

Vor 25 Jahren starb der britische Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby
John Bowlby war außerordentlich produktiv. In seinem letzten Lebensjahr verriet er im Interview, mit welcher Einstellung er sich an den Schreibtisch setzt: „Ich habe etwas Wichtiges mitzuteilen und hoffe, jemand interessiert sich dafür. Jedenfalls ist es das Beste, was ich zur Zeit leisten kann.“ Seine Hauptarbeiten verfasste er zwischen 1950 und 1970, als das Individuum und weniger dessen familiäres Umfeld im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Bowlbys Theorie der Bindung versteht das lebenslange Streben nach engen emotionalen Beziehungen als spezifisch menschlich – es ist bereits beim Neugeborenen angelegt und besteht bis ins hohe Alter fort. Nicht der Sexualtrieb ist demnach entscheidend, sondern das Bedürfnis nach Sicherheit. Damit ist Abhängigkeit nicht länger negativ konnotiert, sondern Bindungsfähigkeit – sowohl der bedürftigen wie der gebenden Person – kennzeichnet psychisch stabile Persönlichkeiten. Dabei war Bowlby ein genialer Eklektiker. Geschickt verknüpfte er eine psychoanalytische Strukturtheorie mit Erkenntnissen aus Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung, Kognitionswissenschaft, Anthropologie und Kybernetik.
John Bowlby wird 1907 in London geboren. Sein Vater Sir Anthony Bowlby ist einer der führenden Ärzte der Stadt und wird als königlicher Chirurg von Edward VII. und George V. zum Ritter ernannt. Die Mutter beschreibt Bowlby als „agile, aufrechte (. . .) Tochter eines Landpfarrers“, der eine gute Ehe wichtiger gewesen sei als Karriere oder höhere Bildung. John ist das vierte von sechs Kindern. Weil London während des ersten Weltkrieges mehrfach bombardiert wird, schicken die Eltern ihn und seinen älteren Bruder ins Internat. Ab 1925 studiert er in Cambridge Medizin und Psychologie. Danach arbeitet er zunächst an einer Schule für verhaltensgestörte Kinder, einem Ableger von Alexander S. Neills Summerhill-Schule. Hier trifft er John Alford, der ihm rät, sich zum Psychoanalytiker ausbilden zu lassen. Doch Bowlbys Ideen entwickeln sich in eine andere Richtung als die der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft. An der Psychoanalyse stört ihn vor allem, dass sie sich fast ausschließlich mit der Fantasie und kaum mit der Realität beschäftigt – am Rand einer Arbeit seiner Analytikerin Joan Riviere notiert Bowlby: „Rolle der Umwelt = Null“. Dem gegenüber betont er die zahlreichen Traumata, denen ein Mensch in seiner Entwicklung ausgesetzt sein kann, etwa Trennungen und Unterbrechungen der elterlichen Fürsorge, Trennungs- und Selbstmorddrohungen der Eltern, das Gefühl, nicht gewollt zu sein oder das „falsche“ Geschlecht zu haben sowie körperlichen und sexuellen Missbrauch. Zudem missfällt ihm an der Psychoanalyse das Dogmatische und Autoritäre. Ihrem „stereotypen, algorithmischen“ Ansatz stellt er seinen „heuristischen“ Ansatz gegenüber, in dem Klient und Therapeut die Dinge ergründen, statt in den Texten des „psychoanalytischen Testaments“ (Holmes) zu forschen: „(. . .) vertrete ich, im Unterschied zur orthodoxen Einstellung (,Ich kenne mich hier am besten aus und werde Sie dies zu gegebener Zeit wissen lassen‘), die Auffassung ,Sie kennen sich hier am besten aus und werden mich dies zu gegebener Zeit wissen lassen‘.“
Ein eigenständiges Band
Am Beginn steht auch eine Empörung: 1951 veröffentlicht Bowlby seine im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation verfasste Studie über den Zusammenhang zwischen mütterlicher Fürsorge und seelischer Gesundheit („Maternal Care and Mental Health“). Der Text endet mit einem Appell an eine „entwickelte“ Gesellschaft, die die fundamentale Bedeutung der menschlichen Bindung vergessen habe. Im selben Jahr wird Bowlby auf Konrad Lorenz aufmerksam und sieht, dass Gänse- und Entenküken eine starke Bindung zu einer Mutterfigur aufbauen, obwohl sie kein Futter von ihr erhalten. Die Psychoanalyse beschreibt die Mutter-Kind-Bindung mit Hilfe der Triebtheorie und der Theorie der Objektbeziehungen. Die Basis der Bindung bleibt bei Sigmund Freud immer die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse (zum Beispiel „Hemmung, Symptom und Angst“ 1926). Für Bowlby ist die Mutter-Kind-Bindung – im Unterschied zu Freud und Melanie Klein – dagegen nicht bloß ein Instinkt, der sich aus der Fütterung oder der kindlichen Sexualität ableitet, sondern ein eigenständiges psychisches Band: „Der Hunger des kleinen Kindes nach Liebe und Gegenwart seiner Mutter ist so groß wie der Hunger nach Essen (. . .) Bindung ist ein ,primäres Motivationssystem‘ mit eigenen Funktionsmechanismen und einer Schnittstelle zu anderen Motivationssystemen“ (1973). Evolutionär verstanden, schützt Bindung vor Raubtieren und ist damit in der Umwelt frühzeitlicher Menschen lebensnotwendig. Wollen sie nicht gefressen werden, müssen Säuglinge und kleine Kinder ständig in der Nähe ihrer Mütter bleiben und eine Trennung deutlich signalisieren.
