ArchivDeutsches Ärzteblatt43/2015E-Health: Telemedizin im Aufwind
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Der Innovationsfonds lockt: Hessen und Baden-Württemberg haben zur Aufholjagd beim Auf- und Ausbau von Telemedizin und Gesundheitstelematik angesetzt.

Foto: dpa
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Im Unterschied etwa zu Nordrhein-Westfalen, Bayern oder Sachsen hat sich Hessen in den vergangenen Jahren nicht gerade als Treiber der E-Health-Entwicklung in Deutschland hervorgetan. Beim bundesweiten Aufbau der Telematikinfrastruktur ist Hessen keine Modellregion, und jüngst erst hat die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen das im geplanten E-Health-Gesetz vorgesehene Versichertenstammdatenmanagement abgelehnt. Doch das Bundesland will aufholen. So geht der zweite hessische Gesundheitspakt für die Jahre 2015 bis 2018 erstmals konkret auf den Ausbau von E-Health- und telemedizinischen Strukturen ein. Vor allem will das Land auch von dem mit 300 Millionen Euro ausgestatteten Innovationsfonds profitieren, den das Versorgungsstärkungsgesetz für Projekte zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen auf den Weg gebracht hat.

„In Hessen gibt es viele gute telemedizinische Projekte, die in die Fläche gebracht werden sollen. Ich hoffe, dass sich Hessen an die Spitze der Bewegung setzen wird“, erklärte Dr. phil. Katja Leikert, MdB, Berichterstatterin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Telemedizin, beim 2. hessisschen E-Health-Kongress in Darmstadt. Es gebe viele praktische Themen, wie E-Health das Leben von Patienten und Versicherten verbessern könne. Als Beispiele nannte die hessische Politikerin unter anderem den elektronischen Impfpass, den eMutterpass und das eRezept, denn „der Weg, um zu Medikamenten zu kommen, ist oft mit großen Hürden verbunden“, so Leikert. Noch sei die Realität im Gesundheitswesen eine andere. Das im parlamentarischen Verfahren befindliche E-Health-Gesetz sei daher in allererster Linie ein Infrastrukturprojekt. „Mit dem E-Health-Gesetz wollen wir eine sichere digitale Kommunikation zwischen Ärzten, Krankenhäusern, Krankenkassen und dem Patienten ermöglichen. Langfristig sollen alle Leistungserbringer einbezogen werden“, erläuterte Leikert. Wichtige Fortschritte des Gesetzes seien der elektronische Medikationsplan und der Notfalldatensatz auf der elektronischen Gesundheitskarte.

E-Health-Gesetz I und II

Nach Meinung der Gesundheitspolitikerin wäre es zudem sinnvoll, zusätzlich die elektronische Patientenakte noch in das Gesetz hineinzunehmen. „Wir wollen mehr als das, was jetzt im Gesetzentwurf steht“, sagte Leikert. „Das Herzstück der Digitalisierung ist auch, dass alles transparenter für den Patienten wird“, betonte sie. Ein zentrales Ziel sei es daher, den Patienten dazu zu befähigen, auf seine eigenen Gesundheitsdaten zuzugreifen. Dies sei ein Thema für ein „E-Health-Gesetz II“, das deutlich anwendungsorientierter aussehen werde als der jetzige Gesetzentwurf.

Auf der E-Health-Agenda steht ihr zufolge zudem auch die Versorgungsforschung. „Ich halte es für einen mittelgroßen Skandal, dass wir eine Menge an Daten haben, diese aber nicht auswerten“, kritisierte die Politikerin. Die Versorgungsforschung werde mit dem „E-Health-Gesetz I“ nicht abgedeckt, sei aber ein Thema, „das sicherlich im nächsten Jahr angegangen wird“, kündigte sie an.

