MEDIZIN: Originalarbeit
Prävalenz der eingeschränkten Nierenfunktion
Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland 2008-2011 (DEGS1)
The prevalence of renal failure—Results from the German Health Interview and Examination Survey for Adults, 2008–2011 (DEGS1)
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Hintergrund: Die Prävalenz von nichtdialysepflichtigen Nierenfunktionsstörungen bei Erwachsenen in Deutschland ist unbekannt. Ihre Kenntnis ist wichtig zur Abschätzung des Versorgungsbedarfs mit Nierenersatztherapien und von ungenutztem Präventionspotenzial. Auch ist die eingeschränkte Nierenfunktion ein wichtiger kardiovaskulärer Risikofaktor. Bisher wurden US-amerikanische Prävalenzschätzungen trotz begrenzter Vergleichbarkeit häufig auf Deutschland übertragen.
Methoden: Ausgewertet wurden Daten zur Nierenfunktion aus der bundesweiten „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland 2008–2011 (DEGS1)“ des Robert Koch-Instituts. Hierzu erfolgte eine Schätzung der glomerulären Filtrationsrate (eGFR) aus Serumkreatinin und Cystatin-C (CKD-EPI-Formel) sowie eine semiquantitative Albuminurie-Bestimmung. Zusammenhänge zwischen einer eingeschränkten Nierenfunktion und möglichen Determinanten wurden mittels adjustierter Prävalenzverhältnisse (PR) und 95-%-Konfidenzintervallen (95-%-KI) quantifiziert.
Ergebnisse: Etwa 2,3 % (95-%-KI: [1,9; 2,6 ]) der Menschen im Alter von 18–79 Jahren wiesen eine eGFR < 60 mL/min/1,73 m2 auf. Mit zunehmendem Alter stieg die Prävalenz. Bei konservativer Extrapolation auf die hier nicht untersuchten Probanden > 80 Jahre sind bundesweit mindestens 2 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Eine Albuminurie ≥ 30 mg/L weisen 11,5 % der Bevölkerung auf. Diabetes mellitus (PR = 2,25, 95-%-KI: [1,59; 3,16]) und arterielle Hypertonie (PR = 3,46, 95-%-KI: [1,95; 6,12]) sind wichtige Determinanten.
Schlussfolgerungen: Erstmals liegt mit diesen Daten eine repräsentative Schätzung der Häufigkeit von Nierenfunktionsstörungen in Deutschland vor. Sie zeigt eine starke Altersabhängigkeit, ist jedoch niedriger, als sie auf der Basis US-amerikanischer Daten für Deutschland bislang angenommen wurde.


Etwa 80 000 Patienten mit terminaler Niereninsuffizienz werden in Deutschland mit Hämo- oder Peritonealdialyse behandelt (1). Darüber hinaus befinden sich etwa 23 000 Personen in der Nachsorge nach erfolgreicher Nierentransplantation. Die Versorgung beider Patientengruppen ist ausgesprochen kostenintensiv. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten, die eine langfristige Dialysebehandlung benötigen, leidet zuvor unter einer chronisch progredienten Nierenerkrankung. Die dauerhafte Notwendigkeit einer Nierenersatztherapie ist jedoch nur eine der schwerwiegenden Folgen chronischer Nierenkrankheit. So weisen Patienten mit eingeschränkter glomerulärer Filtrationsrate (GFR) ohne Dialysepflicht eine stadienabhängig 1,4- bis 18,6-fach erhöhte Gesamtmortalität auf (2). Patienten mit einer GFR < 60 mL/min/1,73m2 haben ein mehr als doppelt so hohes Risiko zu versterben (45,7 % in 5 Jahren), als die Nierenersatztherapie durch Progredienz ihrer Erkrankung zu erreichen (19,9 %) (3).
