ArchivDeutsches Ärzteblatt31-32/2015Medizinische Versorgung: Systemmedizin – Herausforderungen eines aktuellen Ansatzes

THEMEN DER ZEIT

Medizinische Versorgung: Systemmedizin – Herausforderungen eines aktuellen Ansatzes

Erdmann, Pia; Fischer, Tobias; Raths, Susan; Fleßa, Steffen; Langanke, Martin

Als E-Mail versenden...
Auf facebook teilen...
Twittern...
Drucken...
LNSLNS

Die Thematisierung ethischer und ökonomischer Herausforderungen, die mit der Translation systemmedizinischer Ansätze in die Versorgung einhergehen, ist keineswegs neu.

Foto: Fotolia/everythingpossible
Foto: Fotolia/everythingpossible

Ein neues Zauberwort prägt die aktuellen Debatten um die Gesundheitsversorgung der Zukunft: „Systemmedizin“. Damit werden zum einen grundlagentheoretische Ansätze bezeichnet, die darauf zielen, die biologischen Mechanismen der Krankheitsentstehung unter Nutzung von Methoden aus „omics“-Forschung, Systembiologie, Informatik und Netzwerktheorie besser zu verstehen. Diese verorten sich zum Teil explizit in der Nachfolge der personalisierten oder individualisierten Medizin (1, 2, 3, 4, 5, 6). Zum anderen vermarkten sich auch stärker anwendungsorientierte, „translationale“ Konzepte als Systemmedizin; damit sollen Klinikprozesse unter Nutzung medizininformatischer Tools nachhaltiger und patientenzentrierter gestaltet oder Behandlungsdaten für die wissenschaftliche Auswertung zugänglich gemacht werden (7, 8, 9). Allen diesen Ansätzen gemeinsam ist letztlich eine besonders starke Fokussierung auf den Einsatz informationstechnologischer Werkzeuge für medizinische Zwecke. Dabei reicht das Spektrum von hoch anspruchsvollen biomathematischen Modellierungsinstrumenten über hypothesenfreie „Big-Data“-Ansätze bis hin zur IT-Unterstützung von Workflows in Forschung und Klinik.

  • Von der Entwicklung bioinformatischer Modelle erhofft man sich, pathologische Prozesse und die dahinter stehenden Mechanismen am Computer simulieren und so gezielt Interventionsoptionen nicht-invasiv auf ihre Effektivität hin prüfen zu können (4, 5). Voraussetzung dafür ist ein kausales Verständnis der jeweils relevanten pathogenen Zusammenhänge. Entsprechend arbeiten Forschergruppen, die sich diesem Strang der Systemmedizin zuordnen, an der Aufklärung von Signalwegen und molekularen pathways zwischen Genom und Krankheits-Phänotyp (10). An dieser Stelle verzahnen sich systemmedizinische Forschungsanliegen häufig mit Fragestellungen, die in den letzten Jahren auch unter den Schlagworten der personalisierten oder individualisierten Medizin verfolgt wurden.
  • Wurden schon im Rahmen der personalisierten Medizin zum Zweck der Biomarker-Bestimmung große (klinisch-)epidemiologische Studien wie GANI_MED durchgeführt (11, 12), so stößt die Assoziationsforschung im Bereich der Systemmedizin in eine neue wissenschaftstheoretische Dimension vor. Denn mit „Big Data“ wird der innermedizinisch etablierten Vorgehensweise, falsifizierbar formulierte Hypothesen experimentell zu überprüfen, ein rein auf statistische Assoziationen medizinisch relevanter Merkmale abstellender und damit wesentlich probabilistischer Ansatz methodisch vorangestellt (13). Die kausale Überprüfung erfolgt der „Big-Data“-Methodologie zufolge erst im Nachgang zur Identifikation von statistisch signifikanten Zusammenhängen (13, 14). Zur Generierung einer ausreichend starken Power sind dabei häufig sehr große Datenmengen („n = alles“) aus verschiedensten Quellen erforderlich. Diesen Umstand reflektiert der Ausdruck „Big-Data“-Medizin.
  • Eine besonders große Anwendungsnähe zeichnet die medizininformatischen Varianten der Systemmedizin aus, da sie konkrete Arbeitsprozesse in der Versorgung oder Forschung im Blick haben und zu optimieren versuchen. Insbesondere steht das systematische und elektronische Verfügbarmachen von Behandlungsdaten für Ärzte beziehungsweise Forscher, aber auch für Patienten selbst im Fokus entsprechender Bemühungen. Ziel ist es unter anderem, ein langzeitstabiles elektronisches „Gedächtnis“ für relevante Informationen so zu schaffen, dass zum Beispiel Komorbiditäten wesentlich gezielter als bisher in das Behandlungsregime einbezogen oder erforscht werden können (7, 8).

