POLITIK: Das Gespräch
Das Gepräch mit dem KBV-Vorstand, Dipl.-med. Regina Feldmann und Dr. med. Andreas Gassen, sowie Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs: „Ärzte und Psychotherapeuten bewegen sich oftmals in einer Grauzone“
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Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vereinbart, alle Möglichkeiten zu nutzen, um Kindern und Jugendlichen Schutz und Hilfe bei sexualisierter Gewalt anzubieten.
Gerade haben neu aufgedeckte Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs das Land erschüttert: Im Erzbistum Regensburg wurden in den 1970er Jahren mindestens fünfzig Jungen aus dem Chor der „Regensburger Domspatzen“ missbraucht und misshandelt. Die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), dessen Stelle nach Bekanntwerden der ersten Fälle sexuellen Missbrauchs am Berliner Canisius-Kolleg 2010 von der Bundesregierung eingerichtet wurde, bleibt deshalb nach wie vor immens wichtig.
Der derzeitige Unabhängige Beauftragte, Johannes-Wilhelm Rörig, und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) haben jetzt eine Vereinbarung unterzeichnet, in der die KBV sich verpflichtet, alle Möglichkeiten zu nutzen, um Kindern und Jugendlichen in der ambulanten Versorgung verbesserten Schutz und Hilfe bei sexualisierter Gewalt anzubieten. Rörig wurde von dem 2010 eingerichteten runden Tisch „Sexueller Missbrauch“, beauftragt, ein Monitoring einzurichten, welches die Einführung von Schutzkonzepten in Einrichtungen unterstützt und beobachtet. Das Monitoring, das zusammen mit dem Deutschen Jugendinstitut durchgeführt wird, soll in den nächsten Jahren die Bereiche Bildung, Freizeit, religiöses Leben und Gesundheit unter die Lupe nehmen.
„Arzt- und Psychotherapeutenpraxen als Kompetenz- und Schutzräume sind für die Betroffenen von sexuellem Missbrauch besonders wichtig“, sagt Rörig. Zunächst werden im Rahmen des Monitorings gemeinsam mit Ärztekammern und Berufsverbänden besonders gelungene Praxisschutzkonzepte mit Vorbildcharakter identifziert und analysiert. In einer zweiten Runde soll gemeinsam mit niedergelassenen Kinderärzten und -psychiatern, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, Hausärzten und Gynäkologen überlegt werden, wie man die einzelnen Hilfs- und Präventionsmaßnahmen im Praxisalltag etablieren kann. „Das Monitoring hat auch einen motivierenden Aspekt: Es soll helfen, sich mit dem Thema zu beschäftigen und das Richtige zu tun, wenn man mit einem Fall sexualisierter Gewalt in seiner Praxis konfrontiert ist“, erläutert der Missbrauchsbeauftragte.
„Ärzte und Psychotherapeuten bewegen sich dabei oftmals in einer Grauzone“, betont Dipl.-med. Regina Feldmann, KBV-Vorstand. „Sie sollten aber nicht warten, bis etwas passiert, sondern der Fokus liegt in einer deutlich verbesserten Wahrnehmung potenziellen sexuellen Missbrauchs. Hausärzte müssen auch bei Hausbesuchen die Augen sehr offenhalten, gerade bei Problemfamilien.“ Feldmann appelliert an die Ärzte, sich mehr auszutauschen mit Mitarbeitern der Jugendhilfe in den Landrats- und Bezirksämtern, und auch mit Kollegen in Qualitätszirkeln. „Vor Ort existiert teilweise schon eine sehr gute Zusammenarbeit, aber man kann sie noch intensivieren.“ Dieser Austausch und entsprechende Fortbildungen seien besonders für die „Grauzonen“ sehr wichtig, sagt Hausärztin Feldmann: „Jeder Arzt wird sich sehr genau überlegen, ob das Gesagte ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch war oder nicht, und wird im Zweifel vorsichtig sein.“
Die KBV will Ärzte und Psychotherapeuten verstärkt darauf hinweisen, dass es Meldebefugnisse bei sexuellem Kindesmissbrauch gibt. In der Vergangenheit wurde kritisiert, dass die neuen Regelungen des Bundeskinderschutzgesetzes zur Mitteilungsbefugnis noch nicht allen Angehörigen der Heilberufe ausreichend bekannt seien. Diese Mitteilungsbefugnis sieht vor, dass Ärzte und Psychotherapeuten bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung zuerst aktiv auf die Inanspruchnahme von Hilfen bei den Eltern hinwirken sollen. Gelingt dies nicht, sollten sie den Rat einer „insoweit erfahrenen Fachkraft“ der Jugendhilfe einholen beziehungsweise das Jugendamt informieren. Somit sind sie von der Schweigepflicht entbunden.