Als „Bindungsverhalten“ definiert Bowlby jedes Verhalten, das darauf abzielt, „die Nähe eines vermeintlich kompetenteren Menschen zu suchen und zu bewahren, ein Verhalten, das bei Angst, Müdigkeit, Erkrankung und entsprechendem Zuwendungs- oder Versorgungsbedürfnis am deutlichsten wird“. Damit ist die Bindungstheorie im Prinzip eine „räumliche Theorie“ (Holmes): Ist man einem geliebten Menschen nah, fühlt man sich gut; ist man von diesem entfernt, hat man Angst, ist traurig oder fühlt sich einsam. Emotionale Bindungen sind weder aus dem Nahrungs- oder Sexualtrieb ableitbar noch diesen beiden Antrieben nachgeordnet. Bowlby hält es demnach für „irreführend“ und „abwertend“, das situativ je unterschiedliche Bindungsverhalten als „Abhängigkeit“ zu bezeichnen. Ebenso meidet er die negativ besetzten Adjektive „infantil“ und „regressiv“. Menschliches Bindungsverhalten wird durch einen Regelkreislauf im Gehirn gesteuert, laut Bowlby vergleichbar mit der Regulierung von Blutdruck und Körpertemperatur. Dem Zuwendungsbedürfnis des Kindes entspricht das Fürsorgeverhalten der Eltern. Seit 1950 arbeitet und forscht Mary Ainsworth mit Bowlby an der Londoner Tavistock-Klinik. 1967 prägt sie den Begriff der „sicheren oder verlässlichen Basis“: Fühlt ein Kind sich sicher, geht es von der Bindungsperson weg und erkundet die Umwelt; ist es dagegen müde, ängstlich, krank oder besorgt, sucht es die Nähe seiner Bindungsperson.
Test der „Fremden Situation“
In den späten 60er Jahren entwickelt Ainsworth den Test der „Fremden Situation“: Zunächst gehen die Mutter, ihr einjähriges Kind und der Versuchsleiter in ein Spielzimmer. Dann verlässt die Mutter für drei Minuten den Raum. Nach ihrer Rückkehr und gemeinsamer Zeit mit dem Kind verlassen Mutter und Versuchsleiter für drei Minuten den Raum. Anschließend kehrt die Mutter noch einmal zu ihrem Kind zurück. Die Sitzung wird aufgezeichnet. Der Test will verschiedene Möglichkeiten identifizieren, mit Trennungsstress umzugehen. Dabei zeigten sich vier Hauptreaktionen: Sicher gebundene Kinder (66 Prozent) sind meist traurig, wenn sie getrennt werden. Wenn ihre Mutter zurückkehrt, begrüßen sie sie, werden eventuell getröstet und spielen dann zufrieden weiter. In der Gruppe der unsicher gebundenen Kinder finden sich drei Verhaltensmuster: Unsicher-vermeidende Kinder (20 Prozent) sind über die Trennung nicht traurig und ignorieren die Mutter bei ihrer Rückkehr; sie beobachten sie jedoch und sind im Spiel gehemmt. Unsicher-ambivalente Kinder (zwölf Prozent) sind sehr traurig über die Trennung, nach ihrer Rückkehr wechseln sie zwischen wütender Abwendung und engem Kontakt – die Mutter kann sie kaum beruhigen. Unsicher-desorganisierte Kinder schließlich wirken bei Rückkehr der Mutter verstört, wie erstarrt oder bewegen sich stereotyp. Untersuchungen an zweieinhalb Jahre alten Kindern belegen eine hohe Korrelation von kindlichem Bindungsmuster und mütterlichem Verhalten: Mütter von sicher gebundenen Kindern sind aufmerksam, sensibel, hilfsbereit und ermuntern ihr Kind bei Misserfolgen; Mütter von unsicher gebundenen Kindern sind deutlich weniger aufmerksam und sensibel, missachten die Gefühle und Aktivitäten des Kindes und unterstützen es kaum.