Bisher gibt es für Deutschland keine bevölkerungsbasierte Schätzung der Prävalenz chronischer Nierenfunktionsstörungen in den nichtdialysepflichtigen Stadien. Diese fehlt vor allem für die Planung und Steuerung geeigneter Präventionsmaßnahmen, aber auch für die Fortschreibung von Versorgungskonzepten für die terminale Niereninsuffizienz. Die Übertragbarkeit US-amerikanischer epidemiologischer Daten, zum Beispiel des „National Health and Nutrition Examination Survey“ (NHANES, bevölkerungsweite Prävalenz einer eingeschränkten eGFR: 8 %) (4), auf deutsche Verhältnisse ist fraglich, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerungen. Weltweit liegen sehr heterogene Daten vor, die vor allem aufgrund der unterschiedlichen Messmethodik schwer vergleichbar sind (5).
Die bevölkerungsrepräsentative Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) (6) ist Bestandteil des bundesweiten kontinuierlichen Gesundheitsmonitorings, welches das Robert Koch-Institut (RKI) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit durchführt. Die aktuellste Datenerhebung in DEGS (DEGS1) fand im Zeitraum 11/2008 bis 12/2011 bei 7 115 Männern und Frauen im Alter zwischen 18 und 79 Jahren statt. Im Rahmen von DEGS1 wurden Nierenfunktionsparameter bestimmt und Fragen zu Nierenfunktionsstörungen sowie ihrer Behandlung gestellt. Die Auswertung der Daten ermöglicht eine bevölkerungsrepräsentative Schätzung der Prävalenz von Nierenfunktionsstörungen bei Erwachsenen in Deutschland sowie eine Analyse der Zusammenhänge zu Alter, Geschlecht und etablierten Risikofaktoren. Weiterhin lässt sich der Bekanntheits- und Versorgungsgrad von Nierenfunktionsstörungen abschätzen.
Methode
Probanden und Erhebungsmethodik
Das komplexe Design der DEGS-Erhebungswelle 2008–2011 (DEGS1) ist ausführlich dargestellt worden (6, 7). Die Studienpopulation wurde so ausgewählt, dass für den Altersbereich von 18-79 Jahren eine repräsentative Aussage für die gesamte Wohnbevölkerung Deutschlands getroffen werden kann. Insgesamt wurden 7 115 Probanden in 180 Rekrutierungszentren untersucht. Zur Erfassung des Sozialstatus wurden Angaben zu schulischer und beruflicher Ausbildung, beruflicher Stellung sowie Haushaltsnettoeinkommen erfasst. Es erfolgte eine Einteilung in eine niedrige, mittlere und hohe Statusgruppe (8).
Angaben zu Diabetes, Hypertonie und Raucherstatus
Die Erhebungsmethodik der Faktoren Diabetes mellitus (9), arterieller Hypertonie (10) und Raucherstatus (11) wurden publiziert, Details siehe Online-Suplement. Abweichend von der oben genannten Definition des Diabetes mellitus wurden Fälle von Gestationsdiabetes hier nicht zur Prävalenzbestimmung mitgezählt.
Evaluierung der Nierenfunktion
Zur Bestimmung der Nierenfunktion wurde bei allen Probanden Blut zur Messung der standardisierten Serumkreatininkonzentration (Architect, Abbott Diagnostics, Wiesbaden; IDMS traceable creatinine Assay) sowie des Cystatin C (Prospec, Siemens Healthcare, Eschborn) entnommen. Die eGFR wurde mittels CKD-EPI-Formel für Kreatinin und Cystatin C (12) berechnet. Nach Empfehlungen der Kidney Disease Improving Gobal Outcomes Initiative (KDIGO) (13) wurde eine Einschränkung der eGFR ab Werten < 60 mL/min/1,73 m2 angenommen. Die Urinalbuminbestimmung erfolgte aus einer Spontanurinprobe mittels semiquantitativem Teststreifen (Micral, Roche Diagnostics, Grenzach-Wyhlen). Die Ergebniskategorien des Micral-Teststreifens (negativ, 20 mg/L, 50 mg/L, 100 mg/L) sind nicht deckungsgleich mit den durch Bestimmung des Albumin-Kreatinin-Quotienten ermittelten und von der KDIGO (13) empfohlenen Kategorien zur Bewertung einer Albuminurie (A1: < 30 mg/g; A2: 30–300 mg/g, A3: > 300 mg/g). Aus diesem Grund und wegen der begrenzten diagnostischen Präzision des Teststreifens erfolgte unter Berücksichtigung der falschpositiven und richtigpositiven Rate der Micraltest-basierten Albuminuriebestimmung im Vergleich zu den KDIGO-Kategorien eine Reklassifikation der Studienteilnehmer nach Parikh (14). Darüber hinaus ist es zur Diagnose einer erhöhten Albuminausscheidung grundsätzlich erforderlich, mehrfach die Albuminurie zu bestimmen (4, 13), was im Rahmen der DEGS1 nicht erfolgt ist. Zur Prävalenzschätzung einer persistierenden Albuminurie wurde daher analog zum Vorgehen von Coresh (4) eine eGFR-abhängige Korrektur vorgenommen (Details der Korrekturen siehe Online-Supplement).