„Unser Anliegen ist es, dass das Problem des sexuellen Missbrauchs von Ärzten und Psychotherapeuten insgesamt mehr wahrgenommen wird. Es darf nicht im Alltagsgeschäft untergehen. Die KBV, aber auch die Vorstände der Kassenärztlichen Vereinigungen, werden das unterstützen“, stellt der KBV-Vorstandsvorsitzende Dr. med. Andreas Gassen klar.
Aus den Berichten der Betroffenen, die sich beim Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (08 00 22 55 530) seit 2010 gemeldet haben, weiß man, dass Ärzte als „privilegierte Ansprechpartner“ gelten, denen sie sich anvertrauen würden. Auf der anderen Seite sagen aber viele Betroffene sexuellen Missbrauchs im Nachhinein auch, dass Ärzte im Gespräch nicht immer angemessen reagiert hätten oder nicht darauf vorbereitet gewesen seien. „Kollegen, die häufig mit solchen Fällen zu tun haben, wie zum Beispiel Psychotherapeuten, haben in der Gesprächsführung natürlich Erfahrung,“ erklärt Gassen dazu. „Wenn Kollegen aber das erste Mal mit so etwas zu tun haben, ist es auch ein schwieriger Balanceakt. Wir können versuchen, mit Informations- und Fortbildungsangeboten zu helfen und dennoch wird man gerade bei sexuellem Missbrauch nicht in einer standardisierten Form vorgehen können.“ Hinsichtlich entsprechender Fortbildung ist der KBV-Vorsitzende der Ansicht, dass „man noch nachlegen kann. Wir werden den Unterstützungsbedarf abfragen“.
Unterstützung im therapeutischen Sinne brauchen auch Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch häufig im Erwachsenenalter. Der UBSKM hat deshalb, mit Unterstützung der KBV, 2013 das Hilfeportal „Sexueller Missbrauch“ eingerichtet (www.hilfeportal-missbrauch.de). Betroffene und Angehörige sowie Fachkräfte können sich über die Datenbank des Portals informieren, wo es Beratungsstellen oder geeignete Therapieangebote in ihrer Region gibt. Das Portal informiert darüber hinaus über die Rechte von Betroffenen und was sie in einem Strafverfahren erwartet. Die KBV hat Ärzte und Psychotherapeuten in den letzten Jahren aufgerufen, sich in diese Datenbank einzutragen, wenn sie entsprechende Angebote machen können. Gibt es inzwischen genügend spezifische Therapieplätze für Betroffene sexuellen Missbrauchs?
Der Missbrauchsbeauftragte beantwortet diese Frage klar negativ: „Betroffene haben oft erhebliche Schwierigkeiten, einen Therapeuten zu finden, der im Themenfeld des sexuellen Kindesmissbrauchs erfahren ist. Viele Therapeuten haben das Thema weder in der Aus- noch in der Weiterbildung gehabt, und die wenigen erfahrenen Traumatherapeuten haben lange Wartezeiten.“ Rörig findet es wichtig, dass die Aus- und Weiterbildung in traumaspezifischen Therapieansätzen intensiviert wird. Seiner Ansicht nach sollten aber auch Therapieverfahren, die bisher nicht als Richtlinienverfahren zugelassen sind, in den Kanon aufgenommen werden: „Viele Betroffene sagen uns, dass Gesprächstherapie, Körpertherapie und Kreativtherapien besonders hilfreich sind.“ Er hofft, dass bei der Überarbeitung der Psychotherapie-Richtlinie, mit der der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) derzeit beschäftigt ist, „die spezifischen Bedürfnisse von Betroffenen sexueller Gewalt in den Blick genommen werden – ich werde selbst auf den G-BA zugehen, um erneut darauf hinzuweisen“.
Dies ist auch im Sinne der KBV.