Ein gemeinsames Label für verschiedene Konzepte

Diese kurze Übersicht über die verschiedenen Spielarten der Systemmedizin sollte erkennen lassen, dass es sich dabei nicht um einen homogenen Ansatz handelt, sondern um ein typologisches „Feld“ methodologisch disparater Konzepte, das durch das Thema „IT und Datenmanagement“ zusammengehalten wird. Entsprechend erscheint es wenig zielführend, pauschal ethische oder ökonomische Fragen nach Chancen und Risiken der Systemmedizin aufzuwerfen. Deshalb fokussiert dieser Beitrag auf ethisch und gesundheitsökonomisch relevante Aspekte des „Big-Data“-Ansatzes sowie auf medizininformatisch getriebene Aktivitäten im Bereich der IT-Unterstützung und Optimierung von Behandlungsprozessen in der Klinik. Diese Gebiete können heute schon mit ersten pilothaften Applikationen und praktischen Erfahrungen aufwarten, so dass man mehr als nur Mutmaßungen über künftige Möglichkeiten der Systemmedizin liefern kann.

Die für den „Big-Data“-Ansatz charakteristische Methode, hypothesenfrei Informationen über Patienten aus verschiedensten Quellen miteinander statistisch zu verknüpfen, ist bisweilen schon ausreichend, um Scores zur Prädiktion behandlungsrelevanter klinischer Events zu konstruieren (13, 14). Vorausgesetzt nämlich, dass der Zusammenhang zwischen den erfassten Merkmalen und dem jeweils interessierenden Outcome statistisch hinreichend stark ist, sind (mehr oder weniger) verlässliche Vorhersagen zum Beispiel über Krankheitsverläufe möglich, die wiederum Entscheidungen im Rahmen des Behandlungsregimes stützen könnten. Was sich vor diesem Hintergrund abzeichnet, ist der Einsatz von systemmedizinisch optimierten, statistisch unterbauten Therapieentscheidungstools und Scoring-Systemen in der Versorgung.

Aus ethischer Perspektive verbinden sich mit dem Einsatz solcher Tools jedoch Fragen nach ihrer normativen Wirkung, ihrer Nutzung zur Ableitung von Prognosen sowie ihrer Zulässigkeit als Mittel zum Zweck der Risikoprädiktion.

Um dies zu verstehen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass da, wo ein prognostischer Score einmal im Einsatz ist, dieser Score Werte liefert, die Wirklichkeit in dem Sinn „schaffen“, dass sie nicht nur als potenziell entscheidungsrelevant und nutzbar „im Raum stehen“, sondern dass der behandelnde Arzt sich ihnen gegenüber – wie auch immer – letztlich verhalten muss.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, wofür und in welchem Umfang systemmedizinisch fundierte „Big-Data“-Scores eigentlich klinisch genutzt werden dürfen. Sollen auch so gravierende Entscheidungen wie die über eine Therapiezieländerung oder einen Therapieabbruch an vorwiegend statistische Aussagen über Chancen und Risiken von Patienten gebunden werden? Die Diskussion darüber bleibt unvollständig, solange die Patientenseite ausgeklammert wird. Denn gemäß den Vorgaben der evidenzbasierten Medizin sind immer auch Patientenwünsche und -präferenzen ins Behandlungsregime einzubeziehen (15). Wie aber ist dies noch möglich, wenn systemmedizinisch generierte Scores gar nicht den Einzelfall berücksichtigen können? Es stellt sich also ganz praktisch die Frage, an welcher Stelle im Entscheidungsprozess individuelle Werthaltungen, Lebensvorstellungen und Willensbekundungen von Patienten im Rahmen einer künftigen Systemmedizin wirksam werden können und sollen. Eine Systemmedizin, die routinemäßig die Möglichkeiten probabilistischer Scores nutzt, bleibt also, so könnte man zusammenfassend sagen, nicht ohne Auswirkungen auf die Arzt-Patienten-Beziehung.