Bei den niedergelassenen Ärzten stößt das E-Health-Gesetz allerdings noch auf Vorbehalte. Bei einer Podiumsdiskussion thematisierte der Vorstandsvorsitzende der KV Hessen, Frank Dastych, „die großen Probleme der Breitbandvernetzung gerade in den ländlichen Regionen“, wie etwa in Bad Wildungen, Wolfhagen und Hofgeismar. Dort habe sich kein Kommunikationsdienstleister bereitgefunden, „ein Krankenhaus und fünf Arztpraxen einschließlich einer radiologischen Praxis vernünftig anzubinden“, so dass sie über den teuren LTE-Mobilfunk ins Netz gehen müssten. Dr. med. Edgar Pinkowski, Präsidiumsmitglied der Landesärztekammer Hessen, verwies auf das sichere Netz der KVen als praktikable Kommunikationslösung für die Ärzte. „Die hochgelobte Telematikinfrastruktur ist noch nicht da, die gibt es nur auf dem Papier. Selbst die Testregionen können nicht beginnen, weil es die Industrie nicht schafft, die Termine einzuhalten“, kritisierte Pinkowski.

Leikert stellte jedoch klar: „Es gibt viele gute Gründe, warum wir eine sichere digitale Kommunikation brauchen, und zwar nicht nur unter den Ärzten.“ Die Telematikinfrastruktur werde für alle Beteiligten im Gesundheitswesen gemacht. „Ich wäre froh, wenn ich hier aus Hessen auch etwas andere Töne hören würde.“ Die Digitalisierung werde große Fortschritte gerade in der intersektoralen Zusammenarbeit bringen. Trotz Widerstand und Beharrungsvermögen – „es gibt keinen Weg zurück“, so Leikert.

Eine zentrale E-Health-Komponente des hessischen Gesundheitspaktes ist IVENA: Mit dem Projekt wird in Hessen derzeit flächendeckend ein Dispositionssystem implementiert, über das die Leitstellen für den Rettungsdienst am Bildschirm die vorhandenen Kapazitäten der Krankenhäuser für die ambulante und stationäre Regel- und Notfallversorgung abrufen können (Kasten Hessen). Die Vorteile: klare Entscheidungsprozesse bei der Patientenzuweisung, mehr Transparenz und eine bessere Zusammenarbeit. „Das Krankenhaus kann sich schneller und früher auf einen Patienten, der auf dem Weg ist, vorbereiten. Das ist für die Prozesse im Krankenhaus eine deutliche Verbesserung“, lobte Rainer Greunke, Hessische Krankenhausgesellschaft. Insbesondere der Notfallpatient profitiere von dem System. Über Hessen hinaus sei es mittlerweile in Brandenburg und in Teilen Bayerns im Einsatz und werde sich bundesweit weiter ausbreiten.

Einen Telemedizin-Schwerpunkt bildet zudem die Optimierung der Schlaganfallversorgung in Hessen. Der Hintergrund ist laut Prof. Dr. med. Thorsten Steiner, Klinik für Neurologie am Klinikum Frankfurt Höchst, ein Versorgungsproblem: „Wir haben mit der Thrombektomie eine sehr wirksame Therapie, die wir noch nicht flächendeckend an so viele Patienten heranbringen können, wie es notwendig wäre“, erläuterte Steiner. Ihm zufolge wäre dies durch den Einsatz von Telemedizin beziehungsweise Teleradiologie möglich, indem etwa das Universitätsklinikum Frankfurt und das Klinikum Frankfurt Höchst als Expertenzentren für umliegende Krankenhäuser fungieren. Gleichzeitig könnte über IVENA die Weiterleitung der Informationen über den Patienten verbessert werden. Um eine entsprechende Infrastruktur für die verbesserte Versorgung in der Fläche aufzubauen, hat sich eine sektorenübergreifende Initiative aus Krankenhäusern, Rettungsdiensten, Krankenkassen, Industrie und Patientenvertretern gebildet, die einen Projektantrag im Hinblick auf den Innovationsfonds anstrebt.

Strukturen schaffen

Auch in Baden-Württemberg hat die Aufholjagd beim Thema E-Health begonnen. Das wurde bei einem Telemedizin-Symposium am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart deutlich, bei dem ähnlich wie in Hessen viele landeseigene Projekte vorgestellt wurden. „Mit der Digitalisierung bieten sich enorme Chancen, um Innovationen auch in der medizinischen Versorgung von morgen sicherzustellen“, erklärte Dr. Simone Schwanitz, Ministerialdirektorin im baden-württembergischen Forschungsministerium. Meilensteine sind die von der Landesregierung beschlossene „Digitale Agenda 2020+ BW“ (http://d.aerzteblatt.de/XT62), die explizit auch das Gesundheitswesen umfasst, sowie die Gründung der Koodinierungsstelle Telemedizin im Jahr 2014 (www.telemedbw.de). Damit habe das Land einen wichtigen Grundstein für den Aufbau telemedizinischer Strukturen gelegt, betonte Schwanitz. Die Koordinierungsstelle werde vom Wissenschaftsministerium im Rahmen einer Anschubfinanzierung bis 2019 gefördert.