Gassen erläutert: „Es ist natürlich günstig, wenn solche Therapieverfahren unter diesem besonderen politischen Aspekt angeschoben werden können, damit unsere Gesamtvertragspartner auch motiviert sind, die entsprechende Schwerpunktsetzung vorzunehmen.“ Es sei oft das Problem, dass gerade solche Therapien, die nicht ganz standardmäßig verliefen, von der Vergütung ausgeschlossen und damit deutlich unattraktiver seien. „Das ist besonders fatal in den Fällen, in denen Betroffene sexueller Gewalt auf Therapien angewiesen sind. Daher ist es gut, wenn man den Zugang anders gestaltet: Man könnte die Indikationen definieren, für die diese Therapieverfahren dann gelten“, schlägt Gassen vor. Feldmann ergänzt, dass die psychotherapeutischen Berufsverbände an der Neugestaltung der Psychotherapie-Richtlinie beteiligt seien: „Wir hören aus dem Fachausschuss Psychotherapie, dass schon intensiv an abrechnungsfähigen Zugängen zu traumaspezifischen Ansätzen gearbeitet wird.“
Auch Ärzte, Psychotherapeuten und Angestellte in Praxen können zum Täter werden. Über solche Übergriffe haben Betroffene beim Hilfetelefon des UBSKM berichtet. Auf die Frage, wie man verhindern kann, dass eine Praxis kein Tatort wird, antwortet Gassen: „Schwarze Schafe gibt es überall, solche Handlungsweisen sind katastrophal, ganz eindeutig. Das sind glücklicherweise Einzelfälle. Bei individuellem Fehlverhalten in dieser Dimension wird man mit normalen Maßnahmen wenig erreichen können. Natürlich werden solche Fälle strafrechtlich verfolgt, aber wirksame Prophylaxen wird es wahrscheinlich in letzter Konsequenz nicht geben können.“
Rörig ist dagegen der Meinung, dass Ärzte durchaus Präventionsmaßnahmen einführen könnten, um zu verhindern, dass eine Praxis kein Tatort wird. „Allein, wenn man das Thema in die Kommunikation der Praxis aufnimmt, zum Beispiel die Initiative ,Kein Raum für Missbrauch’ unterstützt, also Flyer auslegt und Plakate aufhängt, ist man schon einen großen Schritt weiter (Kasten). Wenn es eine höhere Sensibilität für das Thema sexueller Missbrauch gibt, schrecken potenzielle Täter sehr viel stärker davor zurück, ihre Tat umzusetzen.“ Wichtig sei auch, dass jemand in der Praxis berufen wird, der für Beschwerden zuständig ist. Ärzte sollten offen für das Thema sein.
Zurück zu den aktuellen Missbrauchsfällen im Erzbistum Regensburg. Wie würde Rörig die Zusammenarbeit mit dem Missbrauchsbeauftragten der katholischen Kirche, Bischof Dr. Stefan Ackermann, beschreiben? „Sehr positiv. Ich kann ganz klar erkennen, dass es bei Bischof Ackermann und bei vielen Verantwortlichen in den 27 Diözesen ein großes Engagement hinsichtlich Prävention und Aufarbeitung gibt – aber leider noch nicht bei allen Verantwortlichen.“ Die Fälle der Regensburger Domspatzen zeigten deutlich, dass über Jahre der Institutionsschutz im Vordergrund gestanden habe. Daher sei es richtig, dort jetzt einen unabhängigen Beauftragten einzusetzen. Rörig: „Die Aufarbeitung ist noch ein langer und auch schmerzhafter Prozess.“
Petra Bühring, Rebecca Beerheide
Kein Raum für Missbrauch
Die Kampagne „Kein Raum für Missbrauch“ soll die breite Öffentlichkeit für das Thema sexueller Missbrauch weiter sensibilisieren, Tabus aufdecken und die Handlungsmöglichkeiten für Täter eingrenzen. 2015 wurde in dieser Reihe ein Flyer veröffentlicht, der sich speziell an Ärzte und Psychotherapeuten richtet und dem Deutschen Ärzteblatt und der Ausgabe PP für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten beilag. Ihnen wird darin nahegelegt:
- Patienten zu signalisieren, dass sie jederzeit bei ihnen Hilfe bekommen können,
- vertrauensvolle Ansprechpartner für Betroffene von sexueller Gewalt zu sein,
- kompetent zu handeln und weiterzuhelfen, wenn eine Missbrauchssituation oder der Verdacht darauf bekannt wird,
- Präventionsmaßnahmen anzuwenden, damit die eigene Praxis kein Tatort wird,
- sich über lokale Hilfsangebote und Beratungsstellen für Betroffene von sexueller Gewalt zu informieren,
- sich und seinen Angestellten die Möglichkeit zur Fortbildung auch über rechtliche Fragen einzuräumen,
- Beschwerdefreundlichkeit zu signalisieren, für den Fall, dass Kinder in der Praxis selbst einer unangenehmen Situation ausgesetzt sind,
- bereits bei der Personalauswahl den Aspekt Kinderschutz beachten und deutlich machen, dass die Praxis ein geschützter Ort ist.
@Flyer und Plakate können für den
Praxisbedarf kostenlos beim UBSKM angefordert werden:
http://d.aerzteblatt.de/RY78
die vereinbarung
Die KBV-Vorstände Regina Feldmann und Andreas Gassen haben mit dem Missbrauchsbeauftragten Johannes-Wilhelm Rörig (Mitte) vereinbart, alles in ihren Strukturen Mögliche zu tun, Kinder und Jugendliche, gemäß den Leitlinien zur Prävention und Intervention und Aufarbeitung des runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“, vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Sie wollen die Kommunikation über sexualisierte Gewalt erleichtern, denn „Schweigen hilft nur den Tätern“. Gemeinsam wollen sie eine stärkere Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema und die Gefahren fördern und stärken. Sie wollen sich zudem für eine systematische Aufarbeitung von Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs in der Vergangenheit einsetzen.
Tibone, Giulietta