ArchivDeutsches Ärzteblatt PP8/2015Fetale Alkoholspektrum-Störungen: Besonderheiten einer Behinderung

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Fetale Alkoholspektrum-Störungen: Besonderheiten einer Behinderung

Becker, Gela

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Auch Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sollten sich mit der Diagnostik von Fetalen Alkoholspektrum-Störungen befassen. Wird die Störung übersehen, können Behandlungsfehler entstehen.

Die Veröffentlichung der evidenz- und konsensbasierten S3-Leitlinie zur Diagnostik des Fetalen Alkoholsyndroms bei Kindern und Jugendlichen im Dezember 2012 ist ein Anlass zu fragen, wieweit die Störung auch bei den Psychotherapeuten „angekommen“ ist (1). Umfassend wird von Fetalen Alkoholspektrum-Störungen (FASD) gesprochen. Vielfach werden Kinder und Jugendliche mit FASD auch als „Systemsprenger“, „junge Wilde“ oder Kinder aus suchtbelasteten Familien bezeichnet, ohne dass die Besonderheiten dieser Behinderung breit thematisiert werden.

Mehr FASD-Fälle in den Psychotherapeutenpraxen

Die sozialpädiatrischen Zentren beginnen, sich mit der komplexen, multiprofessionellen Diagnostik dieser Behinderung auseinanderzusetzen. Es ist deshalb zu erwarten, dass durch den perspektivischen Abbau der Unterdiagnostik mehr FASD-Fälle sowohl in die Praxen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten als auch der Erwachsenentherapeuten gelangen werden. Komplex ist die Diagnostik deshalb, weil es nicht nur das Vollbild des Fetalen Alkoholsyndroms gibt, das den Schweregrad der hirnorganischen Beeinträchtigungen definiert. Auch in den weniger bekannten, unsichtbareren Unterformen der Störung kann das Ausmaß der Einschränkungen der exekutiven Funktionen sowie der Verhaltensauffälligkeiten massiv sein.

Diese Auffälligkeiten müssen jedoch erst einmal erfasst werden: Wird eine FASD „übersehen“, entstehen möglicherweise folgende durchaus typische Behandlungsfehler, die dann je nach therapeutischem Basisverständnis interpretiert werden:

  • Das eingeschränkte Sprachverständnis wird aufgrund der häufig guten sprachlichen Fähigkeiten übersehen und als „nicht-wollen“ interpretiert,
  • Gedächtnisstörungen werden nicht als solche erkannt, sondern beispielsweise als Widerstand gedeutet,
  • wegen ihrer leichten Suggestibilität verletzen die Betroffenen häufig Regeln, werden aber aufgrund ihrer Einschränkungen leicht durchschaut. Dieses kann dann fälschlich als unbewusstes Strafbedürfnis oder Über-Ich-Defekte gedeutet werden,
  • Probleme im Transfer von Regeln werden nicht als solche erkannt, sondern oppositionellem Verhalten – mit der ganzen Interpretationsbreite an möglichen Konfliktdynamiken – oder den Aufmerksamkeitsdefiziten zugeordnet,
  • die hirnorganisch bedingte leichte Suggestibilität, das Mitgehen mit Fremden, wird als Bindungsstörung verkannt – die fraglos zusätzlich noch vorliegen kann,
  • Schwierigkeiten im Initiieren von Handlungen (eine der Einschränkungen der exekutiven Funktionen) werden als Antriebsminderung und damit als Symptomatik im Rahmen einer Depression interpretiert, die als häufige komorbide Störung zusätzlich vorliegen kann,

Jede dieser beispielhaft vorgestellten Einschränkungen erscheint an sich vergleichsweise „harmlos“ – ergibt jedoch in der Zusammenschau, selbst bei unterschiedlicher Gewichtung der Problematik, eine schwere Störung und ist schulenübergreifend zentral für jede Therapieplanung.

Zusätzlich erschwert wird die Diagnostik der FASD dadurch, dass die Betroffenen gefährdet sind, über die hirnorganischen Beeinträchtigungen hinaus komorbide Störungen zu entwickeln, die jeweils störungsspezifisch unter Berücksichtigung der Basisstörung behandelt werden sollten (2). Famy et al. finden in ihrer Studie Depressionen (44 Prozent), bipolare Störungen (20 Prozent) und Angststörungen (20 Prozent) bei FASD-Betroffenen (3). In einer weiteren Studie stellen Streissguth et al. eine Quote von 94 Prozent seelischer Störungen bei FASD-Patienten fest (4). Diese Störungen können sowohl in der frühen Kindheit beginnen als auch in der Adoleszenz oder bei Erwachsenen neu auftreten (5, 6).

Schwere sekundäre Störungen in Folge

Auf die Schwere sekundärer Störungen wurde zunächst in amerikanischen Langzeitstudien von Streissguth et al. hingewiesen (4, 7). Schulunterbrechungen oder Schulabbruch gab es in 60 Prozent der Fälle und Konflikte mit dem Gesetz ebenfalls bei 60 Prozent. Bei 50 Prozent der Betroffenen kam es zu Inhaftierungen oder geschlossener Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. 80 Prozent der über 21-Jährigen waren auf Unterstützung in der Lebensführung angewiesen. Diese Befunde wurden in der deutschen Forschung trotz guter Entwicklungsbedingungen der Betroffenen in Pflegefamilien in einer Langzeitstudie von Spohr et al. bestätigt (8).