Zusatz- und Nebenbefunde in der Systemmedizin

Das Label „Systemmedizin“ dient, wie oben herausgearbeitet wurde, auch zur Etikettierung von medizininformatischen Ansätzen. Dazu zählen Ansätze, die auf die Etablierung einer elektronischen Patientenakte zielen, eines elektronischen Gedächtnisses mithin, das die systematische Berücksichtigung der Krankheitsgeschichte eines Patienten und seiner Komorbiditäten im Behandlungsregime sowie deren Zugänglichkeit für die medizinische Forschung erlauben beziehungsweise sicherstellen soll.

Setzt man nun voraus, dass die Systemmedizin eine medizininformatische Anreicherung der im Behandlungskontext zur Verfügung stehenden Patientendaten mit sich bringt und diese Daten aufgrund des wachsenden Wissens um dia-gnostisch und therapeutisch relevante Merkmalsverknüpfungen auch immer „zusatzbefund-trächtiger“ werden, ist im Zuge der Translation der Systemmedizin in die Versorgung mit einem signifikanten Anstieg sogenannter Zusatz- und Nebenbefunde (16, 17) zu rechnen.

Trifft dies zu, so besteht ethischer Klärungsbedarf unter anderem im Hinblick auf folgende normative Fragestellungen:

  • Wer entscheidet über die Mitteilungsbedürftigkeit, und welche Befunde sollen gegebenenfalls mitgeteilt werden?
  • Wie sollen im Rahmen einer „Big-Data“-Medizin Zusatz- und Nebenbefunde mitgeteilt werden?
  • Wie können Zusatz- und Nebenbefunde im Behandlungskontext verantwortbar priorisiert werden (Mengenproblem)?

In welche Richtung die mit diesen Fragen bezeichneten Probleme gehen, zeigt sich gegenwärtig unter anderem im Kontext humangenetischer Untersuchungen (18, 19). Schon allein die Beratung im Vorfeld solcher Untersuchungen gestaltet sich schwierig, muss die betroffene Person doch nicht nur darüber informiert werden, a) welche zusätzlichen genetischen Varianten abseits der eigentlich verfolgten Fragestellung zutage treten könnten, sondern auch dahingehend, dass diese Informationen b) verschieden relevant und c) hinsichtlich ihrer prädiktiven oder prognostischen Aussagekraft unterschiedlich sicher sein können. Während zumindest für die Ausgestaltung des genetischen Beratungsprozesses hierzulande einige nicht unterschreitbare gesetzliche Standards etabliert sind, stellt sich der praktische Umgang mit Zusatz- und Nebenbefunden gegenwärtig noch immer sehr uneinheitlich dar.

Systemmedizin – kein homogener Ansatz, sondern disparate Konzepte
Grafik
Systemmedizin – kein homogener Ansatz, sondern disparate Konzepte

Ökonomische Herausforderungen

Aus ökonomischer Sicht soll die Systemmedizin zu einer verbesserten und kosteneffektiven Gesundheitsversorgung beitragen. Systemmedizinische Ansätze zeigen in ersten Studien einen positiven Effekt auf die Patientenmorbidität (20). Sie führen zu einheitlichen, auf Richtlinien und Empfehlungen basierenden Behandlungsstrategien, die durch die Vermeidung redundanter Untersuchungen auch zu reduzierten Fallkosten führen können (21). Um hinreichend genaue statistische Aussagen zu treffen, ist jedoch ein größerer Stichprobenumfang notwendig, wobei die Signifikanz mit dem Stichprobenumfang steigt.

Zusätzliche Daten, wie sie die Systemmedizin medizinisch nutzen möchte, müssen erhoben, verarbeitet und gespeichert werden, was jeweils Kosten für den Leistungsanbieter impliziert, denen nur bedingt Erlöse entgegenstehen. Im ambulanten Bereich werden Einzelleistungen über den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) oder die Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) abgerechnet. Sofern für die systematische Erfassung, Auswertung oder Übermittlung zusätzlicher Daten keine Abrechnungsziffern existieren, gibt es unter sonst gleichen Bedingungen auch keinen einzelwirtschaftlichen Anreiz zur Anwendung der Systemmedizin. Neben zusätzlicher Zeit und erhöhtem Aufwand für die Datenpflege würden voraussichtlich auch Investitionskosten für entsprechende Software anfallen, die derzeit von keiner EBM- oder GOÄ-Ziffer gedeckt werden.

