BRIEFE
Evidenzbasierte Medizin: Weiterentwicklung notwendig


Schon der „Einstieg“ in das Thema ist in der Tat geeignet, die „Grenzen der evidenzbasierten Medizin“ abzustecken: Die Frage nach der Schmerzlinderung durch Cannabis ist ein hochgradig ideologisch besetztes Thema. Keine Chance für die wissenschaftliche Evidenz, sich durchzusetzen; selbst wenn es Hunderte von Studien gäbe, die keinen das Risiko übersteigenden Nutzen dieser Art von Schmerztherapie zeigen könnten.
Die meisten der im Folgenden erwähnten Einwände gegen die EbM (zum Beispiel „RCTs sind idealisiert“) werden vorgebracht, seit es die ersten Ansätze zu einer EbM gibt, das heißt also seit 200 Jahren. Der Aderlass wurde erst Anfang des 19. Jahrhunderts durch vergleichende Untersuchungen als unnütz und gefährlich erkannt, aber diese Untersuchungen wurden als neumodische „numerische Methode“ abgewertet, die die Wirklichkeit nicht abbilde und der ärztlichen Kunst wie der Individualität des Patienten hohnspreche.
Der Glaube an die Koryphäe werde durch den Glauben an die Leitlinie ersetzt, welche letztere aufgrund von „Machtpositionen“ erstellt werde und vom einzelnen Arzt ebenso nicht überprüfbar sei, heißt es. Das ist aber schlicht falsch: Der entscheidende Unterschied zwischen der Eminenz und der Evidenz besteht in der Transparenz; in der Überzeugungskraft der Evidenzhierarchie. Es wäre für den Facharzt oder den klinisch tätigen Sub-Spezialisten eine Sache von wenigen Minuten, stichprobenartig zu prüfen, ob wesentliche Studien von der Leitlinienkommission in ihren Grundaussagen richtig interpretiert sind. Niemand aber kann die Kompetenz einer „Koryphäe“ prüfen, die sich auf nichts als die eigene klinische Erfahrung beruft. Die Autoren schließen sich der Ansicht Miettinens an, dass die Forderung nach „Beurteilungskompetenz“ wissenschaftlicher Aussagen eine „Selbstüberschätzung“ wäre. Halten sie es auch für eine Selbstüberschätzung eines Informatikers, über die mathematischen Grundlagen der von ihm eingesetzten Algorithmen Bescheid wissen zu wollen?
Es ist völlig korrekt, dass es zur Abgrenzung von Paramedizin nicht genügt, von einer „atheoretischen“ Basis ausgehend ausschließlich die Studienlage zu berücksichtigen. Vielmehr ist es erforderlich, naturwissenschaftliche Tatsachen, einschließlich des gesunden Menschenverstandes, in die Bewertung der A-priori-Wahrscheinlichkeit positiver Studienergebnisse einzubeziehen. In jüngster Zeit hat es den Versuch gegeben, im deutschen Sprachraum den Begriff der wissenschaftsbasierten Medizin unter dem Namen „Scientabilität“ bekannt zu machen. Nicht in der Abkehr von der EbM kann die Antwort liegen, sondern nur in ihrer Weiterentwicklung. In diesem Zusammenhang ist noch anzumerken, dass der Terminus „homöopathische Informationstheorie“ für die inkonsistenten Ausflüchte der Homöopathie-Adepten zu hoch gegriffen ist und diese unverdient adelt.
„Die EbM ist Partei“ – das ist richtig. Sie nimmt Partei für den medizinischen Fortschritt, der ohne sie undenkbar ist. Sie nimmt Partei gegen die Willkür, die Beliebigkeit, den Obskurantismus und gegen die Geschäftemacherei mit dem Leid der Patienten, wider alle Evidenz. . . . Niemand, außer den Gegnern der EbM, unterstellt, dass Leitlinien auf alle Fragen eine Antwort haben oder in Stein gemeißelt sind und im Einzelfall keine Abweichung erlauben würden. Aber man sollte seine Gründe haben. Was die juristische Seite angeht: Wenn die vernünftige Abweichung von einer Leitlinie heute zu einer Verurteilung des Arztes führen würde, dann hätten die Gutachter versagt. Kurz: Ärztliche Kunst heute kann nicht gegen die EbM formuliert werden.
Literatur beim Verfasser
Dr. med. Matthias Mindach, 15230 Frankfurt