ArchivDeutsches Ärzteblatt39/2015Was hilft bei Schulvermeidung und Verhaltensproblemen im Kindergarten?
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Nach übereinstimmenden Angaben in der Literatur sind mindestens fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland psychiatrisch behandlungsbedürftig (1). Bei weiteren 10–18 Prozent sind aufgrund von auffälligen Verhaltensweisen diagnostische Maßnahmen und Beratungsangebote angezeigt (2, 3). Prävalenz- und Inanspruchnahmeraten zeigen regelmäßig Differenzen, wobei erstere stets höher liegen.

Kindergarten und Schule als Präventionsorte

Angesichts dieser Situation gewinnen Präventionsmaßnahmen zunehmend an Bedeutung. Geeignete Präventionsorte sind, neben der Familie, vor allem die vorschulischen Einrichtungen, in denen sich die Mehrzahl der Kinder befindet, und natürlich die Schule.

Dementsprechend liegt der Fokus der beiden in dieser Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts veröffentlichten Studien (4, 5) auf vorschulischen Interventionen und auf solchen, die in der Schule stattfinden.

Der Beitrag von Schell und Albers et al. (4) zeigt, dass das in Kindergärten angewandte Förderprogramm sowohl das Wissen über soziale Problemlösestrategien fördert als auch zu einer Verbesserung des prosozialen Verhaltens führt. Dies ist insofern bedeutsam, weil bereits für das Vorschulalter Prävalenzzahlen für psychische Auffälligkeiten von bis zu 17 Prozent berichtet werden, die allerdings zum Teil passager sind (6).

Frühe präventive Interventionen sind auch deshalb wichtig, da bei Nichtbehandlung in 5–10 Prozent einer Geburtenkohorte später sowohl psychopathologische Auffälligkeiten als auch Schulvermeidung und zum Teil auch Delinquenz resultieren.

Damit ist zugleich der Bogen geschlagen zur zweiten Studie, der Arbeit von Reissner et al. (5), die Interventionen im Schulalter im Fokus hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass durch die Behandlung unter Manualbedingungen (Interventionsgruppe) zwar schulvermeidendes Verhalten nicht stärker reduziert werden konnte als durch eine Standardbehandlung in der Kontrollgruppe, in beiden Behandlungsarmen steigerte sich aber der Anteil der regulären Schulbesuche auf 60 Prozent nach einem halben Jahr und blieb auch ein Jahr nach Studienabschluss erhalten.

Trainingsprogramme für Vorschulkinder

Beide Studien verfolgen insofern ein ähnliches Studiendesign als jeweils einer Interventionsgruppe eine Kontrollgruppe gegenübergestellt wurde, die einen konventionellen Behandlungsansatz („treatment as usual“) verfolgte. Die Begriffe Verhaltensstörungen, Verhaltensprobleme oder inadäquates Verhalten sind freilich recht allgemein und werden vielfach inflationär gebraucht. Sie bedürfen der Spezifizierung. Insofern ist es zu begrüßen, dass Schell und Albers et al. (4) sich dem Aspekt der Affekt- und Emotionsregulation sowie dem Problemlöseverhalten von Vorschulkindern zugewandt haben. Denn das Scheitern an der Bewältigung alterstypischer Probleme beziehungsweise Entwicklungsaufgaben (7) und die eingeschränkte Fähigkeit, empathisch zu reagieren, sind Risikofaktoren im Kanon der normalen Entwicklung, die erst in der Folge zu dem führen, was im allgemeinen als Verhaltensauffälligkeit bezeichnet wird.