Statistische Methoden
Alle Analysen wurden statistisch gewichtet, um für Abweichungen der Stichprobe von der Grundpopulation (Stand 31. 12. 2010) hinsichtlich Alter, Geschlecht, Region, Staatsangehörigkeit, Gemeindetyp und Bildung zu korrigieren. Für die Untergruppe der DEGS1-Studienpopulation, die bereits an dem Bundes-Gesundheitssurvey 1998 teilgenommen hatte, wurde bei der Berechnung des individuellen Gewichtungsfaktors zusätzlich die Wiederteilnahme-Wahrscheinlichkeit berücksichtigt (6). Für den Zusammenhang zwischen eingeschränkter Nierenfunktion und den Faktoren Raucherstatus, Diabetes mellitus sowie arterielle Hypertonie wurden unter Verwendung von log-binomialen Regressionsmodellen (15) adjustierte Prävalenz-Verhältnisse (PR) und 95-%-Konfidenzintervalle (95-%-KI) geschätzt. Mit Hilfe azyklischer gerichteter Grafen wurden die Adjustierungsvariablen ermittelt (16). Alle Analysen wurden mit SAS Version 9.3 (Cary, NC) durchgeführt. Um sowohl die Gewichtung als auch die Korrelation der Teilnehmenden innerhalb einer Gemeinde zu berücksichtigen, wurden alle Konfidenzintervalle mit den Survey-Prozeduren von SAS berechnet.
Ergebnisse
Die Prävalenz einer eGFR < 60 mL/min/1,73m2 im Alter von 18–79 Jahren betrug 2,3 % (95-%-KI: 1,9; 2,6). Die Schätzung beruht auf der Erhebung bei 7 115 Probanden, deren demografische Daten in Tabelle 1 ausgewiesen sind. Nierenfunktionsstörungen traten vor allem mit zunehmendem Alter häufiger auf (Grafik). Die Schätzung erfolgte aufgrund einer eGFR-Kalkulation mit der CKD-EPI-Formel unter Verwendung von Kreatinin und Cystatin C. Diese gilt besonders im GFR-Bereich um 60 mL/min/1,73m2 als zuverlässig. Verwendet man hingegen die in der Literatur häufig genutzte MDRD-(„modification of diet in renal disease“)-Formel (17), so ergibt sich eine höhere Prävalenz der Nierenfunktionsstörung (3,5 %; 95-%-KI: 3,1; 3,9).
Eine erhöhte Albuminausscheidung im Urin ist ebenfalls Zeichen einer renalen Schädigung. Die Albuminurie kann parallel zur Einschränkung der GFR beobachtet werden, sie kommt jedoch auch als einziges oder erstes Zeichen einer renal-mikrovaskulären Schädigung vor. Die Prävalenz einer Albuminurie ≥ 30 mg/L wurde alters- und geschlechtsspezifisch (eTabelle 1) sowie zur Einschränkung der Nierenfunktion abgeschätzt (Tabelle 2).
Bekannte Einflussfaktoren für das Auftreten einer chronischen Nierenfunktionsstörung sind Diabetes mellitus (adjustiertes PR = 2,25) und arterielle Hypertonie (adjustiertes PR = 3,46). Darüber hinaus bestanden bei ehemaligen Rauchern leicht erhöhte Prävalenz-Verhältnisse für eine Nierenfunktionsstörung (Tabelle 3).
