

Der Haka, ein Ritual der neuseeländischen Ureinwohner, ist inzwischen ein fester Teil der Willkommens- zeremonie für Gäste in Neuseeland. Die Maori bilden heute nur 15 Prozent der Bevölkerung. Ihre Kultur, die Natur und die freundlichen Menschen lockten Charlott Harms ans andere Ende der Welt.
14. Teil: Neuseeland
Zwei Wochen Famulatur in einem neuseeländischen Krankenhaus – mehr hat es nicht gebraucht, um Charlott Harms für das Land zu begeistern. „Nach diesen wenigen Tagen wusste ich sofort: Ich komme wieder“, erinnert sie sich. Und das tat sie. Nach der Famulatur in 2012 setzte sich die Lübecker Medizinstudentin Ende des vergangenen Jahres noch einmal für 36 Stunden in den Flieger. Diesmal absolvierte sie ein Tertial des praktischen Jahres (PJ) in Neuseelands Hauptstadt Wellington. Harms wusste ja schließlich, dass sich die lange Reise lohnt: Sonne satt, chillen an traumhaften Stränden, Wandern und Kajak fahren in grandioser Natur sowie Einblicke in die traditionellen Bräuche der Ureinwohner Neuseelands, der Maori. Und natürlich: Integration in die medizinische Versorgung in Neuseeland.
Die 25-Jährige arbeitete während des Aufenthalts in der plastischen Chirurgie am Hutt Hospital in der neuseeländischen Hauptstadt Wellington. Der Arbeitstag startete um sieben Uhr. Auf dem Programm standen zunächst ausgiebige Teachings. Das heißt: Assistenzärzte und Oberärzte stellten interessante Patientenfälle vor und diskutierten darüber mit den anwesenden Kollegen. Dabei kamen praxisnahe Fragen auf den Tisch: Welches Pflaster wird genutzt? Wie ist die OP-Naht zu bewerten?
Danach ging es immer zur Visite an die Betten der Patienten, doch das wirkliche Highlight des Tages folgte danach: der Besuch im OP-Saal. Die Deutsche hatte die Freiheit, selbst zu entscheiden, was sie machen wollte. Im Klartext heißt das: Harms konnte bei allen Operationen dabei sein, die sie interessierten. „Ich habe diese Freiheit intensiv genutzt und stand jeden Tag im OP.“ Sonne und Meer mussten warten, und zwar aus gutem Grund. Denn die Studentin aus Deutschland war bei den Eingriffen weit mehr als nur Beobachterin.
Harms Erfahrungen in den neuseeländischen OP-Sälen waren intensiv. „Ich durfte mich nicht nur einwaschen, sondern sofort mit an den Tisch. Selbst nähen, Spalthaut entnehmen, Transplantate einnähen, sogar eigenständig Hauttumoren herausschneiden, alles durfte ich machen“, berichtet sie. Es war stets ein Assistenzarzt an ihrer Seite, doch das Kommando am Tisch hatte Harms selbst. „Ich musste der OP-Schwester sagen, was ich brauche und dann hat sie es gemacht. Da habe ich mich schon wie eine kleine Chirurgin gefühlt.“
Die Bandbreite, die sie dabei erlebt hat, war enorm: Neben dem Nähen und Schneiden waren das Platten herausdrehen oder einschrauben, Brüche fixieren, Knochen für Prothesen absägen. Es sind Einblicke und Erfahrungen, die Harms in diesem Stadium ihres Studiums in Deutschland nie hätte machen können. Noch dazu sind Technik und Ausstattung in Wellington auf höchstem Niveau, auch das machte das Arbeiten besonders. „In alle OP-Lampen sind Kameras integriert. Dadurch können interessierte Studenten die Eingriffe an Bildschirmen im OP gut mitverfolgen.“ Der Weg des Patienten durch die Chirurgie wird in Wellington digital nachverfolgt. Auf Bildschirmen, die im OP-Trakt angebracht sind, können die Mediziner sehen, wo ein Patient gerade ist – beispielsweise ob noch in der Aufnahme oder bereits im Vor-OP-Saal.