In diesem Sinne ist es wichtig, dass man diesen Auffälligkeiten (meist extraversiven Typs, also aggressives Verhalten, motorische Unruhe, Störungen des Sozialverhaltens) am besten dadurch begegnet, dass man ihre Vorstufen in den Blick nimmt und in Präventionsmaßnahmen einbezieht. Die im Beitrag von Schell und Albers et al. (4) zitierten Metaanalysen haben gezeigt, dass im Rahmen von sozialen Trainingsprogrammen sozio-emotionale Kompetenzen von Schulkindern deutlich verbessert werden können. Die Erfahrungen mit Vorschulkindern sind diesbezüglich aber spärlich. Deshalb ist es ein Verdienst der Autoren, dass sie den präventiven Trainingsansatz auf diese Gruppe erfolgreich erweitert haben. Wichtig wäre allerdings zu prüfen, ob die nachgewiesenen Effekte auch noch nach dem Schuleintritt erhalten bleiben.

Interventionen bei Schulvermeidung

Schulvermeidung beziehungsweise Schulabsentismus stellen national wie international ein gravierendes Problem dar, weil sie mit einer Vielzahl von anderweitigen Belastungen assoziiert sind, wie unter anderem (8, 9):

  • psychische Erkrankungen bei den Eltern oder Kindern
  • Vernachlässigung
  • zerrüttete Familienstrukturen
  • Drogen- und Alkoholabusus
  • Armut
  • Minderheitenstatus
  • Alleinerziehendenstatus.

Der erste Schritt vor einer Intervention ist daher stets die sorgfältige Abklärung jedes Einzelfalls im Hinblick darauf, ob es sich zum Beispiel um einen der folgenden Gründe handelt:

  • Schulphobie (Trennungsangst)
  • Schulangst (Angst vor traumatisierenden Ereignissen in der Schule oder auf dem Schulweg)
  • Schulschwänzen (dissoziale Form der Schulvermeidung).

Denn Schulvermeidung ist eine Sammelbezeichnung, unter der sich ganz verschiedene Konstellationen verbergen, die auch unterschiedlicher Interventionen bedürfen.

Diesem Umstand dürfte die Studie (5) insofern Rechnung getragen haben, als alle Patienten aus einer Spezialambulanz für schulverweigerndes Verhalten rekrutiert wurden und die Arbeitsgruppe bereits vor einigen Jahren zu der Thematik in einer Übersichtsarbeit ausführlich Stellung genommen hat (10).

Globale Programme

Die große Bedeutung, die der Schulvermeidung weltweit zukommt, hat auch dazu geführt, dass diese Problematik im Fokus des Global Program on Child Mental Health stand (11), das von der World Psychiatric Association (WPA) gemeinsam mit der WHO und der International Association for Child and Adolescent Psychiatry and Allied Professions (IACAPAP ) durchgeführt wurde.

In drei analogen Feldstudien in Brasilien, Russland und Ägypten (in [11]) wurde gezeigt, dass durch gezielte Interventionsmaßnahmen (Schulung der Lehrer, Gespräche mit den Eltern, Initiativen und Strukturveränderungen innerhalb der Schule, telefonische Helpline, individuelle Behandlung von Problemfällen) in den Interventionsschulen im Vergleich zu den Kontrollschulen die Schulvermeidungsrate innerhalb eines Jahres halbiert werden konnte (11).

Die Botschaft dieser Studien ist, dass für effektive Interventionen ein multifaktorieller Ansatz erforderlich ist, der möglichst alle Bedingungen und Akteure miteinbezieht, die mit dem jeweiligen Problemfeld zu tun haben.

Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Anschrift für den Verfasser
Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. Helmut Remschmidt
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Psychosomatik und Psychotherapie Fachbereich Medizin
der Philipps-Universität Marburg
Schützenstraße 49
35039 Marburg
Helmut.Remschmidt@med.uni-marburg.de

Zitierweise
Remschmidt H: How can we prevent school avoidance and behavior problems in preschool children? Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 645–6. DOI: 10.3238/arztebl.2015.0645