Im stationären Sektor werden Patientenfälle über die Diagnosis Related Groups (DRGs) abgerechnet, das heißt, alle im Rahmen der Behandlung durchgeführten Leistungen werden über eine Fallpauschale refinanziert. Sie deckt die Kosten für die Behandlung eines durchschnittlichen Falles dieser Fallgruppe. Entstehen nun zusätzliche Kosten bei der Umsetzung einer systemmedizinischen Herangehensweise (zum Beispiel zusätzliche Diagnostik, IT-Infrastruktur, gegebenenfalls kostenpflichtige Datenbankzugriffe), verringert sich der Gewinn beziehungsweise erhöht sich der Verlust um diese zusätzlichen Ausgaben, sofern diese nicht durch andere Effekte (zum Beispiel Patientenoutcome, Verweildauerverkürzung, Reputation) aufgewogen werden. Derzeit gibt es aber keine verlässlichen Hinweise auf diese weiteren Effekte, so dass der vorsichtige Krankenhausmanager der Systemmedizin eher skeptisch gegenüberstehen wird.

Zudem dürften Zusatzbefunde nicht unberücksichtigt bleiben. Erlangt ein Arzt die Kenntnis über einen behandlungswürdigen Zusatzbefund, muss er ihn behandeln, andernfalls bestünde ein Haftungsrisiko aufgrund eines Behandlungsfehlers (22). Sie müssen dahingehend untersucht werden, ob sie klinisch relevant sind oder werden.

Kein finanzieller Anreiz für die Umsetzung

Den dabei entstehenden Kosten müssen Erlöse für den Leistungserbringer gegenüberstehen, andernfalls besteht kein finanzieller Anreiz zur Umsetzung. Es besteht sogar die Gefahr, dass ein Zusatzbefund, der ohne Einfluss auf die DRG bleibt, zu einer neuerlichen Hospitalisierung (mit neuer Aufnahmediagnose) führt, da nur so eine Finanzierung der Abklärung von Zusatzbefunden sichergestellt werden kann. Mit großer Wahrscheinlichkeit entstehen dann gesellschaftlich höhere Kosten durch die erneute Krankenhausaufnahme, verglichen mit einem möglichen Zuschlag auf das ursprüngliche Entgelt bei Erstaufnahme.

Die oben beschriebenen Szenarien verdeutlichen, dass die einzelwirtschaftliche Vorteilhaftigkeit für alle Prozessmitglieder (Krankenhaus, Patient, Leistungsträger) eine notwendige Bedingung für die flächendeckende Annahme der Systemmedizin darstellt.

Pathologisierung von Krankheitsdispositionen

Wer sich intensiver mit den medi-zinethischen und -ökonomischen Diskussionen der letzten Jahre auseinandersetzt, wird indes feststellen, dass die Thematisierung ethischer und ökonomischer Herausforderungen, die mit der Translation systemmedizinischer Ansätze in die Versorgung einhergehen, nicht neu ist. So wurde bereits in den späten 1990er Jahren über den Einsatz des „Todescomputers“ RIYADH (23) auf Intensivstationen diskutiert. Auch die Debatte um „Zusatz- und Nebenbefunde“ kann nicht als neu bezeichnet werden. Denn die ethische Dimension des Umgangs mit solchen „nicht-intendierten Befunden“ wurde in den letzten Jahren intensiv im Kontext der Debatten um Ganzkörperbildgebung, Neuro-Imaging und Molekulargenetik diskutiert (16, 17, 18, 19, 24). Für das Feld der Molekulargenetik reichen diese Debatten (Informed Consent, Risikokommunikation, klinische Validität prädiktiver molekularer Marker) hierzulande sogar noch hinter die Diskussionen um die personalisierte oder individualisierte Medizin (11, 12, 25) zurück, insofern sie bereits seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort „Public Health Genetics“ (26) geführt wurden.

Aber selbst wenn man über den eng gesteckten Rahmen von systemmedizinischen Applikationen, die heute bereits translational greifbar sind, hinausgeht, wird man fragen müssen, ob die Systemmedizin völlig neuartige ethische Probleme freisetzt. Nimmt man zum Beispiel denjenigen Strang der Systemmedizin in den Blick, der erklärtermaßen an die Forschungslogik der individualisierten oder personalisierten Medizin anknüpft, indem er sich in das Programm einer „biomarker-basierten prädiktiven Molekularmedizin“ einordnet, so ist etwa das mit Blick auf eine solche Medizin immer wieder diskutierte Szenario einer Pathologisierung von Krankheitsdispositionen (27), aber auch das Thema der „Responsibilization“, das heißt der Zuweisung von gesundheitlicher „Eigenverantwortung“ (28) in Richtung des Einzelnen schon intensiv ethisch bearbeitet worden. Die größten Auswirkungen werden hierzulande derzeit wohl (noch?) durch eine gesellschaftlich mehrheitsfähige „Firewall“ abgefangen. Die Gesellschaft akzeptiert mehrheitlich die Überführung persönlicher gesundheitlicher Risiken in „Beteiligungsmodelle“ nur da, wo Patienten sich gegen die Mitgliedschaft im Solidarsystem der gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden.

