POLITIK
Forschung an Nichteinwilligungsfähigen: Ethische und juristische Argumente


Reichen die Schutzvorschriften in der EU-Verordnung für klinische Prüfungen aus, oder sollte Deutschland bei seinen strengeren Regeln bleiben?
Die EU-Verordnung über klinische Studien, die im vergangenen Jahr von der Europäischen Union beschlossen wurde, gestattet unter bestimmten Voraussetzungen die gruppennützige Forschung mit nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen. „Solche Studien sind bisher in Deutschland nach dem Arzneimittelgesetz nicht zulässig. Allerdings billigt Artikel 31 Absatz 2 der EU-Verordnung den Mitgliedstaaten das Recht zu, auch weiterhin strengere Maßstäbe anzulegen,“ sagte Prof. Dr. med. Joerg Hasford, Vorsitzender des Arbeitskreises medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, zu Beginn der diesjährigen Sommertagung Mitte Juni in Berlin.
„Glasklare Regelungen“
Noch sei nicht sicher, ob der Gesetzgeber von dieser Option Gebrauch machen wolle. Man habe sich daher entschieden, mit dem Schwerpunktthema „zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, auch unserer eigenen, beizutragen“. Und die Meinungen waren durchaus konträr. So lehnt Prof. Dr. med. Jeanne Nicklas-Faust solche gruppennützige Forschung im Grunde ab. Bereits eine Verfügung des preußischen Kultusministers aus dem Jahr 1900 bestimmte, dass medizinische Forschung nur an geschäftsfähigen Personen nach informierter Einwilligung vorgenommen werde dürfe. Auch der Nürnberger Kodex aus dem Jahr 1947 habe unzweideutig die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson gefordert, ergänzte die Bundesgeschäftsführerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Der Weltärztebund sei zwar „nicht zu so glasklaren Regelungen“ wie der preußische Kultusminister oder der Nürnberger Kodex gekommen, dennoch enthalte die Deklaration von Helsinki zahlreiche Schutzvorschriften für Nichteinwilligungsfähige.
Die 2008 in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention gehe allerdings über diese Schutzvorschriften hinaus. Sie fordert in Artikel 15, dass niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden dürfe. Fremdnütziger und auch gruppennütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Erwachsenen fehlt deshalb Nicklas-Faust zufolge jegliche rechtliche Grundlage. Nicklas-Faust räumt allerdings ein: „Eine systematische Vermeidung solcher Forschung ist wahrscheinlich nicht durchsetzbar, es sollten aber zumindest alle Schutzmöglichkeiten ausgeschöpft werden.“
Einwilligung nach Aufklärung
Prof. Dr. jur. Ralf Müller-Terpitz, Mannheim, sieht den grundrechtlich geforderten Schutzstandard durch die EU-Verordnung als gegeben an. Darin wird unter anderem die Einwilligung nach Aufklärung durch einen gesetzlichen Vertreter gefordert. Außerdem müsse die Teilnahme an der klinischen Prüfung „einen direkten Nutzen für den nicht einwilligungsfähigen Teilnehmer zur Folge haben, der die Risiken und Belastungen überwiegt“ oder einen Nutzen für die Gruppe, der der Nichteinwilligungsfähige angehört, wobei dieser nur „einem minimalen Risiko und einer minimalen Belastung“ ausgesetzt sein dürfe. Zudem müsse die klinische Prüfung im Hinblick auf nichteinwilligungsfähige Prüfungsteilnehmer unerlässlich sein.
Müller-Terpitz empfiehlt der Bundesregierung, nicht auf eine strengere nationale Regelung zu bestehen. Denn er befürchtet, dass solche Studien ansonsten einfach in einem anderen Land des europäischen Wirtschaftsraums durchgeführt werden, auf das ein Ausweichen mit der einheitlichen Genehmigung nach der EU-Verordnung zeit- und kostensparender möglich sei. Auch Prof. Dr. phil. Ludwig Siep, Münster, hält die Schutzvorschriften in der EU-Verordnung für akzeptabel. Und er hält diese auch für vereinbar mit der seiner Ansicht nach wertepluralistischen Basis des Grundgesetzes. Allerdings forderte er nachdrücklich: „Die Auswahl von Patienten für solche klinischen Prüfungen muss so weit wie möglich an deren mutmaßliche Einwilligung heranrücken.“
Gisela Klinkhammer