Es geht nicht mehr ohne . . .

Die digitale Agenda des Landes sieht unter anderem Investitionshilfen für Landarztpraxen vor, die telemedizinische Verfahren einsetzen, um ein größeres Flächengebiet versorgen zu können. Wie sehr dies auch für die fachärztliche Versorgung gilt, verdeutlichte Dr. med. Michael Barczok, Mitglied im Bundesvorstand der Pneumologen und in der Vertreterversammlung der KV Baden-Württemberg. Der Ulmer Pneumologe versorgt mit seiner Praxis ein großes Einzugsgebiet von etwa 150 Kilometern im Radius. Zu 80 Prozent kommen Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Asthma, COPD und Schlafapnoe in die Praxis. Das Problem: Die Zahl der Pneumologen nimmt ab, ebenso die Versorgungsdichte auf dem Land. Aus seiner Sicht ist Telemonitoring eine große Hilfe zur Sicherung der flächendeckenden (fach)ärztlichen Versorgung, denn „wir schaffen das sonst nicht“.

Versorgung müsse daher neu gedacht werden, forderte der Arzt. Kontrollkontakte müssten zugunsten der Abklärung von Neupatienten oder der Behandlung von Problempatienten verringert werden. „Die persönlichen Kontakte zu dem auf einen Behandlungsplan eingestellten Patienten müssen durch ein Indikatoren-Monitoring komplementär, nicht alternativ, ergänzt werden“, erläuterte Barczok.

Dies ist ihm zufolge möglich, weil „extrem gute Leitlinien zu diesen Krankheitsbildern“ vorhanden sind. Auch seien nur wenige Lungenfunktionsdaten erforderlich, um beispielsweise einen COPD-Patienten zu behandeln. Skalierte Fragebögen könne der Patient dem Arzt auch online übermitteln. Auf diese Weise lasse sich auch auf dem Land weiter eine hochqualifizierte fachärztliche Medizin anbieten. „Dies muss aber Teil eines homogenen Konzepts sein. Der Patient muss außerdem gut instruiert sein“, meinte Barczok. Was fehle, seien die rechtliche Absicherung und der gebührenrechtliche Rahmen für das Telemonitoring. Hierzu habe der Berufsverband der Pneumologen unlängst einen Vorschlag gemacht.

Seit Juni 2014 fördern das Wissenschafts- und das Sozialministerium darüber hinaus zwei Leitprojekte mit insgesamt rund 550 000 Euro, in denen Telemedizin dafür genutzt werden soll, um stationäre und ambulante Angebote auf regionaler Ebene besser zu vernetzen. Eines der Projekte widmet sich der Nutzenbewertung von Telemedizin in der ambulanten geriatrischen Betreuung. Es wird unter anderem vom Robert-Bosch-Krankenhaus geleitet. Im zweiten Projekt „SMARTY“ geht es um die Entwicklung einer „Social Medical Application Platform“ für die sichere Kommunikation zwischen Ärzten, Patienten und Angehörigen am Beispiel der Betreuung von Kindern mit Mukoviszidose, Tracheostoma und Kindern mit chronischen Leber- und Darmerkrankungen und nach Organtransplantationen (Kasten Baden-Württemberg).