Eine ökonomische Bewertung der personalisierten oder individualisierten Medizin als Konzept scheiterte regelmäßig an der unscharfen Definition des Terminus. Denn was man nicht definieren kann (oder will), kann man auch nicht abschließend ökonomisch bewerten. Konsequenterweise erstreckte sich das ökonomische Kalkül auf Beispiele, insbesondere aus der Pharmakogenomik. Hierbei zeigt sich, dass die personalisierte oder individualisierte Medizin die Fallkosten senken kann, jedoch über Rebound-Effekte zu steigenden Gesamtkosten führt, das heißt, die Fallkosten sinken weniger, als die Zahl der behandlungsfähigen Patienten steigt (29, 30).

Ethische und ökonomische Probleme in neuem Gewand

Für ein ethisches und ökonomisches Assessment der Systemmedizin stellt sich die Situation unseres Erachtens insgesamt so dar, dass wohlbekannte Probleme, die keineswegs spezifisch für die Systemmedizin sind, durch diesen Ansatz allenfalls rekonfiguriert und modifiziert werden, höchstens eine Ergänzung um neue Facetten erfahren oder quantitativ zunehmen. Deshalb kann die Suche nach Lösungsansätzen für ethische und ökonomische Probleme der Systemmedizin aus unserer Sicht auch vielfach, ja weithin an ältere Diskurse anknüpfen.

Davon ausgenommen mag jener Teil der Systemmedizin sein, innerhalb dessen an der Entwicklung von bioinformatischen und -mathematischen Modellen für organismische Funktionen und Fehlfunktionen gearbeitet wird. Aber gerade dieser Zweig ordnet sich derzeit selbst noch der Grundlagenforschung zu, so dass über seine möglichen translationsethischen Folgeprobleme nur höchst unsichere Mutmaßungen möglich sind.

So muss man einerseits einräumen, dass mit genuin neuen ethischen und gesundheitsökonomischen Problemen der Systemmedizin eher nicht zu rechnen sein wird; andererseits ist es aber auch so, dass sich selbst für die wohlbekannten Herausforderungen national und international bisher keine Lösungsstandards und Routinen etabliert und eingespielt haben. Stimmt man diesem Befund zu, dann wird die Aufgabe einer Ethik und Ökonomik der Systemmedizin in den nächsten Jahren wohl weniger in der „alarmistischen“ Detektion neuartiger Grundlagenprobleme bestehen können. Vielmehr muss sie an der Entwicklung praxistauglicher Lösungsansätze arbeiten, zumindest aber diejenigen Gründe aufspüren, die dafür verantwortlich sind, dass hinlänglich bekannte ethische und ökonomische Herausforderungen einer immer mehr technisierten und molekularbiologisch unterbauten Medizin auch nach teilweise jahrzehntelanger Diskussion noch immer nicht befriedigend gelöst sind.

  • Zitierweise dieses Beitrags:
    Dtsch Arztebl 2015; 112(31): A 1330–4

Anschrift für die Verfasser
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Dr. phil. Martin Langanke
Theologische Fakultät
Lehrstuhl für Systematische Theologie
17487 Greifswald
langanke@uni-greifswald.de

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3115
oder über QR-Code.

Diese Publikation ist im Rahmen des Forschungsverbundes MENON – Medizintheoretische, normative und ökonomische Evaluation der Systemmedizin entstanden. Das MENON-Konsortium wird finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (01GP1408A und 01GP1408B).

*Die Autoren haben
zu gleichen Anteilen
an der Manuskripterstellung mitgewirkt.