Tabelle 4 zeigt, dass nur etwa 28 % der Probanden mit eGFR < 60 mL/min/1,73m2 von ihrer Nierenfunktionseinschränkung wussten. Von den Betroffenen mit Kenntnis ihrer Funktionseinschränkung gaben nur etwa zwei Drittel an, dass sie wegen der Nierenkrankheit in ärztlicher Behandlung seien. Selbstangaben einer chronischen Nierenfunktionsstörung sind danach im Vergleich zu einer messwertbasierten Einschränkung der eGFR hoch spezifisch, jedoch wenig sensitiv. Das Bekanntsein einer Nierenfunktionsstörung war nicht mit der Sozialschicht oder dem Geschlecht assoziiert (Tabelle 3).
Diskussion
Für insgesamt 2,3 % der deutschen Wohnbevölkerung im Alter zwischen 18 und 79 Jahren beträgt die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate < 60 mL/min/1,73m2. Die Prävalenz einer erhöhten Urin-Albuminausscheidung kann mit insgesamt 11,5 % eingeschätzt werden, eine reduzierte eGFR oder Albuminurie weisen 12,7 % der Individuen auf. Erstmals ist es aufgrund dieser Daten möglich, die Häufigkeit von Nierenschäden Deutschland quantitativ zu schätzen. Während der Versorgungsbedarf für Patienten mit endgradigem Nierenversagen, die ein Nierenersatzverfahren benötigen, aufgrund der etablierten Qualitätssicherungssysteme bekannt ist (1), ließen sich die nichtdialysepflichtigen Stadien bisher nur unter Rückgriff auf US-amerikanische Erhebungen grob abschätzen (4). Lediglich für die Altersgruppe ≥ 70 Jahre liegen Daten der Berlin-Initiative-Studie (BIS) (18) vor, wonach in dieser Altersgruppe 30,1 % der Personen eine eGFR < 60mL/min/1,73 m2 aufwiesen.
Die ermittelten Prävalenzschätzungen bedeuten, dass im Alter von 18–79 Jahren in Deutschland im Jahr 2011 etwa 1,53 Millionen Menschen eine eingeschränkte eGFR aufweisen. Die Daten zeigen eine starke Altersassoziation. Während Nierenschäden bei Menschen unter 50 Jahren ausgesprochen selten sind, ist in der Altersgruppe 70–79 Jahre jeder 8. betroffen. Es ist zu vermuten, dass die Prävalenz bei den über 80-Jährigen noch höher liegt. Die vorliegende Erhebung kann zu dieser Altersgruppe keine Aussagen treffen. Eine sehr konservative Schätzung wäre die Annahme, die über 80-Jährigen hätten die gleiche Prävalenz einer eGFR-Einschränkung wie die 70- bis 79-Jährigen. Unter dieser Annahme ergibt sich, dass bundesweit mindestens 2 Millionen Menschen eine eGFR < 60 mL/min/1,73m2 haben. Die Gesamtprävalenz könnte jedoch – abhängig von der Prävalenz unter den über 80-Jährigen – auch bei bis zu 2,5 Millionen liegen. In der Berlin-Initiative-Studie wiesen im Altersbereich 70–79 Jahre 20,7 % und im Altersbereich ≥ 80 Jahre 46,6 % der Teilnehmer eine eingeschränkte eGFR auf (18). Diese Zahlen wurden mit der CKD-EPIKrea-Formel ermittelt, wobei die von uns verwendete CKD-EPIKreaCys-Formel im Grenzbereich um 60 mL/min/1,73m2 weniger Probanden als niereninsuffizient einstuft (12).