Nicht nur das Medizinische, auch das Drumherum des neuseeländischen Krankenhausalltages hat bei Harms viele Eindrücke hinterlassen. Zum Beispiel mit Blick auf die Zusammenarbeit von Ärzten und Schwestern. Die lockere, unkomplizierte Mentalität, für die Neuseeland und seine Menschen bekannt sind, macht auch vor den Klinikmauern nicht halt. Der Umgang untereinander ist entspannt. „Es herrschte eine sehr gute Arbeitsatmosphäre. Die Hierarchien sind sehr flach, alle sind kollegial und hilfsbereit. Das macht das Arbeiten sehr angenehm“, sagt Harms. Ärzte, Schwestern und Putzfrauen – alle träfen sich auf Augenhöhe. Das Verhältnis der Mediziner sei so gut, dass man sich auch nach Dienstschluss gerne noch zusammentue. „Viele Ärzte sind untereinander befreundet. Man unternimmt gerne was gemeinsam.“ Vielleicht auch deshalb ist die Arbeitszufriedenheit der Ärzte in Neuseeland hoch. „Alle haben einen sehr zufriedenen Eindruck gemacht. Man hört wenig Beschwerden.“
Dabei gäbe es doch zumindest einen Grund, weshalb die Stimmung durchaus weniger entspannt sein könnte: ein hoher Konkurrenzkampf untereinander. In der plastischen Chirurgie in Wellington beispielsweise werden nur einmal im Jahr vier Mediziner für ein Trainingsprogramm (Facharztweiterbildung) aufgenommen. Mehr als 40 bewerben sich darauf. Eine Chance hat nur, wer beste Referenzen aufweisen kann. „In Deutschland wissen wir, dass wir alle einen Job bekommen werden, weil der Bedarf da ist. In Neuseeland werden bei weitem nicht so viele Ärzte benötigt. Und selbst in der Assistenzarztzeit geht es immer auch darum, einen besonders guten Eindruck in den Kliniken zu hinterlassen.“
Es gibt – aus deutscher Sicht – ein weiteres Manko im System. Das Medizinstudium in Neuseeland ist sehr teuer. „Die Medizinstudierenden nehmen hohe Kredite auf, die sie teils jahrelang abarbeiten müssen“, weiß Harms. Und: Wer sich für den Weg des Medizinstudiums entschieden hat, muss einiges auf sich nehmen. Denn für das Trainingsprogramm werden die Assistenzärzte in ein Rotationssystem gesteckt, das es in sich hat. Für ihre Arbeitseinsätze werden sie quer durch das ganze Land geschickt, sind nie länger als ein Jahr an einem Ort. Und das für sechs Jahre. Was das in der Praxis heißt, hat Harms in Wellington mitbekommen. „Von einem auf den anderen Tag waren alle Assistenzärzte weg und es gab ein komplett neues Team auf der Station. Ich könnte mir das für mich nicht vorstellen, aber für die neuseeländischen Assistenzärzte ist es o.k., sie kennen es nicht anders.“
An der Versorgung der Patienten gibt es in Neuseeland auf den ersten Blick wenig zu mosern. „Neuseeland hat eine sehr gute Qualität in der Versorgung. Es wird viel geleistet“, urteilt Harms. Doch auf den zweiten Blick, „wenn man genau hinsieht und auch mal gezielt nachfragt“, offenbart das Gesundheitswesen auch weniger gute Seiten: So weiß Harms, dass viele Assistenzärzte – und junge Neuseeländer generell – keine Krankenversicherung haben. Warum nicht? Das ist leicht erklärt. In Neuseeland kommt der Staat für die notwendige medizinische Versorgung auf. Erkrankt ein Patient etwa an Blutkrebs und benötigt eine Chemotherapie, zahlt dies der Staat. In weniger dringlichen Fällen werden die Behandlungen aus eigener Tasche beglichen oder durch private Zusatzversicherungen aufgefangen. Doch viele Junge sparen das Geld für eine solche Versicherung.
Den Versicherungsstatus ihrer Gesprächspartner konnte die Deutsche irgendwann auf einen Blick abschätzen: nämlich den Blick in den Mund. Denn, die staatliche Krankenversorgung deckt beispielsweise keine Zahnarztbesuche ab. „Viele junge Menschen haben einen schlechten Zahnstatus. Zahnlücken sind sehr häufig.“ Harms hat ein besonderes Auge dafür, was im Mund los ist. Sie plant, auf ihr Medizinstudium noch ein Zahnmedizinstudium draufzusetzen, um Mund-Kiefer-Gesichtschirurgin zu werden.
Noch etwas ist anders: Wie dringlich ein Eingriff ist, schätzt in Neuseeland der Arzt ein, auch die Krankenhausverwaltung hat dabei ein Wort mitzureden. Es gibt ein Punktesystem, nach dem Fälle eingestuft werden. Das Resultat: „Auf eine Hüft-OP können neuseeländische Patienten schon gut sechs Monate warten“, berichtet die Studentin. Selbst ein Hautkrebs würde nur dann sofort behandelt, wenn hohe Dringlichkeit erforderlich sei.
Auch auf Termine müssen die Patienten sehr lange warten. Harms erinnert sich an einen Fall, bei dem sich eine Patientin mit einem riesigen Tumor am Kinn vorgestellt hat. Auf die Frage, warum sie so lange gewartet hätte, antwortete diese: „Ich habe keinen früheren Termin bekommen.“ Zu beurteilen, welches System das bessere sei, das deutsche oder das neuseeländische, vermag die Studentin nicht zu sagen. „Jedes System offenbart seine Schwierigkeiten, wenn man es hinterfragt.“
Doch grundsätzlich überwogen im Krankenhausalltag zweifellos die positiven Eindrücke. Auch das Verhältnis der Ärzte zu den Patienten gehört auf diese Positivliste. Die Entspanntheit der Neuseeländer spiegelt sich selbst darin wider. „Ärzte und Patienten reden wie Freunde miteinander. Am Krankenbett wird gefragt, wie es der Katze geht oder was die Kinder so machen. Es ist alles nicht so gehetzt wie bei uns, wo für das Zwischenmenschliche nicht wirklich viel Zeit ist.“ In Neuseeland sei es wichtig, dass sich die Patienten wohlfühlen.
Sich wohlzufühlen ist in Neuseeland offensichtlich nicht schwer – noch nicht einmal im Krankenhaus, und erst recht nicht außerhalb der Klinikmauern. Nach Dienstschluss um 17 Uhr genoss Harms das unkomplizierte Leben in Neuseeland in vollen Zügen. Und sie weiß schon jetzt: Ihr jüngster Neuseeland-Aufenthalt war noch immer nicht der letzte. ■
@Bisher in dieser Reihe erschienen: USA, Skandinavien, Schweiz, Großbritannien, Österreich, Thailand, Spanien, Indien, Frankreich, Kuba, Ungarn, Italien, Polen unter:
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