1.
Capobianco E: Ten challenges for systems medicine. Frontiers in Genetics 2012; 3: Article 193 CrossRef
2.
Capobianco E: Dynamic networks in systems medicine. Frontiers in Genetics 2013; 3: Article 185.
3.
Hood L: Systems biology and P4 Medi-
cine: Past, Present, and Future, RMMJ 2013: 4, e0012 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4.
Price ND, Edelman LB, Lee I, et al.: Systems Biology and Systems Medicine. In: Ginsburg J, Willard H (eds.): Genomic and Personalized Medicine; London: Elsevier 22013: 60–72 CrossRef CrossRef
5.
Wolkenhauer O, Auffray C, Jaster R. et al.: The road from systems biology to systems medicine. Pediatr Res 2013; 73: 502–507 CrossRef MEDLINE
6.
Schmutzler R, Huster S, Wasem J, Dabrock P: Risikoprädiktion: Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko, Dtsch Arztebl 2015; 112(20): A-910 / B-762 / C-738. VOLLTEXT
7.
Zhao Z, Shen B, Lu X et al.:. Translational biomedical informatics and computational systems medicine. Biomed Res Int. 2013;2013:237465. doi: 10.1155/2013/237465 CrossRef
8.
Sarkar IN: Biomedical informatics and translational medicine. J Transl Med. 2010 Feb 26;8:22 CrossRef MEDLINE PubMed Central
9.
Krüger-Brand HE: 2014. Forschungsinfrastrukturen: Herausforderungen durch Big Data. Dtsch Arztebl 2015; 111(41), A-1735 / B-1497 / C-1429 VOLLTEXT
10.
Gomez-Cabrero D, Menche J, Cano I, et al.: Systems Medicine: from molecular features and models to the clinic in COPD. JTranslMed 2014; 12 (Suppl 2): S4 CrossRef MEDLINE PubMed Central
11.
Grabe H, Assel H, Bahls T, et al.: Cohort profile: Greifswald approach to individualized medicine (GANI_MED). JTranslMed 2014; 12: 144 CrossRef
12.
Fischer T, Langanke M, Marschall P, Michl S (eds.) Individualized medicine, ethical, economical and historical perspectives. Cham Heidelberg New York Dordrecht London: Springer-Verlag 2015; 323.
13.
Binder H, Blettner M: Big Data in der wissenschaftlichen Medizin – eine biostatistische Perspektive: Teil 21 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. Dtsch Arztebl Int 2015; 112(9): 137–42 VOLLTEXT
14.
Mainzer K: Algorithms are powerful and useful. But by themselves they are blind. Faszination Forschung 2014; 15: 64–75.
15.
Evidence-Based Medicine Working Group: Evidence-based medicine. A new approach to teaching the practice of medicine. JAMA. 1992; 268(17): 2420–5 CrossRef CrossRef MEDLINE
16.
Erdmann P: Zufallsbefunde aus bildgebenden Verfahren in populationsbasierter Forschung. Münster: mentis 2015; 206 p.
17.
Erdmann P: Handling Incidental Findings from Imaging within IM related Research – Results from an Empirical-Ethical Study. In: Fischer T, Langanke M, Marschall P, Michl S (eds.:) Individualized medicine,
ethical, economical and historical perspec-tives. Cham Heidelberg New York Dordrecht London: Springer-Verlag 2015; 231–250 CrossRef
18.
Rudnik-Schöneborn S, Langanke M, Erdmann P, et al.: Ethische und rechtliche Aspekte im Umgang mit genetischen Zufallsbefunden – Herausforderungen und Lösungsansätze. EthikMed 2014; 26: 105–119 CrossRef
19.
Langanke M, Erdmann P, Robienski J, et al. (eds.): Zufallsbefunde bei molekulargenetischen Untersuchungen Medizinische, juristische und ethische Perspektiven. Heidelberg Berlin: Springer-Verlag 2015; 200 p MEDLINE
20.
Moja L, Kwag KH, Lytras T, et al.: Effec-
tiveness of computerized decision support systems linked to electronic health records: a systematic review and meta-analysis. Am J Public Health 2014; 104: e12–22 CrossRef MEDLINE PubMed Central
21.
Shalom E, Shahar Y, Parmet Y, Lunenfeld E: A multiple-scenario assessment of the effect of a continuous-care, guideline-
based decision support system on clinicians’ compliance to clinical guidelines. Int J Med Inform 2015 CrossRef MEDLINE
22.
BGH: BGH zum Umgang des Arztes mit Zufallsfunden bei der Diagnose. Urteil vom 21.12.2010. BGHZ 188/29.
23.
Zylka-Menhorn V: „Todescomputer„: Risikobewertung von Intensivpatienten. Dtsch Arztebl 1997; 94(11): A-621 / B-523 / C-499 VOLLTEXT
24.
Heinemann T, Hoppe C, Listl S, et al.: Zufallsbefunde bei bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung. Ethische Überlegungen und Lösungsvorschläge. Dtsch Arztebl 2007; 104: Internetsupplement 1 VOLLTEXT
25.
Fischer T, Dörr M, Haring R, Langanke M: Alarming symptoms of a paradigm shift? An approach to bridge the gap between hypothetical ethics and the current status of IM research. In: Vollmann J, Schildmann J (eds.): Personalised Medicine: Ethical, Medical, Economic and Legal Critical Perspectives. Fulham: Ashgate Publishing Limited; 2015: 25–40 MEDLINE
26.
Dabrock P: Public Health Genetics and Social Justice. Community Genetics 2006; 9(1): 34–39 CrossRef MEDLINE
27.
Põder JC, Assel H: The Concept of Disease in the Era of Prediction. In: Fischer T, Langanke M, Marschall P, Michl S (eds.): Individualized medicine, ethical, economical and historical perspectives. Cham Heidelberg New York Dordrecht London: Springer-Verlag 2015; 165–180 CrossRef
28.
Langanke M, Fischer T, Erdmann P, et al.: Gesundheitliche Eigenverantwortung im Kontext Individualisierter Medizin, EthikMed 2013; 25: 243–250 CrossRef
29.
Fleßa S, Marschall P: Individualisierte Medizin: vom Innovationskeimling zur Makroinnovation. Pharmacoeconomics-Ger-Res-Articles 2012; 10: 53–67 CrossRef
30.
Marschall P, Fleßa S: Gesundheitsökonomische Bewertung der Personalisierten Medizin. In: Eppinger E, Halecker B, Hölzle K, Kamprath M (eds.): Dienstleistungspotenziale und Geschäftsmodelle in der Personalisierten Medizin: Konzepte, Analysen und Potenziale. Wiesbaden: Gabler 2015; 301–317 CrossRef
Dr. rer. med. Erdmann, Dr. phil. Langanke: Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Systematische Theologie, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Dr. rer. med. Fischer: Department für Ethik, Theorie und Geschichte der Lebenswissenschaften, Universitätsmedizin Greifswald

