ArchivDeutsches Ärzteblatt9/2016Unerwünschte Arzneimittelwirkungen: Warum Meldungen nicht erfolgen

MEDIZINREPORT

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen: Warum Meldungen nicht erfolgen

Gahr, Maximilian; Eller, Jonas; Connemann, Bernhard J.; Schönfeldt-Lecuona, Carlos

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Ärztinnen und Ärzte sind durch ihre Berufsordnung dazu verpflichtet, unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Verdachtsfälle zu melden. Eine Befragung zum Meldeverhalten deckt allerdings Defizite auf.

Foto: iStockphoto
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Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) stellen weltweit ein ernstzunehmendes Gesundheitsproblem dar (1, 2) und erzeugen zudem jährlich erhebliche Kosten (3, 4). Vermutlich werden etwa drei bis sieben Prozent aller stationären Krankenhausbehandlungen durch UAW verursacht (5). Für die frühzeitige Erkennung von seltenen oder bisher unbekannten UAW von bereits auf dem Markt zugelassenen Arzneimitteln sind Spontanmeldesysteme wichtige Instrumente.

Ein zentraler Faktor für die Funktionalität von Spontanmeldesystemen ist neben der Qualität der Meldungen vor allem die Meldequote. „Underreporting“ beschreibt dabei in Bezug auf die tatsächlich aufgetretenen (und beobachteten) UAW falsch zu niedrige Meldequoten und reduziert die Funktionalität von Spontanmeldesystemen erheblich (6). In Deutschland sind Ärztinnen und Ärzte zwar durch die Berufsordnung verpflichtet, beobachtete Verdachtsfälle von UAW entweder an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) oder an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zu melden (es kann jedoch auch an den Arzneimittelhersteller gemeldet werden). Das Meldeverhalten wird jedoch nicht überprüft.

Zur Planung von Initiativen, deren Ziel zum Beispiel die Verbesserung des Meldeverhaltens beziehungsweise der Funktionalität von Spontanmeldesystemen ist, ist das Verständnis für die Ursachen von Underreporting wichtig. Für Deutschland existierte bisher nur eine Studie zum Meldeverhalten beziehungsweise der Einstellung und dem Wissen zu Spontanmeldesystemen (7). Die Autoren leiteten von den Ergebnissen ihrer Befragung aus dem Jahr 1997 ab, dass in Deutschland die „Bewerbung“ des Spontanmeldesystems sowie die „Rekrutierung“ von UAW-Meldungen vor dem Hintergrund geringer Meldebereitschaft sowie geringem Kenntnisstand bezüglich Pharmakovigilanz im Allgemeinen verbesserungsbedürftig sind – zum Beispiel durch proaktive Kommunikation mit Ärzten.

Im Rahmen einer aktuellen Studie wurden das Meldeverhalten sowie subjektive Gründe für das Unterlassen einer Meldung erfragt. Adressaten der telefonischen Befragung waren niedergelassene Ärzte in Baden-Württemberg, die an der ambulanten Substitution opioidabhängiger Patienten teilnehmen*. Die Befragung wurde zwischen Januar und April 2015 durchgeführt. Von n = 316 über ein Online-Portal identifizierten Ärzten nahmen n = 176 (Rücklaufquote 55,7 Prozent) an der Befragung teil (durchschnittliches Alter 58,6 Jahre; 75 Prozent männlich; 89,8 Prozent hausärztlich tätig). Die meisten der befragten Ärzte (77,8 Prozent) gaben an, dass sie von ihnen beobachtete UAW:

  • selten (33,5 Prozent),
  • sehr selten (33,5 Prozent) oder
  • nie (10,8 Prozent) meldeten.

Die Mehrheit (69,9 Prozent) gab an, im Jahr 2014 keine UAW gemeldet zu haben. Hinsichtlich der subjektiven Gründe für das Nichtmelden von beobachteten UAW (Mehrfachantwort möglich) wurden bei den vorgegebenen Antwortmöglichkeiten am häufigsten folgende gewählt:

  • Zeitmangel (29,5 Prozent),
  • Subjektive Bewertung, dass der Meldeprozess kompliziert beziehungsweise nicht benutzerfreundlich ist (26,7 Prozent) oder
  • zu viel Zeit beansprucht (14,2 Prozent) oder
  • das Melden einer UAW nutzlos ist (12,5 Prozent).

Nur 6,3 Prozent der Teilnehmer gaben an, nicht zu wissen, wie eine UAW gemeldet werden soll.

Anzahl der Eingänge zu Verdachtsfällen aus Deutschland verteilt nach Meldequelle (N = 8 185)
Grafik
Anzahl der Eingänge zu Verdachtsfällen aus Deutschland verteilt nach Meldequelle (N = 8 185)

Freie Antworten in Bezug auf die subjektiven Gründe für Nichtmelden wurden von n = 112 Teilnehmern (63,6 Prozent) gegeben. Dabei waren die folgenden Antworten häufig:

  • „Ich melde keine UAW, die bereits bekannt sind“ (40,9 Prozent),
  • „Ich melde nur schwerwiegende UAW“ (26,1 Prozent),
  • „Meistens ist es nicht möglich, das verantwortliche Medikament zu identifizieren“ (5,1 Prozent).

Vor dem Hintergrund geschätzter Häufigkeiten von UAW (8) kann die in der Stichprobe gefundene geringe Meldehäufigkeit sowohl Ausdruck einer mangelnden Erkennung von UAW, eher aber einer zu geringen Meldebereitschaft oder einer unzureichenden Kenntnis des Meldesystems sein. Die häufige Nennung von Zeitmangel oder Kompliziertheit des Meldeverfahrens als Ursache der geringen Meldebereitschaft, lassen eine Vereinfachung des Meldeprozesses unerlässlich erscheinen, wenn eine Reduktion von Underreporting erreicht werden soll.