Aufgrund der hohen Bedeutung dieser Diagnose für die Verbesserung der Versorgung der Betroffenen wäre wesentlich und wünschenswert, dass sich auch die Psychotherapeuten zu diagnostischen Bemühungen aufgerufen fühlen, oder zumindest umfassende Diagnostik anbahnen und die Besonderheiten der Beeinträchtigungen mit Blick auf die Therapieplanung stärker als bisher zur Kenntnis nehmen. Hinweise für einen neuen Diskurs gibt das aktualisierte Manual DSM-5, ein spezifisch amerikanisches Diagnosesystem, dass vor allem in der Forschung zu psychischen Störungen und auch im deutschsprachigen Raum vielfach ergänzend zur internationalen Klassifikation von Störungen (ICD-10-GM, German Modification) verwendet wird (13).

Im DSM-5 wird FASD in zwei Bereichen beschrieben: zum einen in der Kategorie „andere Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung“ als „Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung bei pränataler Alkoholexposition“ (F88). Die Diagnose kann gestellt werden, wenn die charakteristischen Symptome nicht die Kriterien der anderen Störungen dieser Kategorie betreffen (zu weiteren entwicklungsneurologischen Störungen zählen hier Autismus-Spektrum-Störungen, Aufmerksamkeits-Defizit-Störung und pränatale Kokainexposition). Kodiert werden kann eine Störung aus dem Spektrum der FASD dann zum Beispiel als „Störung der neuronalen und mentalen Entwicklung bei pränataler Alkoholexposition“ (13).

Zum anderen wird die Diagnose im Forschungsteil des DSM-5 unter „Verhaltensstörung aufgrund pränataler Schädigung durch Alkohol“ (VS-PAE) beschrieben. Geprägt wird hier ein neuer Begriff, der das gesamte Spektrum intrauteriner Entwicklungsstörungen und Funktionsbeeinträchtigungen, und zwar unabhängig von Dysmorphien und Wachstumsauffälligkeiten, umfasst, die für die bisherigen Diagnosesysteme zentral sind. Ermöglicht wird damit eine Zusatzkodierung der in der deutschsprachigen Leitlinie noch nicht erfassten Unterformen der FASD, die sich durch ein geringes Ausmaß der sichtbaren Anteile auszeichnen. Ferner entsteht hier eine rein psychologische Diagnostik der VS-PAE, die anders als die bisherigen Diagnosesysteme nicht mehr auf multidisziplinäre Kompetenzen angewiesen ist.

Die ZNS-Auffälligkeiten mit daraus folgenden Verhaltensstörungen sind in der deutschsprachigen S3- Leitlinie FAS als Diagnosekriterien der ZNS-Auffälligkeiten gefasst (9) und sind vollständig in den Überkategorien enthalten, jedoch anders gegliedert.

Chancen in einer multidisziplinären Diagnostik

Zusammenfassend sollte dennoch den in der deutschsprachigen S-3 Leitlinie (und kompatiblen Diagnosesystemen wie dem 4-Digit Code oder der kanadischen Leitlinie) viersäuligen Diagnosekriterien mit Integration auch der körperlichen Auffälligkeiten der Vorrang gegeben werden. Insbesondere da Erweiterungen um die Unterformen und Adaptionen für die Erwachsenendiagnostik geplant sind. In einer multidisziplinären Diagnostik liegen zudem größere Chancen, die sozialrechtliche Anerkennung dieser komplexen Behinderung voranzubringen und mit einer Verbesserung der Versorgung zu verbinden. Die Möglichkeiten des DSM-5 liegen dennoch in neuen Zugängen zu FASD durch die vorgeschlagenen Überkategorien: Beeinträchtigungen der neurokognitiven Funktionen, der Selbstregulation und der adaptiven Fähigkeiten. Sie helfen, Verständnis für und Zugang zu Menschen mit diesen Beeinträchtigungen zu verbessern, da ein Blickwechsel von den körperlichen Auffälligkeiten zu den Verhaltensauffälligkeiten ermöglicht wird. Chancen liegen außerdem in der Erweiterung der diagnostischen Möglichkeiten durch Zusatzkodierungen, die im Übergang, bis die FASD-Diagnostik implementiert und auf die Unterformen der FASD ausgeweitet wird, auch Psychotherapeuten die Diagnosestellung ermöglichen.

In einem zweiten Schritt wird es nach Sicherung der Diagnose darum gehen, die Schwierigkeiten durch eingeschränkte Kodierungsmöglichkeiten und damit Fragen der Implementierungen adäquater Hilfen zu überwinden: Noch „verschwinden“ gestellte FASD-Diagnosen häufig zugunsten der im ICD-10 gelisteten Störungen beziehungsweise zugunsten der komorbiden Störungen der Betroffenen. Unabhängig davon, welche diagnostische Kodierung verwendet wird, ist eine FASD jedoch für die Erstellung der individuellen Behandlungs- und Betreuungsplanung zentral. Wird die Behandlung nicht auf diese Patienten abgestimmt und an ihre Beeinträchtigungen angepasst, bleiben sie diejenigen, die aus therapeutischen Settings als behandlungsresistent und unkooperativ herausfallen (6).

  • Zitierweise dieses Beitrags:
    PP 2015; 13(8): 369–70

Anschrift der Verfasserin:
Gela Becker, Psychologische Psychotherapeutin, Kinderheim Sonnenhof e.V. (auf FASD spezialisierte Jugend- und Eingliederungshilfe), Neuendorfer Straße 60, 13585 Berlin, fasd-sprechstunde@
ev-sonnenhof.de, www.fasd-fachzentrum.de

@Die S3-Leitlinie zum
Fetalen Alkoholsyndrom im Internet:
www.aerzteblatt.de/archiv/147672

Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/pp/lit0815

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