ArchivDeutsches Ärzteblatt46/2015Betriebliches Gesundheitsmanagement: Zunächst einmal Führungsaufgabe

THEMEN DER ZEIT

Betriebliches Gesundheitsmanagement: Zunächst einmal Führungsaufgabe

Andresen, Philipp; Fuchs, Birgit; Koelber, Bernhard

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Eine Feldstudie über Mitarbeitergesundheit, Führungskultur und betriebliches Gesundheitsmanagement in Kliniken

Aneinander vorbeilaufen: Gesundheitsgefährdend ist die fatale Mischung aus einseitiger Belastung unter hohem Arbeitsdruck und einem Klima der Entwertung und Ignoranz. Foto: picture alliance
Aneinander vorbeilaufen: Gesundheitsgefährdend ist die fatale Mischung aus einseitiger Belastung unter hohem Arbeitsdruck und einem Klima der Entwertung und Ignoranz. Foto: picture alliance

Dass die Arbeit im Gesundheitswesen überdurchschnittlich hohe Krankenstände erzeugt und besondere physische und psychische Belastungen in sich birgt, ist durch Fakten gut belegt. So wies 2013 das Gesundheitswesen mit 4,6 Prozent bundesweit den höchsten Branchenkrankenstand auf, berufsgruppenspezifisch fallen die Zahlen zum Beispiel bei den Pflegekräften mit circa sechs Prozent noch gravierender aus. Was verbirgt sich hinter diesen abstrakten Zahlen? Wie sieht der Mikrokosmos des Arbeitsalltags aus, der zu solchen Ausfällen führt? Zwei kurze Beispiele aus der Beratungspraxis:

  • Im onkologischen Team eines Krankenhauses rumort es gewaltig. Hohe Fluktuation und Krankenstände im Pflegeteam, große Unzufriedenheit bei den Assistenzärzten und überdurchschnittlich häufige Zwischenfälle und Komplikationen lassen die Geschäftsführung aufhorchen. In einer Reihe von Interviews wird eine fatale Dynamik im Team deutlich: Vor gut zehn Jahren ist die Onkologie aus zwei fusionierten Fachabteilungen gebildet worden. Damals musste sich eine Chefärztin fortan mit der Position der leitenden Oberärztin zufrieden geben. Die Degradierung führt zu tiefer Kränkung und innerer Kündigung. Der Alltagsfrust wird von ihr dabei ungefiltert, bis hin zu körperlichen Übergriffen, am Pflegeteam ausgelassen, dessen Stationsleitung ängstlich und zurückhaltend reagiert. Die Folge ist eine Negativselektion: Motivierte und selbstbewusstere Kräfte verlassen das Team, es bleiben Menschen, die Angst haben, die sich zuviel gefallen lassen und deren einziger Fluchtweg darin besteht, krank zu werden. Natürlich erhöht solch ein Arbeitsklima auch die Fehleranfälligkeit.

Der Chefarzt reagiert mit Hilflosigkeit und verstärkter Kontrolle, alle Visiten werden von ihm persönlich durchgeführt, die Handlungsspielräume für sein Team bleiben stark eingeschränkt. Dringend notwendige Klärungsgespräche werden nicht oder sehr halbherzig geführt.

  • Auf der psychiatrischen Akut-Aufnahme-Station eines Krankenhauses fallen immer wieder Kollegen für sehr lange Zeiträume aus, auch psychisch bedingte Fehlzeiten häufen sich. Das Schlagwort „Burn-out“ fällt häufig. Im Laufe eines
    Organisationsentwicklungs-Prozesses wird folgendes Muster deutlich: Bedingt durch räumliche Enge und massive Überbelegung kommt es immer wieder zu eskalierenden und gewalttätigen Situationen, durch die das Personal psychisch massiv belastet wird. Eine strukturierte Aufarbeitung solcher Situationen, Entlastungsstrategien für unvorhergesehene Aufnahmen sowie eine systematische Deeskalation finden nicht oder nur in Ansätzen statt. Stattdessen wird massiv in Sicherheitstechnologien und stärkere Abschottung investiert. Die Folge: Der Druck auf Patienten und Personal steigt – im Team breitet sich eine solidarische Aufopferungsmentalität aus. Die eigenen Belastungsgrenzen werden kollektiv ignoriert, ausgeprägter Präsentismus macht sich breit.

