MEDIZINREPORT
Versorgung von Flüchtlingen: Diagnostik und Prävention im Kindes- und Jugendalter
; ; ; ;


Schwere Infektionen, fehlende Impfungen und angeborene Erkrankungen sind aktuelle Herausforderungen.
Die adäquate medizinische Versorgung von Flüchtlingen stellt das Gesundheitssystem derzeit vor neue Herausforderungen. Kinder und Jugendliche, die als Flüchtlinge – zum Teil auch unbegleitet – nach Deutschland kommen, sind aus mehreren Gründen besonders gefährdet: Schwere Infektionen treten gehäuft im Kleinkindalter auf, Impfungen wurden in den Herkunftsländern häufig nicht mehr durchgeführt. Zudem können angeborene Erkrankungen (beispielsweise Herzfehler) bestehen, die aufgrund fehlender oder unzureichend dokumentierter Vorsorgeuntersuchungen nicht erkannt worden sind. Gemäß Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention haben Kinder einen Anspruch auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit.
In den Erstaufnahmestellen sollen durch ein „Kurzscreening“ (frühzeitige Basisuntersuchung) akute medizinische Probleme, potenziell übertragbare Infektionen (inklusive Tuberkulose), spezifische Impflücken, aber auch andere behandlungsbedürftige Erkrankungen erkannt und therapiert werden.
Die Dokumentation aller Befunde ist essenziell, um Doppeluntersuchungen zu vermeiden und die weitere Behandlung zu optimieren. Hierfür ist eine funktionierende Kommunikationsstruktur zu schaffen.
Nach Verteilung der Flüchtlinge auf die Kommunen sollen im Rahmen der ambulanten oder stationären Versorgung die von der STIKO empfohlenen Standardimpfungen vervollständigt werden. Generell sind Flüchtlinge in allen medizinischen Bereichen mit dem gleichen medizinischen Niveau zu versorgen wie die einheimische Bevölkerung. Konkret wird folgendes praktisches Vorgehen vorgeschlagen):
In der Erstaufnahmestelle: Die bei Erwachsenen durchgeführte „Inaugenscheinnahme“ mit kurzer Anamnese ist im Kindes- und Jugendalter nicht ausreichend, um infektiologische und andere gesundheitliche Probleme sicher zu erkennen. Es wird daher empfohlen, bereits frühzeitig nach Ankunft eine ärztliche Basisuntersuchung mit fokussierter Anamnese, klinischer Untersuchung und Erfassung des Impfstatus durchzuführen (konkreter Vorschlag zum Umfang dieser Untersuchung siehe Tabelle).
Bestehende Impflücken sollen bereits in der Erstaufnahmestelle sobald wie möglich geschlossen werden (1). Dabei wird die Dringlichkeit der Durchführung von Impfungen innerhalb der Erstaufnahmestelle in vier Stufen unterteilt:
1) Die Vervollständigung des Impfschutzes gegen Masern, Mumps, Röteln und Varizellen hat aus Sicht des Patienten und der Gemeinschaft die höchste Priorität.
2) Danach folgen in der Dringlichkeit der Individualschutz gegen Tetanus sowie der Schutz vor Diphtherie, Poliomyelitis und Pertussis, wobei letzterer auch aus der Sicht der Gemeinschaft zu fordern ist, um Ausbrüche zu verhindern. In Gemeinschaftsunterkünften sollten minderjährige Flüchtlinge zudem gegen saisonale Influenza geimpft werden (Priorität 2).
3) Die Impfung aller Flüchtlinge im Kindes- und Jugendalter in Gemeinschaftseinrichtungen gegen Meningokokken (bevorzugt mit MenACWY-Konjugat-Impfstoff) und bei Säuglingen unter drei Monaten gegen Rotaviren (Abschluss der Impfung vorzugsweise bis zum Alter von 16–22 Wochen) ist zur Vermeidung der Ausbreitung von Ausbrüchen sinnvoll (Priorität 3).