Dennoch liegt die Prävalenz niedriger, als nach Übertragung der US-amerikanischen NHANES-Erhebung gewesen wäre. Die Stichprobe in NHANES schloss im Gegensatz zum DEGS1 auch Personen über 79 Jahre ein (7,4 % der Gesamtstichprobe) und war hinsichtlich der ethnischen Zusammensetzung heterogener. Besonders fällt die hohe Diversität der abgebildeten Bevölkerungsgruppen in NHANES auf (gewichteter Anteil: 72,6 % Kaukasier, 10,5 % Afroamerikaner, 7,3 % Hispanoamerikaner, 1,2 % andere). Insbesondere Afroamerikaner, aber auch die übrigen nichtkaukasischen Bevölkerungsgruppen, leiden deutlich häufiger an Diabetes mellitus (19). Ihr kardiovaskuläres und renales Risiko bei Diabetes oder arterieller Hypertonie ist höher (20) und sie leiden häufiger an Einschränkungen der Nierenfunktion (4). DEGS1 erlaubt repräsentative Aussagen zur Zielgruppe der im Erhebungszeitraum in den Einwohnermelderegistern mit Hauptwohnsitz in Deutschland gemeldeten Erwachsenen im Alter von 18–79 Jahren, ohne Restriktionen hinsichtlich Herkunft oder Staatsangehörigkeit (7). Da ein Oversampling um den Faktor 1,5 für Erwachsene ohne deutsche Staatsangehörigkeit erfolgte (6), ist der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund nach Gewichtung mit insgesamt rund 20 % nicht unerheblich (21). Bevölkerungsrepräsentative Aussagen für diese Gruppe insgesamt oder gar für Untergruppen unterschiedlicher Ethnizität lassen sich aufgrund des Stichproben-Designs jedoch nicht treffen.
Eine direkte Messung der GFR ist aufwendig. Im Rahmen epidemiologischer Erhebungen und im praktischen Alltag wird daher meist auf die empirische Schätzung der eGFR zurückgegriffen. In der vorliegenden Studie wurde hierzu die CKD-EPI-Formel (12) verwendet, in die die Parameter Serumkreatininkonzentration, Serum-Cystatin C, Alter, Geschlecht und Ethnizität eingehen. Die in NHANES verwendete MDRD-Formel (17) wurde wegen ihrer Ungenauigkeit bei eGFR-Werten > 60 mL/min/1,73m2 kritisiert (22). Gerade in diesem Messbereich ist die CKD-EPI-Formel zuverlässiger (23, 24).
Kalkuliert man die DEGS1-Prävalenz mittels MDRD-Formel, ergibt sich auch hier eine höhere Gesamtprävalenz. Modellrechnungen in anderen Populationen zeigen, dass 17–22 % der Probanden in die gesünderen GFR-Kategorien reklassifiziert werden (eGFR < 60 zu eGFR ≥ 60 mL/min/1,73m2), wenn man statt MDRD die CKD-EPI-Formel verwendet. Bei Probanden mit deutlich eingeschränkter Nierenfunktion kommt es hingegen kaum zu Reklassifizierungen (25–27). Probanden, die mit MDRD als niereninsuffizient klassifiziert wurden und bei denen die CKD-EPI-Formel eine eGFR > 60 mL/min/1,73m2 schätzt, hatten eine gegenüber den nicht reklassifizierten Probanden deutlich bessere renale und kardiovaskuläre Prognose (27). Dies spricht dafür, dass die Klassifizierung mit der CKD-EPI-Formel eine falsch hohe Prävalenzschätzung der Niereninsuffizienz vermeidet. Die Kalkulation der eGFR mittels CKD-EPI-Formel unter Einbeziehung von Kreatinin und Cystatin C ist Methode der Wahl gemäß KDIGO-Guideline (13).
Die Natur des Querschnittsdesigns der DEGS1 erlaubt keine Aussage über die Dauerhaftigkeit einer Funktionsstörung. Gemäß Definition der chronischen Nierenkrankheit (13) ist der Nachweis einer strukturellen oder funktionellen Störung über mindestens drei Monate erforderlich. Aus diesem Grund wird hier von „eingeschränkter Nierenfunktion“, nicht jedoch von chronischer Nierenkrankheit („chronic kidney disease“, [CKD]) gesprochen, wenngleich die Wahrscheinlichkeit gering ist, dass sich unter den Probanden der DEGS1 Patienten mit akutem Nierenversagen befunden haben.
Auch eine erhöhte Albuminausscheidung im Urin (30–300 mg/g Kreatinin, früher als „Mikroalbuminurie“ bezeichnet) ist Ausdruck einer renalen Schädigung und findet sich als Frühzeichen einer diabetischen oder hypertensiven Schädigung. Mit einer Albuminurie ist bei einer eingeschränkten Nierenfunktion eine raschere Progression der Nierenschädigung assoziiert (28). Ferner geht die Albuminurie mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse einher (29).