Jeder Ausfall bedeutet eine gravierende Mehrbelastung

Auch gesundheitlich schwer angeschlagene Kollegen schleppen sich zum Dienst, bis der unvermeidliche Zusammenbruch zu langen Ausfallzeiten führt, die das Team in der beschriebenen Dynamik zu kompensieren versucht. Ein „circulus vitiosus“ aus dem Lehrbuch, der sich auch in anderen Teams der Gesundheitsbranche häufig findet, da bei den dünnen Personaldecken jeder Ausfall gravierende Mehrbelastung für den Rest des Teams bedeutet.

Die beiden leicht verfremdeten Beispiele haben eins gemein: Sie zeigen, dass massive gesundheitliche Probleme der Mitarbeiter in einem unheilvollen Zusammenspiel struktureller und kultureller Faktoren entstehen. Und sie zeigen auch, wie die Führungskräfte Teil einer mitverursachenden Disbalance sind – sei es als passive Zuschauer schwelender Konflikte und struktureller Missstände oder sei es durch direkt oder indirekt entwertendes Verhalten gegenüber Mitarbeitern.

Es ist nicht primär das Ausmaß an Belastung, das Mitarbeiter krank macht. Im Gegenteil können hohe Anforderungen bei angemessenen Gestaltungsmöglichkeiten, einer sinnhaften und transparenten Aufgabenstellung und einer wertschätzenden Grundhaltung zu Höchstleistungen motivieren. Gesundheitsgefährdend ist erst die fatale Melange aus einseitiger Belastung unter hohem Arbeitsdruck und einem Klima der Entwertung und Ignoranz. Diese Kombination findet sich leider auch in Kliniken immer wieder, auch in der Pflege und den zuarbeitenden Berufsgruppen, wie Reinigungskräften, Schreibdiensten et cetera. Auch wenn die Forschungsergebnisse nicht konsistent sind, deuten viele Studien darauf hin, dass die genannten Handlungsfelder der Autonomie, der Transparenz und der Wertschätzung/sozialen Unterstützung zentralen Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeiter haben.

Als Antwort auf steigende Belastungen und Ausfallquoten versuchen viele Kliniken, Angebote und Projekte ins Leben zu rufen, die unter dem Label „betriebliches Gesundheitsmanagement“ (BGM) laufen. Sie sollen auf der einen Seite die Gesundheit und Belastbarkeit der Mitarbeitenden fördern (Verhaltensprävention) und auf der anderen Seite gesundheitsfördernde Prozesse und Strukturen etablieren (Verhältnisprävention). Schaut man auf die Praxis betrieblichen Gesundheitsmanagements in Krankenhäusern, erlebt man häufig eine Beschränkung auf singuläre Angebote und Events. Zu nennen wären hier beispielhaft Präventionskurse, Gesundheitstage, Antiraucher-Kampagnen oder Gesundheitszirkel ohne nachhaltiges Konzept und intelligente Vernetzung.

Auch wenn mit besten Absichten ins Leben gerufen, verpufft die Wirkung vieler Projekte schnell und ohne nennenswerte Resonanz. Angebote werden entweder nicht wahrgenommen oder sind nicht kompatibel mit Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. Viele Appelle, zum Beispiel zu gesunder Ernährung, werden von Mitarbeitern überlasteter Teams als Makulatur aufgefasst. Sie sehen die Probleme eher in der personellen Unterbesetzung und der verdichteten Belastung. Darüber hinaus unterstützen die Führungskräfte die Angebote häufig kaum, gerade wenn es darum geht, zeitliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Zusammengefasst fehlt den meisten Angeboten neben einer strategischen Ausrichtung und der Implementierung entsprechender Strukturen der kulturelle Boden, auf dem sie gedeihen können. Es fehlt eine Werthaltung, in der Mitarbeitergesundheit als wichtiges Gut aufgefasst wird, das vom Unternehmen nachhaltig gepflegt werden muss – und allzu oft wird der Faktor Führung als Motor einer entsprechenden Unternehmenskultur und -strategie unterbewertet oder ausgeblendet.

