben oder ein Suizidwunsch, so muss auch bei Vorliegen einer schweren somatischen Erkrankung zunächst immer eine psychische Erkrankung wie zum Beispiel eine schwere Depression bedacht und fachkundig abgeklärt werden. Deren typischen Symptome rücken dabei häufig in den Hintergrund und müssen aktiv erfragt werden. Andererseits können auch bei psychisch gesunden Patienten mit schwerer unheilbarer Erkrankung Todeswunsch und Lebenswille nahezu gleichzeitig vorhanden sein und bedeutet häufig „ich will leben, aber nicht so“. Auch hier können regelmäßige vertrauensvolle Gespräche helfen und den Sterbewunsch in den Hintergrund treten lassen. Äußert ein Patient einen Sterbe- bzw. Suizidwunsch, so sollte im Rahmen einer offenen und respektvollen Kommunikation mit dem Patienten und den Angehörigen über den Todeswunsch, die Motivationen, Bedürfnisse und Ängste des Patienten gesprochen werden. Dabei sollten dem Patienten und seinen Angehörigen konkrete Entlastungsmöglichkeiten im häuslichen beziehungsweise im stationären Umfeld aufgezeigt werden. Bei einem Suizidwunsch aufgrund existenzieller innerer Not sollte dem Patienten zusätzliche Unterstützung angeboten werden, zum Beispiel mittels (Krisen-)Intervention und längerfristiger, zeitnaher und zeitdichter Gespräche durch Psychologen/Psychotherapeuten, Psychiater, Seelsorger, Sozialarbeiter oder andere Therapeuten. Bei Vorliegen einer komorbiden Depression ist immer die Motivation zu und die rasche Vermittlung einer notwendigen psychiatrischen das heißt kombiniert pharmakologischen und psychotherapeutischen Behandlung geboten.

Expertenteam: Dr. med. Petra Broich, Prof. Dr.
jur. Volker Lipp, Prof. Dr. med. Wolfgang Maier, Prof. Dr. med. Friedemann Nauck, Prof. Dr. med. Thomas Eduard Schläpfer, Prof. Dr. phil. Alfred Simon, Dr. med. Martina Wenker

1.Flüchter P, Müller V, Pajonk F-GB (2012) Suizidalität: Procedere im Notfall. Med Klin Intensivmed Notfmed; 107: 469–75. CrossRef MEDLINE

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