Die Abschätzung der Albuminurieprävalenz leidet sowohl in NHANES wie auch in DEGS1 darunter, dass die Erhebung aus Gründen der Praktikabilität nur eingeschränkt valide durchgeführt wurde. Grundsätzlich erfordert die KDIGO-Definition der Albuminurie (13) den Nachweis einer erhöhten Urinalbuminausscheidung zu mindestens zwei unabhängigen Zeitpunkten. Beide Surveys führten nur einmalige Erhebungen durch. Dies führt zu einer Überschätzung der persistierenden Albuminurie, ein Effekt, der sich mathematisch korrigieren ließ (30). Während in NHANES die Quantifizierung der Albuminausscheidung in Form eines Albumin/Kreatinin-Quotienten vorgenommen wurde, standen aus DEGS1 lediglich semiquantitative (Teststreifen-)Messungen zur Verfügung. Der Vorhersagewert dieser Teststreifen für das tatsächliche Vorliegen einer Albuminurie ist bekannt (14), so dass auch hierfür eine rechnerische Korrektur erfolgte. Die Prävalenz jeglicher Zeichen renaler Schädigung (reduzierte eGFR oder Albuminurie) von 12,7 % im untersuchten Altersspektrum erlaubt die Annahme, dass in der Gesamtbevölkerung (inklusive der über 80-Jährigen) mehr als 10 Millionen Menschen betroffen sind.
Neben der Gefahr einer Verschlechterung der Nierenfunktion hin zur Dialysepflichtigkeit ergibt sich für die von einer Niereninsuffizienz Betroffenen ein drastisch gesteigertes Sterberisiko. So stieg die altersstandardisierte Sterblichkeit in einer großen populationsbasierten Erhebung mit fallender GFR stetig an. Betrug sie bei GFR ≥ 60 mL/min/1,73m2 noch 0,76 Sterbefälle/100 Personenjahre, so erreichte sie bei einer GFR zwischen 15 und 30 mL/min/1,73m2 schon 11,36 (2). Unterhalb einer GFR von 15 mL/min/1,73m2 stieg sie auf 14,14 an. Ähnlich deutlich wuchs mit eingeschränkter GFR das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. Eine vergleichbare und additive Bedeutung kommt der Albuminurie zu. Eine Verdopplung der Urinalbuminkonzentration geht mit einer Steigerung des Sterblichkeitsrisikos um 35 % einher (31). Sogar innerhalb des ursprünglich als „normal“ angesehenen Bereichs einer Urinalbuminausscheidung (< 30 mg/g Kreatinin) besteht ein deutlicher Zusammenhang der Werte mit der Gesamt- und kardiovaskulären Sterblichkeit (32).
Wichtige Prädiktoren für eine Nierenfunktionseinschränkung sind Diabetes mellitus und arterielle Hypertonie. Beides entspricht den Erwartungen, stellen doch diese beiden Erkrankungen die zahlenmäßig bedeutendsten Ursachen für dauerhafte Dialysepflicht dar (1). Neu an den DEGS1-Daten ist die quantitative Schätzung des Zusammenhangs dieser Faktoren mit der Prävalenz der Nierenfunktionseinschränkung in der Allgemeinbevölkerung. In Patientenkollektiven mit Niereninsuffizienz ist bekannt, dass Nikotinabusus das Progressionsrisiko diabetischer (33) und nichtdiabetischer (34) Nierenschäden steigert. In der Querschnittuntersuchung DEGS1 zeigt sich kaum ein Zusammenhang zwischen Nikotinabusus und Prävalenz einer eingeschränkten eGFR.