BGM im Pfalzklinikum Klingenmünster

Das Pfalzklinikum ist mit psychiatrisch-psychotherapeutischen, sozial- und gemeindepsychiatrischen sowie neurologischen Angeboten in zwölf pfälzischen Städten und Gemeinden präsent, weitere Standorte sind geplant. Es ist mit einem Umsatzvolumen von circa 100 Millionen Euro ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und mit rund 1 800 Beschäftigten auf mehr als 1 300 Vollzeitstellen einer der größten Arbeitgeber der Region.

Das Pfalzklinikum befindet sich in einem Organisationsentwicklungs-Prozess, der 2008 mit dem Projekt „zukunftsfähige Arbeit im Pfalzklinikum“ angestoßen wurde. Die grundlegende Idee ist, unter Beteiligung von Führungskräften und Mitarbeitern frühzeitig die gesamte Organisation auf die zukünftigen Anforderungen auszurichten. Das umfasst sowohl die Modifikation von Arbeitsumfeld, -inhalten und -prozessen als auch die nachhaltige Veränderung von Haltungen und damit der Unternehmenskultur. Das Management der Klinik entschied, dieses Ziel durch die Einführung eines das gesamte Unternehmen durchdringenden betrieblichen Gesundheitsmanagements umzusetzen. Bei der Implementierung in die bestehende Organisationsstruktur wurde auf eine bewusste Trennung zwischen dem Lenkungskreis BGM und dem Arbeitssicherheitsausschuss Wert gelegt. Die Vernetzung beider Gremien ist eng, deren Aufgabenstellungen wurden aber nicht vermengt.

Wesentliche Elemente des betrieblichen Gesundheitsmanagements sind einerseits die Qualifizierung und Begleitung der Führungskräfte und andererseits die Beteiligung und Gestaltungsverantwortung der Mitarbeiter. Umgesetzt wird dies durch die Weiterentwicklung des bestehenden Personalentwicklungskonzeptes für alle Führungsebenen. Des Weiteren wurden aus der Mitarbeiterschaft 20 sogenannte BGM-Beauftrage ausgewählt und qualifiziert, die in unterschiedlichen Einrichtungen und Abteilungen des Hauses mit Kollegen Gesundheitszirkel durchführen. Diese zählen zur Arbeitszeit, die Teilnahme der Mitarbeiter ist freiwillig. Ziel dieser Gesundheitszirkel ist es, aus Mitarbeiter- und somit aus Praxissicht Arbeitsprozesse gesundheitsförderlich zu gestalten.

Das Konzept des BGM am Pfalzklinikum vereint Elemente der Verhaltens- und der Verhältnisprävention. Im Fokus des Pfalzklinikums steht jedoch eindeutig die Verhältnisprävention. Hierin wird eine nachhaltige Chance gesehen, Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass sie gesunderhaltend sind und die Arbeitsbewältigungsfähigkeit der Mitarbeiter erhalten bleibt. Die seit einigen Jahren etablierte BGM-Struktur wurde auf diesen Ansatz ausgerichtet. Sie erfüllt durch einen Lenkungskreis, der im Auftrag von Geschäftsführung und Klinikumvorstand handelt, zum einen Top-down-Aufgaben, fördert zum anderen durch eine Beauftragten- und Gesundheitszirkelstruktur gleichzeitig Bottom-up-Prozesse. Die BGM-Beauftragten haben eine eigene Lern- und Austauschplattform und werden bei ihren Aufgaben, etwa bei der Organisation und Leitung der Gesundheitszirkel in ihren Einrichtungen, durch eine hauptamtliche Koordinatorin unterstützt.

Da die Führungskräfte durch ihr Vorbildverhalten, durch ihre Akzeptanz von Gesundheitsangeboten und durch ihren Führungsstil einen prägenden Einfluss auf die Mitarbeitergesundheit haben, wurde einer flächendeckenden Sensibilisierung für diese Zusammenhänge eine Schlüsselrolle zugewiesen.