Heike E. Krüger-Brand

E-Health in Hessen

IVENA – per Mausklick schneller in die Notaufnahme

Dispositionssystem: Über den webbasierten „Interdisziplinären Versorgungsnachweis“ IVENA können sich die Träger der präklinischen und klinischen Patientenversorgung in Echtzeit über die aktuellen Versorgungsmöglichkeiten der Krankenhäuser informieren. Das System unterstützt die überregionale Zusammenarbeit und bietet eine detaillierte Ressourcenübersicht über die stationären Behandlungs- beziehungsweise Versorgungskapazitäten. Es fungiert als Kommunikationsdrehscheibe zwischen den Krankenhäusern, den zentralen Leitstellen für den Rettungsdienst, den Gesundheitsbehörden und anderen medizinischen Diensten, wie dem Ärztlichen Notdienst oder niedergelassenen Ärzten. Von circa 170 hessischen Krankenhäusern sind 120 bereits angeschlossen. Seit Anfang 2010 ist die Anwendung im Echtbetrieb. Sie umfasst die Disposition von Rettungsdienst-Patienten in der Leitstelle, den Versorgungsnachweis/Bettennachweis und die Vorankündigung von Patienten im Krankenhaus (www.ivena.de)

Weitere Projekte und Produktbeispiele aus Hessen:

  • Teletherapie Stottern: Bei der Online-Variante der Kasseler Stottertherapie handelt es sich um ein computergestütztes Lernprogramm, kombiniert mit Face-to-face-Therapie für betroffene Patienten (siehe auch www.aerzteblatt.de/p15310).
  • „smart medication“: Der elektronische Substitutionskalender und die Telemonitoringplattform zur Therapieoptimierung für Hämophilie-Patienten wurden an der Universität Marburg entwickelt. Eine App ersetzt das Papiertagebuch und verbessert zudem die Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Das System ist ein CE-konformes Medizinprodukt der Klasse I (www.raie.de/smart-medication).
  • „infoskop-eConsent“: Das elektronische Patientenaufklärungssystem auf dem iPad unterstützt zusätzlich die digitale Anamnese und die rechtskonforme elektronische Unterschrift (Einwilligungserklärung) einschließlich Zeitstempel. Mit der signierten Eingriffaufklärung als PDF/A ist zudem ein rechtskonformes Verfahren für die Langzeitarchivierung verfügbar (www.synmedico.com).

E-Health in Baden-Württemberg

MRT in Hamburg, Diagnose aus Heidelberg

Foto: Universitätsklinikum Heidelberg
Foto: Universitätsklinikum Heidelberg

Teleneuroradiologie: Das Universitätsklinikum Heidelberg hat Ende März 2015 eine telemedizinische Praxis in Hamburg eröffnet, um dort Patienten mit peripheren Nervenschäden die MR-Neurographie, ein neues Verfahren der Magnetresonanztomographie, anzubieten. „Damit können wir zum ersten Mal die betroffenen Strukturen direkt visualisieren und haben einen Riesenvorteil in der Diagnostik“, erläuterte Prof. Dr. med. Martin Bendszus, Ärztlicher Direktor der Neuroradiologie am Universitätsklinikum. Der Ansatz: Der Patient wird von geschulten Medizinisch-Technischen Asistentinnen in der Hamburger Praxis mit dem Hochfeld-MRT-Gerät untersucht, die Bilder werden in Echtzeit vom Spezialisten in Heidelberg befundet. Das Gespräch zwischen Arzt und Patient findet anschließend per Videokonferenz statt. Über eine sichere Client-Verbindung können dabei externe Spezialisten hinzugeschaltet werden. Die Aktzeptanz bei den Patienten sei überaus gut. Technisch laufe der Betrieb „absolut zuverlässig“, so Bendszus.

Virtueller Behandlungsraum zur Betreuung chronisch kranker Kinder

SMARTY: An der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin des Uniklinikums Tübingen wird ein sicheres virtuelles Behandlungszimmer zum Informations- und Datenaustausch erprobt. „Wir wollen eine Kommunikationsplattform für drei seltene chronische Erkrankungen entwickeln und dabei auch die Patienteneltern ins Boot holen“, erläuterte der Projektleiter, Priv.-Doz. Dr. med. Joachim Riethmüller. „Die Krankheitsbilder sind mit einem hohen Handlungs- und Kommunikationsaufwand verbunden, und in die Betreuung sind viele Personen eingebunden“, so Riethmüller. Problematisch sei oft auch die räumliche Entfernung, so liege etwa das Einzugsgebiet der Mukoviszidose-Patienten bei mehr als 300 Kilometern im Radius. Die Plattform (Firma Careon) soll eine zeitnahe Behandlung und schnelle Kommunikation ermöglichen, zu Zeitersparnis für den Arzt führen und lange Warte- und Reisezeiten für die Patienten vermeiden helfen.

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