MEDIZINREPORT
Arzneimittelstudien: Seltener und rätselhafter Todesfall


Nach dem Tod eines Probanden und schweren gesundheitlichen Schäden bei weiteren Teilnehmern einer Phase-1-Studie bleibt die Ursache unklar. Verschlossenheit der Behörden und der beteiligten Unternehmen erschwert die Aufklärung.
Eine Phase-1-Wirkstoffstudie ist ein früher Schritt auf dem langen Weg, die Patientensicherheit bei neuen Medikamenten sicherzustellen. Nun ist es dabei im französischen Rennes zu einem schweren Zwischenfall gekommen. Bei fünf von sechs Studienteilnehmern, die parallel eine erhöhte Dosis einer Testsubstanz erhielten, traten schwere Schäden im Zentralnervensystem auf. Ein Proband ist an den Folgen verstorben.
Hierzulande horcht man bei solchen Nachrichten besonders auf. Denn nach den USA ist Deutschland das zweitwichtigste Land für klinische Studien: In den letzten elf Jahren wurden mehr als 10 000 klinische Prüfungen von der deutschen Aufsichtsbehörde, dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), genehmigt. Darunter waren alleine mehr als 2 700 Prüfungen, die wie der fatal fehlgeschlagene Test in Frankreich, mit gesunden Probanden durchgeführt wurden. Mehr als 100 000 gesunde Freiwillige zählte das BfArM bei den Studien. Dabei wurde kein einziger schwerwiegender Zwischenfall dieser Art und dieses Ausmaßes beobachtet.
Zum Vergleich: Seit Erhöhung der Sicherheitsanforderungen im Jahr 2007 wurden in der EU mehr als 12 000 klinische Prüfungen der Phase 1 durchgeführt, ohne schwerwiegende Komplikationen.
Bei dem untersuchten Wirkstoff handelt sich um einen Inhibitor des körpereigenen Enzyms Fettsäure-amid-Hydrolase (FAAH). FAAH ist am Abbau der körpereigenen Endocannabinoide beteiligt. Einer Hemmung dieses Enzyms werden unter anderem schmerzstillende Wirkungen zugeschrieben. In Deutschland werden derzeit keine Studien mit diesem Arzneimittel durchgeführt. Bislang wurden aber insgesamt sieben klinische Prüfungen mit FAAH-Inhibitoren genehmigt, die bereits alle beendet sind. Bei keiner dieser Studien in Deutschland waren schwere Zwischenfälle bei Patienten oder gesunden Probanden aufgetaucht.
Recherchen von Zeitungen und durch Whistleblower
Viele Fakten darüber, was nun in Frankreich auf tragische Weise schiefgelaufen ist, sind noch unbekannt. Dazu trägt bei, dass sich bislang weder die französischen Behörden, noch das portugiesische Pharmaunternehmen Bial beziehungsweise die für die Ausführung der klinischen Studie verantwortliche Firma Biotrial sonderlich kommunikativ zeigen.
So musste selbst die kryptische Bezeichnung des verwendeten Wirkstoffs „BIA 10–2474“ erst durch Recherchen von Zeitungen und durch Whistleblower ans Licht kommen, bis er offiziell bekannt gegeben wurde. „Kodenamen für Medikamentenkandidaten dienen dazu, deren Struktur zu verschleiern“, erklärt Christopher Southan von der University of Edinburgh im Fachmagazin Nature. „Das sollte sich meiner Meinung nach ändern.“
Inzwischen ist der Tageszeitung Le Figaro jedoch ein Studienprotokoll zugespielt worden, das die Molekülstruktur beschreibt. Erst nach dessen Veröffentlichung wurde auch dieses Protokoll von den französischen Behörden freigegeben. Nun können auch andere Forscher bei der Aufarbeitung helfen und herausfinden, warum der Wirkstoff solch verheerende Auswirkungen auf die Probanden hatte.
Der Zwischenfall in Frankreich erinnert stark an eine fehlgeschlagene klinische Phase-1-Studie aus dem Jahr 2006 in Großbritannien, die im darauffolgenden Jahr zu einer Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen in der EU geführt hatte.
Der Wirkstoff TGN1412, der gegen Autoimmunerkrankungen wirken sollte, führte nach dessen Verabreichung in der klinischen Prüfung bei allen sechs Probanden innerhalb weniger Stunden zu akut auftretenden, schockähnlichen Nebenwirkungen. Die Nacken und Köpfe der Probanden waren massiv angeschwollen. Augenzeugen berichteten, dass sich die Betroffenen vor Schmerzen krümmten und „sich teilweise die Kleider vom Körper rissen“.
Sofort wurden alle Personen auf die Intensivstation verlegt. Zwei Teilnehmer schwebten mit mehrfachem Organversagen noch Tage später in Lebensgefahr und mussten bis zu 14 Wochen im Krankenhaus bleiben. Am Ende überlebten aber alle – obwohl sie bis heute unter den Folgen leiden. Der wohl größte Fehler, der damals gemacht wurde, war es, allen sechs Probanden gleichzeitig die Dosis zu verabreichen. So waren mehr Probanden betroffen und man musste gleichzeitig an „mehreren Fronten kämpfen“.