Unter dem Titel „Salutogenese im Führungsalltag“ wurde vom Klinikum ein zweitägiges Training für das mittlere Management veranstaltet – flächendeckend über alle Berufsgruppen und Einrichtungen hinweg. Das Trainingskonzept wurde in Kooperation zwischen dem Institut für Unternehmensgesundheit aus Berlin und dem Pfalzklinikum entwickelt. Trainingsziele waren,

  • die Zusammenhänge zwischen eigenem Führungsverhalten und Gesundheitserleben der Mitarbeiter transparent zu machen,
  • als Führungskräfte die eigenen Stressmuster zu reflektieren und die eigene gesundheitliche Balance zu stärken,
  • konkrete Optionen aufzuzeigen, wie gesundheitsförderliches Führungsverhalten auch unter anspruchsvollen Rahmenbedingungen möglich ist,
  • einen konstruktiven Umgang mit gesundheitsgefährdeten Mitarbeitern zu trainieren.

Insgesamt lag der Schwerpunkt darin, praxisnahe Möglichkeiten aufzuzeigen, wie unter den Herausforderungen des Klinikalltags gesundheitsförderlich geführt werden kann. Ausdrücklich kein primäres Ziel der Veranstaltung war die Senkung von Krankenständen oder die einseitige Zuschreibung von Schuld und Verantwortung.

Von der Krankheitsvermeidung zur Gesundheitsförderung

In der Folge ist es gelungen, Organisationsstrukturen aufzubauen, die die Auseinandersetzung mit Themen des betrieblichen Gesundheitsmanagements sichern. Die Strukturen (Lenkungskreis, Fachgruppe, BGM-Beauftragte, Gesundheitszirkel) haben inzwischen ihre Fähigkeit bewiesen, Probleme, Anliegen, Verbesserungspotenziale und Vorschläge aufzugreifen, zu bewerten und als Managementaufgabe anzugehen.

Die intensive Implementierungsphase in den Jahren 2013 und 2014, unterstützt durch ein vom Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördertes Projekt, hat in der Organisation eine erhebliche Dynamik ausgelöst. Diese trug entscheidend dazu bei, das BGM bekannt zu machen, Sensibilität für Präventionsthemen zu entwickeln und eine Vielzahl von Mitarbeitern in Fortbildungsangebote und Arbeitsgruppen mit salutogenetischen Ansätzen und Inhalten einzubinden. Der Paradigmenwechsel vom „Krankheits-Vermeidungs-Denken“ zum „Gesundheits-Förderungs-Denken“ wurde eingeleitet.

Eine wichtige Erfahrung aus mehreren Jahren BGM-Einführung ist jedoch auch, dass es sich hier um einen komplexen Organisationsentwicklungs-Prozess handelt, der Zeit braucht und der auf mehreren Ebenen immer wieder befeuert und
vorangetrieben werden muss.

Betriebliches Gesundheitsmanagement wird von vielen Mitarbeitern immer noch auf das möglichst „unentgeltliche“ Vorhalten von gesundheitsfördernden Angeboten reduziert. Der Gedanke des eigenverantwortlichen Mitwirkens an der salutogenen Gestaltung der Arbeitsprozesse und des Arbeitsumfelds setzt sich erst langsam durch. Dies betrifft Mitarbeiter genauso wie Führungskräfte.

Von Letzteren hängt es – und dies ist eine weitere Erfahrung aus dem Prozess – sehr stark ab, inwieweit die Leitgedanken des BGM bei den Beschäftigten ankommen und wie die dementsprechend aufgebauten Strukturen auch in diesem Sinne wirksam werden können. Dazu gehört die Ressourcen- und Aufgabenklärung für die BGM-Beauftragten ebenso wie die Kommunikation mit den Mitarbeitern. Das konsequente Verfolgen von begonnen Maßnahmen sowie die eigene Vorbildwirkung der Führungskräfte bei der Bewältigung von Stresssituationen zählen ebenfalls dazu. Eine zentrale Managementaufgabe wird es sein, die richtigen Interventionen zu finden, um dem System immer wieder Impulse im Sinne der Ziele des BGM zu verleihen und damit auch immer wieder notwendige Energien zum Weitermachen freizusetzen.

Philipp Andresen
Institut für Unternehmensgesundheit in Berlin
Birgit Fuchs, Bernhard Koelber
Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie AdöR Klingenmünster

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