Raths, M. Sc., Prof. Dr. rer. pol. Fleßa: Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Systemmedizin – kein homogener Ansatz, sondern disparate Konzepte
Grafik
Systemmedizin – kein homogener Ansatz, sondern disparate Konzepte
1. Capobianco E: Ten challenges for systems medicine. Frontiers in Genetics 2012; 3: Article 193 CrossRef
2. Capobianco E: Dynamic networks in systems medicine. Frontiers in Genetics 2013; 3: Article 185.
3. Hood L: Systems biology and P4 Medi-
cine: Past, Present, and Future, RMMJ 2013: 4, e0012 CrossRef MEDLINE PubMed Central
4. Price ND, Edelman LB, Lee I, et al.: Systems Biology and Systems Medicine. In: Ginsburg J, Willard H (eds.): Genomic and Personalized Medicine; London: Elsevier 22013: 60–72 CrossRef CrossRef
5. Wolkenhauer O, Auffray C, Jaster R. et al.: The road from systems biology to systems medicine. Pediatr Res 2013; 73: 502–507 CrossRef MEDLINE
6. Schmutzler R, Huster S, Wasem J, Dabrock P: Risikoprädiktion: Vom Umgang mit dem Krankheitsrisiko, Dtsch Arztebl 2015; 112(20): A-910 / B-762 / C-738. VOLLTEXT
7. Zhao Z, Shen B, Lu X et al.:. Translational biomedical informatics and computational systems medicine. Biomed Res Int. 2013;2013:237465. doi: 10.1155/2013/237465 CrossRef
8. Sarkar IN: Biomedical informatics and translational medicine. J Transl Med. 2010 Feb 26;8:22 CrossRef MEDLINE PubMed Central
9. Krüger-Brand HE: 2014. Forschungsinfrastrukturen: Herausforderungen durch Big Data. Dtsch Arztebl 2015; 111(41), A-1735 / B-1497 / C-1429 VOLLTEXT
10. Gomez-Cabrero D, Menche J, Cano I, et al.: Systems Medicine: from molecular features and models to the clinic in COPD. JTranslMed 2014; 12 (Suppl 2): S4 CrossRef MEDLINE PubMed Central
11. Grabe H, Assel H, Bahls T, et al.: Cohort profile: Greifswald approach to individualized medicine (GANI_MED). JTranslMed 2014; 12: 144 CrossRef
12. Fischer T, Langanke M, Marschall P, Michl S (eds.) Individualized medicine, ethical, economical and historical perspectives. Cham Heidelberg New York Dordrecht London: Springer-Verlag 2015; 323.
13. Binder H, Blettner M: Big Data in der wissenschaftlichen Medizin – eine biostatistische Perspektive: Teil 21 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. Dtsch Arztebl Int 2015; 112(9): 137–42 VOLLTEXT
14. Mainzer K: Algorithms are powerful and useful. But by themselves they are blind. Faszination Forschung 2014; 15: 64–75.
15. Evidence-Based Medicine Working Group: Evidence-based medicine. A new approach to teaching the practice of medicine. JAMA. 1992; 268(17): 2420–5 CrossRef CrossRef MEDLINE
16. Erdmann P: Zufallsbefunde aus bildgebenden Verfahren in populationsbasierter Forschung. Münster: mentis 2015; 206 p.
17. Erdmann P: Handling Incidental Findings from Imaging within IM related Research – Results from an Empirical-Ethical Study. In: Fischer T, Langanke M, Marschall P, Michl S (eds.:) Individualized medicine,
