SEITE EINS
Gesetzliche Krankenkassen: Kopfschütteln


Steifer Nacken in Wacken? Das weltberühmte Open-Air-Rockfestival in Schleswig-Holstein bot dieses Jahr dagegen erste Hilfe: Massage nach strapazierendem „Headbangen“ (rhythmisches Kopfschütteln zur Musik, die Redaktion), ausgeführt im Auftrag eines gesetzlichen Krankenversicherers.
Keine Diskussion an dieser Stelle zur medizinischen Indikation. Aber diese Art Verschnaufpause galt nicht den Nacken der Wacken-Besucher, sondern ihrer potenziellen GKV-Mitgliedschaft. Wettbewerb heißt das Zauberwort, das die Kasse nach Wacken treibt.
Das Bundesversicherungsamt hat mit Blick auf vergangene Werbeaktionen in ihrem jetzt veröffentlichten Jahresbericht manchem Versicherer ernste Worte gewidmet. Die Rügen umfassen zum Beispiel das rigorose Überschreiten der in den Werbegrundsätzen festgelegten Budgets, unzulässig hohe Prämienzahlungen für die Werbung neuer Mitglieder, aber auch die Bezuschussung von Fitness-Apps in Kombination mit tragbaren Zusatzgeräten, die perspektivisch auch Daten zur Gesundheit ihrer Mitglieder liefern könnten.
Aber damit nicht genug: Regresse waren nötig, weil das Management eines Versicherers sein Budget für Betriebsfeiern maßlos überzogen hatte – und das nicht zum ersten Mal. Auch die marktgerechte Anlage von Versichertengeldern lag nach Maßgabe der Prüfer bei einzelnen Kassen nicht unbedingt im Rahmen der duldbaren Grundlagen: Banken hätten gesetzliche Krankenkassen im Sinne des Wertpapierhandelsgesetzes als „professionelle Kunden“ eingestuft, ihnen damit die eigentlich zu gewährenden Schutzregeln aberkannt. Profis, so die staatlichen Prüfer in ihrer Einschätzung des GKV-Wertpapiergeschäftes, seien aber längst nicht alle Krankenkassen.
Was in den vergangenen Tagen an Kritik laut wurde, ist kein Pappenstiel, hat andererseits trotzdem keinen wirklichen Überraschungswert. In Kombination mit den in den vergangenen Jahren erzielten Überschüssen, die mancher Versicherungsverwalter durch Konjunktur und geschickte Mitgliederstrukturierung erwirtschaften konnte, war solches Vorgehen vorstellbar.
Das vorausgesetzt, stellt sich allerdings auch die Frage, wie diese randgenähte und extrem offensive Werbepolitik der gesetzlichen Krankenkassen mit ihren jeweiligen Leistungsstrategien korrespondiert.
Ein eklatantes Beispiel haben die Zahnärzte mit einer Sommeraktion herausgestellt: Viele Krankenkassen hinterfragten nach wie vor den Sinn professioneller Zahnreinigung, ließen sich aber nicht davon abhalten, diese Leistung außerhalb des regulären Katalogs trotzdem deutlich zu bezuschussen.
Das Vorgehen ist kein Unikat. Auch im medizinischen Leistungssektor fällt diese Taktik der Versicherer immer wieder auf. Geht es um den Kunden, wird auch schon mal etwas bezahlt, was nicht den Segen des Gemeinsamen Bundesausschusses hat. Woher so viel Janusköpfigkeit?
Um es klar zu sagen: Keiner wird ohne Blick auf das eigene Umfeld im Glashaus Gesundheitswesen unnötig mit Steinen werfen. Aber zu viel des Guten stellt die Glaubwürdigkeit eines weltweit eigentlich vorbildlichen Gesundheitswesens infrage.
Wer Milliarden-Überschüsse mit dem Hinweis aus dem System heraushält, man brauche das Geld für absehbar schlechte Zeiten, auf der anderen Seite etwas kritisiert, aber freiwillig dafür zahlt, riskiert zu Verspannungen führendes Kopfschütteln. Als Trost: Die Massage gibt’s in Wacken, auf Kassenkosten.
Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur