POLITIK
Choosing wisely: Mut haben, etwas nicht zu tun


Die AWMF und ihre Fachgesellschaften wollen mit ihrer Initiative „Gemeinsam Klug Entscheiden“ an internationale „Choosing wisely“-Programme anknüpfen und übliche Versorgungspraktiken in Deutschland hinterfragen sowie wissenschaftlich begründete Empfehlungen erstellen.
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) startet unter dem Leitsatz „Gemeinsam Klug Entscheiden“ eine Qualitätsoffensive. Mit ihr möchte sie wissenschaftlich begründete, fachübergreifende und mit Patientenvertretern abgestimmte Empfehlungen zu wichtigen Gesundheitsfragen in die öffentliche Diskussion bringen. Ihr Motto: „Sinnvolle Medizin in einem Hochleistungsgesundheitssystem“.
„Gemeinsam Klug Entscheiden“ orientiert sich dabei an der bekannten internationalen Initiative „Choosing wisely“, im Rahmen derer sich seit 2011 wissenschaftliche Fachgesellschaften mit dem Thema unnötiger oder sogar schädlicher medizinischer Leistungen beschäftigen und für die verschiedenen Fachgebiete Top-5-Listen mit „Don’t do-Empfehlungen“ erarbeiten.
Kunst des Tuns oder Lassens
„Ärzte sollen Gewohntes hinterfragen, das vielleicht nicht immer das Beste für den jeweiligen Patienten ist“, sagte AWMF-Präsident Prof. Dr. med. Rolf Kreienberg im Vorfeld des Berliner Forums der AWMF Mitte Oktober in Berlin. „Zur Kunst des Tuns oder Lassens gehört zudem immer das persönliche Gespräch und die gemeinsame Entscheidung von Arzt und Patient.“
Aus Sicht der AWMF passt die internationale „Choosing wisely“-Initiative aber nicht 1:1 in die deutsche Versorgungslandschaft. Mögliche Ursachen für Überdiagnostik oder Übertherapie seien in Deutschland die Sorge vor juristischen Konsequenzen, die Anspruchshaltung mancher Patienten, aber auch das deutsche Anreizsystem, das zu einer stärkeren Belohnung des Handelns im Vergleich zum Unterlassen führe. Zwar seien die „Choosing wisely“-Intiativen angetreten, um Ärzten und Patienten den nötigen Mut zu geben, auch einmal etwas nicht zu tun, erläuterte der AWMF-Präsident. Aber: „Wir sollten nicht allein identifizieren, welche medizinischen Leistungen kritischer zu hinterfragen sind, sondern im Rahmen von ‚Gemeinsam Klug Entscheiden‘ auch, welche zu selten in Anspruch genommen und stärker unterstützt werden sollten.“
Um der Initiative einen Rahmen zu geben, hat die AWMF im Frühjahr eine Ad-hoc-Kommission eingesetzt, die das methodische Vorgehen entwickelt und testet. „Gemeinsam Klug entscheiden“ zielt darauf ab, die in Deutschland bestehenden medizinischen Versorgungsprobleme aus Sicht der Fachgesellschaften zu identifizieren. Die Auswahl der anzusprechenden Gesundheitsfragen und die Entwicklung der Empfehlungen obliege jedoch den einzelnen Fachgesellschaften. Mehr als zehn beteiligten sich bereits sehr aktiv, weitere würden derzeit folgen, berichtete Kreienberg.
Ziel: Individuellere Medizin
„Die Initiative setzt dort an, wo Leitlinien nicht umgesetzt werden oder fehlen“, erklärte Prof. Dr. med. Ina Kopp, Leiterin des Instituts für Medizinisches Wissensmanagement der AWMF. „Am Ende sollen klug ausgewählte Empfehlungen als Wissensgrundlage für wissenschaftlich und ethisch begründete Entscheidungen stehen. Diese gilt es, in verständlicher Form in eine öffentliche Diskussion und schließlich auf den Schreibtisch des Arztes zu bringen.“ Dabei seien die Handlungsempfehlungen jedoch nicht so zu verstehen, dass ein Arzt sich blind daran halten soll, ergänzte Kreienberg. Das Thema Fehlversorgung betreffe nämlich nicht allein das ärztliche Sprechzimmer und könne auch nicht allein hier gelöst werden. „Die Initiative ist auch eine Antwort auf die zunehmende marktwirtschaftliche Orientierung des Gesundheitssystems“, sagte Kopp. Ziel sei es allerdings nicht, einige Leistungen nicht mehr zu finanzieren, sondern eine individuellere Medizin.
„Es reicht nicht aus, aufgrund randomisierter Studien evidenzbasierte Empfehlungen zu erarbeiten, gegebenenfalls Über-, Unter- und Fehlversorgung festzustellen und dann To-do- beziehungsweise Not-to-do-Empfehlungen auszusprechen“, erläuterte Prof. Dr. med. Karl Werdan, Wissenschaftlicher Sekretär der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung. „Entscheidend ist, im Rahmen einer adäquaten Versorgungsforschung die einzelnen Entscheidungskomponenten differenziert zu erfassen und damit die Ursachen von Über-, Unter- und Fehlversorgung darzulegen.“
Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann
Warum „Choosing wisely“?
Wir müssen sowohl bei Ärzten als bei Patienten ein Bewusstsein schaffen, dass es ein Zuviel an Diagnostik und Therapie geben kann. Der bewusste Verzicht auf Maßnahmen kann manchmal die beste Entscheidung sein, erfordert aber ein hohes Maß an ärztlicher Erfahrung und klinischem Wissen. Das muss in der Weiterbildung gezielt vermittelt werden, um Klarheit bezüglich therapeutischer und diagnostischer Entscheidungen zu schaffen. Ich erwarte aber auch eine Systemänderung: Es sollten keine falschen ökonomischen Anreize gesetzt werden, die vor allem die Durchführung diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen vergüten. Stattdessen muss die ärztliche Beratung adäquat vergütet werden.
Dr. med. Alexis Michael Müller-Marbach, Sprecher der Jungen Internisten der
Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Düsseldorf
Es ist eine altbekannte medizinische Erkenntnis, dass „mehr Arzt und weniger Medizin“ oft das Beste ist für Patient, Arzt und Gesundheitssystem gleichermaßen. Durch die Initiative der AWMF wird dieses Prinzip auf eine systematische Basis gestellt. Es geht darum, Behandlungsziele zu definieren, die konkret auf den Patienten und seine Lebensqualität abgestimmt sind. Ausschlaggebend ist dabei das Heranziehen von evidenzbasierten Fakten, die im Sinne höchstwertiger Empfehlungen zu guten ärztlichen Entscheidungen führen. Diese wissenschaftlichen Fakten werden idealerweise in klinischen Registern auf ihren Nutzen im Versorgungsalltag überprüft und vorhandenes Wissen dadurch ergänzt.
Dr. med. Günther Jonitz, Präsident der Ärztekammer Berlin
Die AWMF-Initiative ist sinnvoll und auch gerade für junge Ärzte hilfreich. Sowohl in der Ausbildung als auch in der Weiterbildung stellt eine sehr große Menge an diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten in einer sich individualisierenden Medizin Ärztinnen und Ärzte vor die Herausforderung, evidenzbasiert die richtige Wahl zu treffen. Ohne bereits aufbereitete Evidenz wäre es praktisch unmöglich für Berufsanfänger, „klug“ zu entscheiden. Zudem sollte die Weiterbildung evidenzbasiert erfolgen. Deswegen sehe ich die weiterbildenden Ärzte in der Verantwortung, „kluge Entscheidungen“ zu treffen und diesen Entscheidungsprozess mit den Weiterzubildenden zu teilen. Diese sind aber selbstverständlich auch in der Verantwortung, ihre Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen.
Jan Bauer, Weiterbildungsassistent, Frankfurt/Main
Hobmair, Willibald