BRIEFE
Notfallmedizin: Realitätsfernes Zerrbild
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Der Artikel bedarf in mehreren Punkten der Richtigstellung. Er suggeriert, dass sich das Fach Notfallmedizin in Großbritannien von anderen Fachrichtungen abgekoppelt hat, dass sein Gegenstandskatalog zu Kompetenzlücken führt und dass es Patienten einem therapeutischen Vakuum aussetzt. Der Autor bezieht sich dabei auf eine einzige, bereits acht Jahre alte Quelle zur Traumaversorgung.
Es ist richtig, dass die Notfallmedizin in Großbritannien vor erheblichen Herausforderungen steht. Dies ist jedoch auf Kapazitätsprobleme und überwältigenden Bedarf an notfallmedizinischer Versorgung zurückzuführen, nicht aber etwa auf ein Versagen des Faches.
Der für das Gesundheitswesen aufgewendete Anteil des Bruttoinlandsprodukts ist im Vereinigten Königreich kleiner als in allen anderen größeren Volkswirtschaften, und nur 1,4 Prozent davon kommen den Notaufnahmen zugute. Trotzdem ist die dort geleistete Patientenversorgung im Vergleich zu anderen europäischen und nordamerikanischen Ländern hochwertig und zügig. Der Gegenstandskatalog für die Weiterbildung der Notfallmediziner des Royal College of Emergency Medicine ist in Bezug auf Breite und Tiefe der vorausgesetzten Kompetenzen umfassend, und die Facharztanerkennung setzt das Bestehen zweier anspruchsvoller Prüfungen vor-aus. Nirgendwo sonst auf der Welt werden die theoretischen Kenntnisse, praktischen Fertigkeiten und Einstellungen angehender Notfallmediziner so eingehend geprüft.
Das Royal College of Emergency Medicine und General Medical Council haben überdies spezielle Weiterbildungsprogramme zur Subspezialisierung entwickelt, welche die Doppelanerkennung in klinischer Notfallmedizin mit präklinischer Notfallmedizin, Intensivmedizin und Kinder-Notfallmedizin ermöglichen. Es besteht somit kein Grund, an der Gültigkeit der britischen Ausbildung zu zweifeln. Das von Dr. Thies gezeichnete Zerrbild von schlecht ausgebildeten und inkompetenten Notfallmedizinern entspricht nicht der Realität.
Anders als von Dr. Thies behauptet, verfügt Großbritannien über gut entwickelte Versorgungsnetze für Herzinfarkte, Schlaganfälle und Polytrauma, und seine Qualitätssicherungssysteme sind von Weltrang.
Das Vereinigte Königreich steht vielfach denselben Problemen gegenüber wie das übrige Europa, insbesondere was die alternde Bevölkerung und die Notwendigkeit von Einsparungen in allen Bereichen der öffentlichen Hand betrifft. Eine besondere Herausforderung ist dabei, dass Großbritannien die niedrigste Krankenhausbettendichte pro Einwohner von allen EU-Ländern hat. Dies führt tatsächlich zu Verzögerungen bei der stationären Aufnahme von der Notfallstation. Es sei jedoch nochmals betont, dass dies ein Prozess- und Ressourcenproblem ist und nicht eines der Ausbildung oder des Faches Notfallmedizin.
Eine Debatte darüber, welches System der Notfallversorgung in Deutschland oder anderen Ländern eingeführt werden soll, ist Sache der Bürger, Berufsstände und Politiker des jeweiligen Landes.
Wichtig ist jedoch, dass sich eine solche Debatte auf Fakten stützt. Das bloße Zurückgreifen auf eine beweisfreie Meinung ist keine Basis für eine rationale Debatte.
Dr. Clifford Mann, Präsident des Royal College of Emergency Medicine, London
Dr. Barbara Hogan, Präsidentin der European Society
for Emergency Medicine, London