ethical, economical and historical perspec-tives. Cham Heidelberg New York Dordrecht London: Springer-Verlag 2015; 231–250 CrossRef
18. Rudnik-Schöneborn S, Langanke M, Erdmann P, et al.: Ethische und rechtliche Aspekte im Umgang mit genetischen Zufallsbefunden – Herausforderungen und Lösungsansätze. EthikMed 2014; 26: 105–119 CrossRef
19. Langanke M, Erdmann P, Robienski J, et al. (eds.): Zufallsbefunde bei molekulargenetischen Untersuchungen Medizinische, juristische und ethische Perspektiven. Heidelberg Berlin: Springer-Verlag 2015; 200 p MEDLINE
20. Moja L, Kwag KH, Lytras T, et al.: Effec-
tiveness of computerized decision support systems linked to electronic health records: a systematic review and meta-analysis. Am J Public Health 2014; 104: e12–22 CrossRef MEDLINE PubMed Central
21. Shalom E, Shahar Y, Parmet Y, Lunenfeld E: A multiple-scenario assessment of the effect of a continuous-care, guideline-
based decision support system on clinicians’ compliance to clinical guidelines. Int J Med Inform 2015 CrossRef MEDLINE
22. BGH: BGH zum Umgang des Arztes mit Zufallsfunden bei der Diagnose. Urteil vom 21.12.2010. BGHZ 188/29.
23. Zylka-Menhorn V: „Todescomputer„: Risikobewertung von Intensivpatienten. Dtsch Arztebl 1997; 94(11): A-621 / B-523 / C-499 VOLLTEXT
24. Heinemann T, Hoppe C, Listl S, et al.: Zufallsbefunde bei bildgebenden Verfahren in der Hirnforschung. Ethische Überlegungen und Lösungsvorschläge. Dtsch Arztebl 2007; 104: Internetsupplement 1 VOLLTEXT
25. Fischer T, Dörr M, Haring R, Langanke M: Alarming symptoms of a paradigm shift? An approach to bridge the gap between hypothetical ethics and the current status of IM research. In: Vollmann J, Schildmann J (eds.): Personalised Medicine: Ethical, Medical, Economic and Legal Critical Perspectives. Fulham: Ashgate Publishing Limited; 2015: 25–40 MEDLINE
26. Dabrock P: Public Health Genetics and Social Justice. Community Genetics 2006; 9(1): 34–39 CrossRef MEDLINE
27. Põder JC, Assel H: The Concept of Disease in the Era of Prediction. In: Fischer T, Langanke M, Marschall P, Michl S (eds.): Individualized medicine, ethical, economical and historical perspectives. Cham Heidelberg New York Dordrecht London: Springer-Verlag 2015; 165–180 CrossRef
28. Langanke M, Fischer T, Erdmann P, et al.: Gesundheitliche Eigenverantwortung im Kontext Individualisierter Medizin, EthikMed 2013; 25: 243–250 CrossRef
29. Fleßa S, Marschall P: Individualisierte Medizin: vom Innovationskeimling zur Makroinnovation. Pharmacoeconomics-Ger-Res-Articles 2012; 10: 53–67 CrossRef
30. Marschall P, Fleßa S: Gesundheitsökonomische Bewertung der Personalisierten Medizin. In: Eppinger E, Halecker B, Hölzle K, Kamprath M (eds.): Dienstleistungspotenziale und Geschäftsmodelle in der Personalisierten Medizin: Konzepte, Analysen und Potenziale. Wiesbaden: Gabler 2015; 301–317 CrossRef
Themen:

Fachgebiet

Zum Artikel

Der klinische Schnappschuss

Alle Leserbriefe zum Thema

Stellenangebote