4) Standardimpfungen gegen Pneumokokken und humane Papillomaviren sollen analog zu den Indikationen der STIKO ebenfalls zeitnah verabreicht werden, idealerweise bereits bevor die Flüchtlinge auf die Kommunen verteilt werden (Priorität 4).
Die im Erwachsenenalter übliche Durchführung eines Röntgen-Thorax zum Ausschluss einer Tuberkulose ist bei Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren aufgrund der geringen Sensitivität und der Strahlenbelastung abzulehnen. Stattdessen sollte zum Ausschluss einer Tuberkulose bei Kindern < 5 Jahren ein Tuberkulin-Hauttest angelegt werden, bei Kindern und Jugendlichen zwischen fünf und 15 Jahren kann ein Tuberkulin-Hauttest (THT) oder ein Interferon-gamma-Release-Assay (IGRA) verwendet werden (2).
Ambulante Weiterbehandlung: Neben Anamnese und klinischer Untersuchung wird die Bestimmung eines Differenzialblutbildes sowie – vor allem bei Herkunft aus Hochprävalenzländern wie Sub-Sahara – eine serologische Untersuchung auf HIV (mit Einverständnis der Eltern oder Sorgeberechtigten) und Hepatitis B empfohlen.
Der Impfstatus soll nach den aktuellen STIKO-Empfehlungen komplettiert werden. (3)
Hat in den Erstaufnahmestellen kein Tuberkulose-Screening stattgefunden, soll es im Rahmen der ambulanten Weiterbehandlung mit Hilfe eines Tuberkulin-Hauttestes (THT; unter fünf Jahren) oder eines Interferon-gamma-Release-Assays (IGRA) beziehungsweise THT (zwischen fünf und 15 Jahren) nachgeholt werden.
Stationäre Behandlung: Zusätzlich zur Komplettierung der Basisuntersuchung soll bei Flüchtlingen ein Screening auf multiresistente Erreger (MRE) vor respektive bei jeder stationären Aufnahme erfolgen, wenn der Patient:
- innerhalb der letzten zwölf Monate im Herkunftsland beziehungsweise im Transit einen Krankenhausaufenthalt oder wiederholten Kontakt mit Einrichtungen des Gesundheitssystem hatte oder
- eine frühere Kolonisierung oder Infektion mit MRE bekannt ist oder
- chronische Wunden oder Hautläsionen aufweist.
Darüber hinaus sollte ein MRE-Screening vor allem in Hochrisikobereichen (Intensivstationen, Onkologie, Transplantationsmedizin) erfolgen, wenn der Patient:
- eine Flüchtlingsanamnese in den letzten drei Monaten hat oder
- in einer Gemeinschaftseinrichtung untergebracht ist.
Allgemeine Bemerkungen: Die Dokumentation und Weitergabe medizinischer Befunde an den Schnittstellen sind eine essenzielle Voraussetzung für die adäquate medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Ein Dokument über die Basisuntersuchung inklusive eines Impfpasses soll dem Flüchtling/Asylsuchenden mitgegeben werden, entweder in Papierform* oder elektronisch.
Dr. med. Johannes Pfeil (DGPI)
Priv.-Doz. Dr. med. Robin Kobbe (GTP)
Dr. med. Stefan Trapp (BVKJ)
Dr. med. Christa Kitz (GTP))
Priv.-Doz. Dr. med. Markus Hufnagel (DGPI)
Zusammenfassung der Stellungnahme von: Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit (GTP) und Berufsverband der Kinder und Jugendärzte (BVKJ). Kinderheilkunde 2015; 12: 1269–1286
* www.bvkj.de/mitglieder/medien-und-materialien als pdf-Datei.
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0416
oder über QR-Code.
Heudorf, Ursel; Kempf, Volkhard A. J.
Kommentare
Die Kommentarfunktion steht zur Zeit nicht zur Verfügung.