Offenbar ist den Betroffenen die Einschränkung der Nierenfunktion den Betroffenen oftmals nicht bekannt. Etwa ¾ der Probanden mit eGFR < 60 mL/min/1,73m2 gaben an, keine Kenntnis von einer Nierenschädigung zu haben. Unter denen, die von der Nierenfunktionsstörung wussten, gaben nur 2/3 an, deswegen in ärztlicher Behandlung zu sein. Zusammengenommen haben nach diesen Daten nur 16 % der Betroffenen eine entsprechende ärztliche Betreuung. Diese Zahlen sind aus versorgungsmedizinischer Perspektive von Bedeutung. Bei Gesundheitsstörungen, die wie die chronische Niereninsuffizienz effektiv präventiv adressierbar sind, ist ein möglichst hoher Informationsgrad der Betroffenen wichtig. Die Präventionsmaßnahmen – Ursachenklärung, Behandlung entzündlicher Nierenkrankheiten, Blutdrucksenkung, optimale Stoffwechseleinstellung, medikamentöse Angiotensinblockade, Vermeidung nephrotoxischer Einflüsse – sind stark von der Mitarbeit der Patientinnen und Patienten abhängig.
Zusammenfassend liegen mit der Auswertung der Daten aus DEGS1 erstmals repräsentative Prävalenzschätzungen für eine eingeschränkte Nierenfunktion und/oder eine Albuminurie für die Wohnbevölkerung in Deutschland im Alter von 18–79 Jahren vor. Nierenschäden weisen eine immanente, aber häufig therapeutisch verzögerbare Progressionstendenz sowie eine erhebliche Risikobeeinflussung für kardiovaskuläre Erkrankungen auf. Die Kenntnis der Häufigkeit hat Bedeutung für die Planung und Organisation der Versorgung der Betroffenen, was weit über die Planung der kostenintensiven Nierenersatztherapie hinausgeht.
Danksagung
Die Autoren danken Frau Angelika Schaffrath Rosario, Robert Koch-Institut, Berlin für hilfreiche Kommentare zur statistischen Analyse der Daten.
Interessenkonflikt
Die Erhebung der DEGS1-Daten, die dieses Projekt überhaupt erst ermöglichten, wurde im Rahmen des bundesweiten Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts vom Bundesministerium für Gesundheit finanziert. Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln der KfH-Stiftung Präventivmedizin gefördert (Zuwendungsempfänger Prof. Dr. Andreas Stang, MPH, Zentrum für Klinische Epidemiologie, Universitätsklinikum Essen, in Kooperation mit Prof. Dr. Matthias Girndt, Klinik für Innere Medizin II, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Prof. Stang wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Förderkennzeichen: 01ER1305) gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
Prof. Girndt erhielt Vortragshonorare von Baxter Inc, Amgen GmbH, Roche AG und Hexal.
Die übrigen Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikt besteht.
Manuskriptdaten
eingereicht: 16. 7. 2015, revidierte Fassung angenommen: 24. 9. 2015
Anschrift für die Verfasser
Prof. Dr. med. Andreas Stang, MPH
Leiter des Zentrums für Klinische Epidemiologie
Institut für Medizinische Informatik,
Biometrie und Epidemiologie
Universitätsklinikum Essen
Hufelandstraße 55
45147 Essen
andreas.stang@uk-essen.de
Zitierweise
Girndt M, Trocchi P, Scheidt-Nave C, Markau S, Stang A:
The prevalence of renal failure—Results from the German Health Interview and Examination Survey for Adults, 2008–2011 (DEGS1).
Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 85–91. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0085
@The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt-international.de
Online-Supplement:
www.aerzteblatt.de/16m0085 oder über QR-Code
N Engl J Med 2012; 367: 20–9.
Nephrol Dial Transplant 2004; 19: 1881–5.
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J Am Soc Nephrol 2005; 16: 763–73.
a collaborative meta-analysis. Lancet 2010; 375: 2073–81.
Dr. med. Markau
Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg: Dr. med. vet. Trocchi, MSE
Abteilung 2 – Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin:
Dr. med. Scheidt-Nave, MPH
Zentrum für Klinische Epidemiologie, Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Universitätsklinikum Essen: Prof. Dr. med. Andreas Stang, MPH
Department of Epidemiology, School of Public Health, Boston University, Boston, USA:
Prof. Dr. med. Stang, MPH
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Dialyse aktuell, 202210.1055/a-1734-6806
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Dialyse aktuell, 202210.1055/a-1857-7996
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DMW - Deutsche Medizinische Wochenschrift, 202110.1055/a-1640-4503
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Deutsches Ärzteblatt international, 201610.3238/arztebl.2016.0083
Rothenbacher, Dietrich; Koenig, Wolfgang
Schneider, Tilo
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