Aus den Interaktionen „sicherer“ Mutter-Kind-Paare leitet Bowlby das von ihm favorisierte therapeutische Vorgehen ab. Dabei benennt er fünf Hauptaufgaben des Therapeuten: Dieser muss als verlässliche Basis dienen, von der die Klientin bedrückende und schmerzliche Erfahrungen hinterfragen kann. Zweitens soll er mit der Klientin bedenken, wie sie aktuell ihre Beziehungen zu engen Bezugspersonen gestaltet. Drittens ermutigt er immer auch zur Prüfung der therapeutischen Beziehung. Weiterhin fordert er dazu auf, heutige Erwartungen und Wahrnehmungen mit früheren Situationen zu vergleichen. In einem fünften Schritt kann die Klientin dann zur Einsicht gelangen, dass ihre eigenen Selbst- und Objektbilder vielleicht überholt sind oder gar nicht zutreffen und sinnvolle Alternativen entwickeln und ausprobieren.
Kontinuität der Bindung
Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg einer Therapie sieht Bowlby indes in dem Gefühl, beim Therapeuten gut aufgehoben zu sein. Hier scheinen Parallelen zu Donald Winnicott und Wilfred Bion auf, die mit den Begriffen „Holding“ und „Containing“ die verlässliche therapeutische Basis beschrieben haben. Dabei ist Bowlby von der Veränderbarkeit „innerer Arbeitsmodelle“ überzeugt: „Zum Glück verfügt die menschliche Psyche, ähnlich unseren Knochen, über erstaunliche Selbstheilungskräfte, für deren Aktivierung der Psychotherapeut, vergleichbar dem operierenden Orthopäden, die äußeren Voraussetzungen schaffen muss.“
Als primäre Bindungsperson sieht Bowlby im Rahmen einer Hierarchie meistens die Mutter, gefolgt von Vater, Großeltern, Geschwistern, Paten; doch auch der Vater oder andere Familienangehörige können diese Rolle übernehmen, wenn sie es sind, die sich am meisten um das Kind kümmern. Entscheidend ist ihm zufolge die Kontinuität der Bindung. Anfang der 60er Jahre erntet Bowlby Kritik. Die Ethnologin Margaret Mead etwa wirft ihm vor, Frauen „in ihrem Zuhause festnageln“ und auf ihre biologische Funktion der Mutterschaft reduzieren zu wollen. Tatsächlich klingt manche seiner Lobeshymnen auf die normale, hingebungsvolle Mutterschaft heute sentimental. Und sein Ideal, dass eine Mutter sich ausschließlich um ihre Kinder kümmert, ist heute obsolet. Aber der Wissenschaftler Bowlby hatte eben auch eine moralische Vision. In „Psychology und democracy“ (1946) beschreibt er die Ähnlichkeit der Aufgabe politischer Führungspersonen und fürsorglicher, vertrauenswürdiger Eltern. Auch hier ist seine Haltung optimistisch: Die Bürger eines Staates, durch positive Erfahrungen in ihrer Kindheit liebesfähig und vertrauensvoll, kooperieren mit einer politischen Führung, die ihnen zuhört und ihnen vermittelt, dass sie geschätzt und respektiert werden.
In seinem letzten Lebensjahr veröffentlicht Bowlby seine Biografie Charles Darwins, mit dem er sich zeitlebens identifiziert und mit dem er manches gemein hat. In einem posthum veröffentlichten Text porträtiert Bowlby sich so: „Intuition ist nicht meine Stärke. Stattdessen neige ich dazu, die Theorien, die ich habe, so anzuwenden, dass ich die Probleme des Patienten verstehen kann. Das funktioniert gut, wenn die Theorien anwendbar sind, kann aber ein großes Handicap sein, wenn sie es nicht sind. Vielleicht hat mich gerettet, dass ich ein guter Zuhörer bin, und ich die Theorie nicht zu dogmatisch sehe. Deswegen haben es mehrere meiner Patienten geschafft, mir vieles beizubringen, was ich nicht wusste (. . .)“
Am 2. September 1990 stirbt John Bowlby auf der schottischen Insel Skye. Er hat uns eine „ziemlich interessante Geschichte“ hinterlassen und umfassende Impulse für weitere Forschungen gesetzt.
Christof Goddemeier
1. | Bowlby, J: Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung. Heidelberg 1995. |
2. | Bowlby, J: Bindung als sichere Basis. München 2010. |
3. | Holmes J: John Bowlby und die Bindungstheorie. München 2002. |