MEDIZINREPORT
Endoprothetik: Zwischen Anspruch und Realität


Schmerzfreies Laufen nach Gelenkersatz reicht den meisten Patienten heute nicht mehr, viele streben Extremsportarten an. Doch der Belastungsfähigkeit und Lebensdauer einer Prothese sind – trotz Verbesserungen – Grenzen gesetzt.
Der Anspruch der Menschen, bis ins hohe Alter hinein mobil und sportlich zu bleiben, steigt – auch unter Patienten mit künstlichem Gelenkersatz. Ob neue Materialkombinationen, Verankerungstechnik und das Know-how der Chirurgen diesen gestiegenen Ansprüchen nach Langlebigkeit Rechnung tragen können, war Thema einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Endoprothetik in Frankfurt/Main. „Rund 95 Prozent unserer Patienten sind mit ihren Implantaten zufrieden. Bei den fünf Prozent mit Komplikationen sind wir herausgefordert“, sagte Prof. Dr. med. Carsten Perka, Charité-Universitätsmedizin, Berlin.
Dies betreffe nicht nur Patienten, die ihr normales Lauftraining, Schwimmen oder Radfahren wieder aufnehmen möchten. „Vielmehr bereiten uns die gestiegenen Ansprüche der Patienten Sorge, die Marathon laufen, Yoga praktizieren, Klettern und Fußball spielen wollen.
Solche Erwartungen seien dank biomechanischer Erkenntnisse nicht unmöglich, so Perka. „Die Verankerungsmöglichkeiten, die verwendeten Gleitpartner sowie die Fähigkeit, das ‚normale‘ Bewegungsmuster eines Gelenks nachzubilden, haben in die neueste Generation der Implantate Eingang gefunden.“ Allerdings müsse der Patient auch begreifen, wo die Grenzen eines künstlichen Gelenks in Sachen Belastung und Langlebigkeit lägen. Patientenaufklärung im Vorfeld, die mit überzogenen Erwartungen und Illusionen aufräumte, sei daher notwendig. Denn: „Eine Endoprothese, die ein Leben lang hält, wird es nicht geben.“
Zwei Gleitpaarungen
Dass die Lebensdauer eines künstlichen Gelenks nicht nur von der Wahl des Materials, sondern auch entscheidend vom Geschick des Chirurgen abhängig sei, betonte Prof. Dr. habil. Michael M. Morlock, Leiter des Instituts für Biomechanik an der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Probleme bei Implantaten, die eine Revision notwendig machten, seien eher auf das Vorgehen des Chirurgen und das Verhalten des Patienten zurückzuführen als auf das Design oder das Material bei etablierten Prothesen. Probleme träten gehäuft an der Grenzfläche zum Knochen oder zu anderen Implantatkomponenten auf, so Morlock.
Seit einigen Jahren hätten sich zwei Gleitpaarungen als Standard etabliert: Keramikkopf plus Keramikschale sowie die Schale aus Kunststoff mit Keramik- oder Metallkopf. Diese Paarungen garantierten eine entsprechend große Beweglichkeit des Kunstgelenks. Ebenfalls etabliert haben sich nach Angaben von Morlock der zementfreie Einbau des Gelenks, der für junge Patienten Vorteile biete. Titan eigne sich überwiegend für den Schaft und nicht für Gleitpaarung. Ein Keramikkopf sei weniger anfällig für Korrosionen als Metallköpfe, die sehr sorgfältig aufgesetzt werden müssten. Polyethylen sei als Material für den Gelenkersatz rückläufig.
Zurückhaltend werde derzeit die robotergestützte Vorgehensweise eingesetzt, da ein Roboter nur starr in exakt bestimmten Fräsbahnen arbeiten könne. „Da der Knochen jedoch ein beweglicher Stoff ist, ist eine starre Fräsbahn ungeeignet“, erklärte Morlock. In einer eigenen Studie an jeweils 60 Patienten, die klassisch oder robotergestützt Hüftimplantate erhielten, hätten Letztere nach dem Eingriff gehumpelt, weil der Roboter auch Muskulatur abgefräst hat.
Morlock zeigte sich jedoch überzeugt davon, dass in fünf bis zehn Jahren die robotergestützte Chirurgie in eine neue Ära eintrete.
Der Experte betonte, wie wichtig einerseits Bewegung für eine Endoprothese sei, warnte jedoch auch vor Übertreibungen: „Moderate Bewegung fördert, zu viel schadet“, so seine Devise. Komplikationen träten durch frühzeitigen Verschleiß an den Metallteilen auf, da durch Ionenpartikel-Freisetzung die Korrosion gefördert werde.
Morlock wies auf ein weiteres Problem hin: Bedingt durch den hohen Erwartungs- und Preisdruck für Implantate würden neue Produkte in den Markt eingeführt, obwohl keine langjährigen klinischen Erfahrungen vorlägen. Dieses Vorgehen hätte in den letzten zehn Jahren bei einer Handvoll neuartiger Designs zu einer erhöhten Rate von Komplikationen (Implantatbruch, Verlagerung, Infektionen), zu Revisionen und zu weltweiten Entschädigungen von über fünf Milliarden Euro geführt.
Morlock plädierte deshalb dafür, „Vorgehensweisen zu etablieren, dass neuartige Produkte in der Zukunft sicher in den Markt eingeführt werden können, um Innovationen überhaupt zu ermöglichen.“ Dazu sei die Einführung eines verbindlichen Endoprothesen-Registers unerlässlich. Die Ergebnisse aus anderen Ländern zeigten, dass eine weitere Verbesserung der Langlebigkeit von künstlichen Gelenken nicht primär durch Produktinnovationen, sondern durch das Adressieren von drei Faktoren zu erreichen sei, nämlich durch:
- robuste Implantatsysteme, die von allen Operateuren erfolgreich eingesetzt werden können,
- eine verbesserte, standardisierte und geprüfte Aus- und Weiterbildung sowie
- eine realistische Patientenerwartung, die den inhärenten Limitationen von künstlichen Gelenken Rechnung tragen.