@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de

1.
Remschmidt H, Walter R: Psychische Auffälligkeiten bei Schulkindern. Göttingen: Hogrefe 1990.
2.
Blanz B, Remschmidt H, Schmidt M, Warnke A: Psychische Störungen im Kindes-und Jugendalter. Ein entwicklungspsychopathologisches Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer 2006; 525–48.
3.
Hölling H, Erhard M, Ravens-Sieberer U, Schlack R: Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendsurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007; 50: 784–93 CrossRef MEDLINE
4.
Schell A, Albers L, von Kries R, Hillenbrand C, Hennemann T: Preventing behavioral disorders via supporting social and emotional competence at preschool age. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 647–54 VOLLTEXT
5.
Reissner V, Jost D, Krahn U, et al.: The treatment school avoidance in children and adolescents with psychiatric illness— a randomized controlled trial. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 655–62 VOLLTEXT
6.
Klitzing K von, Doehnert M, Kroll M, Grube M: Mental disorders in early childhood. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 375–86 VOLLTEXT
7.
Herpertz-Dahlmann B, Bühren K, Remschmidt H: Growing up is hard—mental disorders in adolescence. Dtsch Arztebl Int 2013; 110: 432–40 VOLLTEXT
8.
Battin-Pearson S, Newcomb MD, Abbott RD, et al.: Predictors of early high school dropout: a test of five theories. J Educ Psychol 2000; 92: 568–82 CrossRef
9.
Nurcombe B: The Principles of prevention in child and adolescent mental health. In: Remschmidt H, et al. (eds.): The mental health of children and adolescents. An area of global neglect. Chichester: Wiley 2005; 53–64.
10.
Knollmann M, Knoll S, Reissner V, Metzelaars J, Hebebrand J: School avoidance from the point of view of child and adolescent psychiatry: symptomatology, development, course, and treatment. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 43–9 VOLLTEXT
11.
Remschmidt H, Nurcombe B, Belfer ML, Sartorius N, Okasha A (eds.): The mental health of children and adolescents. An area of global neglect. Wiley, Chichester 2005.
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Fachbereich Medizin der Philipps-Universität Marburg: Prof. Dr. med. Dr. phil. Dr. h.c. Remschmidt
1.Remschmidt H, Walter R: Psychische Auffälligkeiten bei Schulkindern. Göttingen: Hogrefe 1990.
2.Blanz B, Remschmidt H, Schmidt M, Warnke A: Psychische Störungen im Kindes-und Jugendalter. Ein entwicklungspsychopathologisches Lehrbuch. Stuttgart: Schattauer 2006; 525–48.
3.Hölling H, Erhard M, Ravens-Sieberer U, Schlack R: Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendsurvey (KiGGS). Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007; 50: 784–93 CrossRef MEDLINE
4.Schell A, Albers L, von Kries R, Hillenbrand C, Hennemann T: Preventing behavioral disorders via supporting social and emotional competence at preschool age. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 647–54 VOLLTEXT
5.Reissner V, Jost D, Krahn U, et al.: The treatment school avoidance in children and adolescents with psychiatric illness— a randomized controlled trial. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 655–62 VOLLTEXT
6.Klitzing K von, Doehnert M, Kroll M, Grube M: Mental disorders in early childhood. Dtsch Arztebl Int 2015; 112: 375–86 VOLLTEXT
7.Herpertz-Dahlmann B, Bühren K, Remschmidt H: Growing up is hard—mental disorders in adolescence. Dtsch Arztebl Int 2013; 110: 432–40 VOLLTEXT
8.Battin-Pearson S, Newcomb MD, Abbott RD, et al.: Predictors of early high school dropout: a test of five theories. J Educ Psychol 2000; 92: 568–82 CrossRef
9.Nurcombe B: The Principles of prevention in child and adolescent mental health. In: Remschmidt H, et al. (eds.): The mental health of children and adolescents. An area of global neglect. Chichester: Wiley 2005; 53–64.
10.Knollmann M, Knoll S, Reissner V, Metzelaars J, Hebebrand J: School avoidance from the point of view of child and adolescent psychiatry: symptomatology, development, course, and treatment. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 43–9 VOLLTEXT
11.Remschmidt H, Nurcombe B, Belfer ML, Sartorius N, Okasha A (eds.): The mental health of children and adolescents. An area of global neglect. Wiley, Chichester 2005.

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