„Aus diesem Fall hatte zumindest ich den Schluss gezogen, dass es ein großer Fehler ist, an einem Tag der Phase-1-Studie mehrere Teilnehmer mit identischen Dosen zu testen“, sagte Catherine Hill, Expertin für die Planung und Durchführung für klinische Medikamententests und früher selbst Mitglied der französischen Zulassungsbehörde für Medizin- und Gesundheitsprodukte (ANSM) in Nature.
Doch die Hinweise verdichten sich, dass dieser Fehler in Frankreich erneut gemacht wurde. Insgesamt erhielten 90 Freiwillige im Alter zwischen 18 und 55 Jahren den Wirkstoff, dessen Dosis bei den individuellen Gaben langsam erhöht wurde. Dabei waren keine schädlichen Nebenwirkungen aufgefallen.
Den sechs später erkrankten Teilnehmern wurde als ersten mehrmals an aufeinanderfolgenden Tagen eine höhere Dosis verabreicht. Und das nach bisherigem Erkenntnisstand gleichzeitig. Der erste Proband erkrankte am 10. Januar, wurde in eine Klinik eingeliefert und starb am 17. Januar. Die anderen fünf wurden am 11. Januar in eine Klinik eingeliefert.
Einer der Probanden konnte schnell wieder entlassen werden, alle anderen, deren Zustand als ernst, aber stabil bezeichnet wird, sind entlassen oder in heimatnahe Kliniken verlegt worden. Bei 28 Probanden, die den Wirkstoff in Einzeldosen zu sich nahmen wurden keine Auffälligkeiten festgestellt, alle anderen sollen zeitnah untersucht werden.
Trotzdem stellt sich die Frage, ob nicht mit Hilfe von Computersimulationen und vorklinische Untersuchungen an Zellkulturen und Tieren eine so starke Nebenwirkung hätte allgemein ausgeschlossen werden können. „Die Phase-1-Studien werden durch die vorklinischen Tests an Zellkulturen und Tieren so sicher wie möglich gemacht. Mit Blick auf die Probandensicherheit ist das ein hochgradig regulierter Prozess. Ohne Studien mit Probanden wird man aber letztlich nie mit absoluter Gewissheit sagen können, was im Menschen passieren wird“, sagte Maik Pommer, Pressesprecher des BfArM dem Deutschen Ärzteblatt.
„Genau dafür sind diese Tests mit gesunden Freiwilligen unerlässlich.“ Dass es trotzdem kaum schwere Zwischenfälle gebe, werde neben den vorklinischen Untersuchungen insbesondere dadurch gewährleistet, dass Probanden anfangs nur eine sehr geringe Dosis verabreicht bekommen, die nur schrittweise erhöht werde. Die Dosis liege deutlich unter der in der Vorklinik untersuchten und auch unter der therapeutischen Dosis.
Seit 2004 müssen klinische Prüfungen in Europa behördlich genehmigt werden. In Frankreich zum Beispiel wird die Genehmigung von der ANSM und in Deutschland vom BfArM ausgestellt. Damit die Sicherheit der Teilnehmer von klinischen Prüfungen gewahrt wird, kontrollieren die Wissenschaftler des BfArM jede klinische Prüfung. Dabei bewerten sie die Unterlagen zur pharmazeutischen Herstellung der untersuchten Arzneimittel, die Angemessenheit und die Ergebnisse der pharmakologischen und toxikologischen Vorprüfungen sowie den Prüfplan, der genau beschreibt, wie die Studie durchgeführt werden soll.
Klinische Prüfung wird von BfArM begleitet
Das BfArM beanstandet rund die Hälfte aller Erstanträge und fordert Nachbesserungen oder Nachlieferungen. In den meisten Fällen werden diese Anforderungen der Behörde umgesetzt, so dass etwa 95 Prozent der beantragten klinischen Prüfungen genehmigt werden können. Weitere Voraussetzung für die Durchführung von Arzneimittelstudien am Menschen ist in Deutschland die Zustimmung einer Ethikkommission. Eine genehmigte klinische Prüfung wird auch während des Verlaufs weiter vom BfArM begleitet, um sicherzustellen, dass bisher unbekannte Risiken die Sicherheit der Studienteilnehmer nicht beeinträchtigen.
Die im Normalfall sehr große Sicherheit und strikte Überwachung von klinischen Studien lassen finanziellen Anreiz noch größer erscheinen. Die jungen und vollkommen gesunden Patienten geben sich und ihren Körper wohl hauptsächlich wegen des schnellen Geldes in die Hände der Forschung. 1 900 Euro haben die Probanden in Frankreich für ihre Teilnahme an der Studie mit dem FAAH-Inhibitor erhalten – pro Woche. Ein guter Lohn, solange alles gut geht.
Dustin Grunert
Bee, Eva Kristina