Bisher sei die Teilnahme der Kliniken an der Erfassung freiwillig. Doch spätestens ab Mitte 2017 sollte diese für alle implantierenden Kliniken Pflicht sein. Seit zwei Jahren werde dieses Register aufgebaut. Derzeit befänden sich 150 000 Datensätze von Kliniken, Krankenkassen und Implantaten im System. Allein die 36 000 Komponenten in der Datenbank zu erfassen (pro Hersteller sind es bis zu 100 Einzelteile) sei ein immenser Aufwand. Mit ersten Ergebnissen sei in diesem Jahr zu rechnen.
Als Beispiel für Transparenz und Qualität nannte Heinrich Wecker, Vice President Medical Technology bei Ceramtec und Stellvertretender Sprecher des Exekutivkomitees des Deutschen Endoprothesenregisters EPRD, die EndoCert-Initiative der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC). Sie sei das weltweit erste Zertifizierungssystem in der Endoprothetik. Die derzeit 600 teilnehmenden Zentren können damit ihre Qualitätsprozesse zertifizieren lassen. Die Zertifizierungskriterien beruhen auf überprüfbaren Qualitätsparametern (zum Beispiel Patientenvorbereitung, Checklisten, Dokumentation, OP-Training, Implantatschulung).
Periprothetische Infektion
Wecker zeigte sich überzeugt davon, dass „die Zertifizierung ein wichtiger Schritt zu noch mehr Implantatsicherheit ist, da EndoCert weit über produkt- und implantat-spezifische Aspekte hinausblickt, und von einem umfassenden ganzheitlichen Qualitätsverständnis ausgeht. Dazu gehört selbstverständlich auch die Teilnahme am Endoprothesen-Register.“
Eine gefürchtete Komplikation bei künstlichem Gelenkersatz ist die periprothetische Infektion. Sie liegt zwischen 0,5 bis zwei Prozent bei Primäroperationen und zwischen drei bis sieben Prozent bei Revisionsoperationen. Um die Infektionsrate zu reduzieren, müssten laut Wecker strenge Standards eingehalten werden hinsichtlich: Patientenkontrolle mittels Erreger-screening, Sterilisation der Instrumente, Desinfektion sowie der Hygienekontrolle des Personals (zum Beispiel mit antiseptischen Waschungen). Auch für die Chirurgen sei ein Zeitfenster für eine Hüftprothese von etwa 45 Minuten, für eine Knie-OP maximal 1,5 Stunden anzusetzen. Wecker räumte allerdings ein, dass der Eingriff bei übergewichtigen Patienten (BMI > 35) länger dauern könne, was das Infektionsrisiko dieser Personengruppe erhöhe.
Hinsichtlich des Materials erprobten Techniker beispielsweise mit Beschichtungen auf Titan, die Keimen keine Chancen lassen, sich am Material festzusetzen. Wünschenswert wäre es, einen wirksamen Abstoßungseffekt erzielen zu können, ähnlich wie beim „Lotuseffekt“ einer Glasscheibe, die Regentropfen einfach abperlen ließen.
Nicht nur die Gewichtszunahme, auch Osteoporose im Alter seien bei der Wahl der Prothese und bei dem chirurgischen Eingriff zu berücksichtigen. Um die Chirurgen in neuen Techniken zu schulen und den Lernerfolg auch zu überprüfen, sei die Einrichtung einer Akademie sinnvoll, in der alle Techniken für die Endoprothetik gelehrt werden müssen. Dabei sei die Ausbildung an anatomischen Instituten sinnvoll, denn bislang erfolge diese in aller Regel am Patienten.
Die Belastung, der ein Implantat ausgesetzt sei, müsse auch bei Innovationen berücksichtigt werden, so Experte Morlock. So sollten in den standardisierten Testverfahren die Hüftprothesen nicht nur auf Gehen, sondern auch auf Stolpern und Treppensteigen geprüft werden. Denn ein Implantat soll ja 20 Jahre im Patienten halten, und das Stolpern ohne Sturz belastet die Gelenke am stärksten.“
Regine Schulte Strathaus
Zahlen und Fakten
Pro Jahr werden in Deutschland 400 000 Knie-, Hüft- und Schultergelenke implantiert. Die Arthrose ist die mit Abstand häufigste Indikation. Sie verursacht heute rund acht Millionen Arbeitsunfähigkeitstage und 18 000 Frühverrentungen pro Jahr. 2014 wurden rund 220 000 künstliche Hüftgelenke sowie 150 000 künstliche Kniegelenke implantiert.
Unter allen chirurgischen Eingriffen haben diese Implantate eine der höchsten chirurgischen Erfolgsquoten: Über 95 Prozent der Hüftimplantate haben eine Lebensdauer von mehr als zehn Jahren. Patienten mit endoprothetischem Gelenkersatz konnten nachweislich ihre Sportaktivitäten steigern und somit ihren Fitnesszustand verbessern.
Geeignete, moderate Sportarten, die die muskuläre Stabilität fördern: Skifahren, Laufen, Schwimmen, Golfen, Radfahren, Wandern, Nordic Walking.
Nicht geeignet sind stark gelenkbelastende Sportarten wie: Marathon, Squash, Hand- und Fußball, Bungeejumping, Skate- und Snowboarden, Klettern, Yoga und Mountenbiking.
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