Gleichzeitig verweisen die Ergebnisse der gegenwärtigen Befragung jedoch auch auf eingeschränkte Kenntnisse in Bezug auf das „richtige Melden“ von UAW beziehungsweise das Pharmakovigilanzsystem in Deutschland im Allgemeinen. Während zahlreiche Teilnehmer der Stichprobe angaben, bekannte UAW überhaupt nicht und generell nur schwerwiegende zu melden, erscheint es vom Standpunkt der Arzneimittelsicherheit wichtig, dass sämtliche UAW (auch die bereits bekannten) gemeldet werden.

Eine Vereinfachung des Meldeverfahrens mit proaktiver Kontaktaufnahme mit dem Arzt sowie Informationsvermittlung über das gewünschte Meldeverhalten könnten zu einer Reduktion von Underreporting und Verbesserung der Qualität der UAW-Meldungen führen.

Priv.-Doz. Dr. med. Maximilian Gahr,
Jonas Eller,
Prof. Dr. med. Bernhard J. Connemann,
Prof. Dr. med. Carlos Schönfeldt-Lecuona,
Universitätsklinikum Ulm

*Die hier vorgestellten Daten stammen aus einer Befragung zu UAW im Zusammenhang mit Präparaten, die zur ambulanten Substitutionstherapie opioidabhängiger Patienten eingesetzt werden. Die hier diskutierten Daten beziehen sich jedoch auf einen Teil der Befragung, der sich explizit auf die allgemeine ärztliche Tätigkeit bezieht.

Die dem Artikel zugrunde liegende Studie wurde bereits publiziert: Gahr M, Eller J, Connemann BJ, Schönfeldt-Lecuona C: Subjective reasons für non-reporting of adverse drug reactions in a sample of physicians in outpatient care. Pharmacopsychiatry 2016 Jan 7 [Epup ahead of print], doi: 10.1055/s-0035-1569291.

@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit0916
oder über QR-Code.

Arzneimittel: Risiken früh erkennen

Die Sicherheit von Arzneimitteln hängt von vielen Faktoren ab. Ein wesentlicher Baustein ist die frühzeitige Erkennung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW). Ärztinnen und Ärzte sind daher zur Meldung von Verdachtsfällen verpflichtet.

Arzneimittel werden in der Praxis bei einer großen Zahl von Patienten angewendet, die sich in Alter, Geschlecht und ihrem genetisch bedingten Ansprechen unterscheiden. „In den klinischen Prüfungen, die vor der behördlichen Zulassung durchgeführt werden, kann weder diese komplexe Behandlungsrealität noch die häufig notwendige Langzeitanwendung entsprechend abgebildet werden“, sagt Prof. Dr. med. Karl Broich, Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Dies könne dazu führen, dass vor allem seltene Nebenwirkungen erst einige Zeit nach der Zulassung erkannt werden. Deshalb seien die Handlungsmöglichkeiten der europäischen Überwachungsbehörden mit dem Ziel, Risiken schneller erkennen zu können, in den letzten Jahren erweitert worden.

„Gleichwohl sind wir bei der raschen Identifikation von Arzneimittelrisiken weiterhin auf belastbare Daten und Risikosignale aus der Praxis angewiesen“, erläutert Broich. Dabei spielen aus seiner Sicht Verdachtsmeldungen von UAW im Rahmen des Spontanmeldesystems eine wesentliche Rolle. Diese Meldungen seien, zusammen mit weiteren Informationen, Grundlage für die kontinuierliche Überwachung der Arzneimittelsicherheit durch das BfArM. „Je früher, häufiger und detaillierter wir diese Meldungen beispielsweise von Ärztinnen und Ärzten erhalten, desto früher können wir Risikosignale erkennen, bewerten und bei Bedarf Maßnahmen zum Schutz der Patientinnen und Patienten treffen.“ BH

1.
Lazarou J, Pomeranz B, Corey P: Incidence of adverse drug reactions in hospitalized patients: a meta-analysis of prospective studies. JAMA 1998; 279: 1200–5 CrossRef
2.
Pirmohamed M, James S, Meakin S, Green C, Scott A, Walley T, Farrar K, Park B,
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3.
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Adverse drug reaction monitoring – cost and benefit considerations. Part II: cost and preventability of adverse drug reactions leading to hospital admission. Pharma-
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4.
Schneeweiss S, Hasford J, Göttler M, Hoffmann A, Riethling A, Avorn J: Admissions caused by adverse drug events to internal medicine and emergency departments in hospitals: a longitudinal population-based study. Eur J Clin Pharmacol 2002; 58: 285–91 CrossRef MEDLINE
5.
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6.
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7.
Hasford J, Goettler M, Munter K, Müller-Oerlinghausen B: Physicians’ knowledge and attitudes regarding the spontaneous reporting system for adverse drug reactions. J Clin Epidemiol 2002; 55: 945–50 CrossRef
8.
Muehlberger N, Schneeweiss S, Hasford J: Adverse drug reactions monitoring – cost and benefit considerations. Part I: frequency of adverse drug reactions causing
hospital admissions. Pharmacoepidemiol Drug Saf 1997; 6 Suppl 3: 71–7 CrossRef
Anzahl der Eingänge zu Verdachtsfällen aus Deutschland verteilt nach Meldequelle (N = 8 185)
Grafik
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