POLITIK: Medizinreport
Isländisches Genomprojekt: Den Genen der Wikinger auf der Spur


Mit einem bislang beispiellosen Genomprojekt wollen sich Wissenschaftler die genetische Ähnlichkeit der
isländischen Bevölkerung zunutze machen, um Krankheitsgene leichter aufspüren zu können. Denn das heute
270 000 Köpfe zählende Inselvolk weist einige Besonderheiten auf, das es für die genetische Analyse so
interessant macht: Von den Wikingern im 9. Jahrhundert gegründet, leben die Isländer seither isoliert. Ein
Vermischung mit anderen Völkern hat aufgrund der geographischen Abgeschiedenheit nicht stattgefunden.
Zudem haben Naturkatastrophen wie Hungersnöte und Seuchen die Bevölkerungszahl immer wieder drastisch
reduziert, so daß die Insulaner von einigen wenigen Urmüttern und Urvätern abstammen. Die Genforscher
finden also eine "Isolatpopulation" mit hoher genetischer Übereinstimmung vor. Ferner können sie über eine
umfassende genealogische Datenbasis verfügen. Dieser Datenfundus enthält etwa eine halbe Million
Stammbäume von Isländern einschließlich der heute lebenden 270 000 Insulaner. Nach Schätzungen haben etwa
eine dreiviertel Million Isländer seit der Gründung des Volksstammes auf der Insel gelebt.
Im Vergleich zu heterogenen Völkern (Amerikaner oder Europäer) können bei der Isolatpopulation mittels
Kopplungsanalysen genetische Veränderungen einfacher dingfest gemacht werden. Der Grund: Die Mutationen
sind mit einem bestimmten Markerallel assoziiert und nicht wie bei genetisch sehr heterogenen Volksgruppen
mit unterschiedlichen Genotypen.
Es ist eine private, isländische Biotechnologie-Firma namens "deCode Genetics" mit Finanzsitz in Delaware
(USA), die sich den Zugriff auf die Erbinformationen des gesamten isländischen Volkes mit dem Segen des
dortigen Parlaments gesichert und zudem die Berechtigung erhalten hat, diese Informationen für vorerst zwölf
Jahre kommerziell nutzen zu können. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hat deCode Genetics die Erforschung
der Erbinformation des isländischen Volkes auf traditionelle Weise durchgeführt.
Geno-phänotypische Korrelation
Diese Untersuchungen sollen es ermöglichen, den genetischen Ursachen von Krankheiten des Stoffwechsels, des
Herz-Kreislauf-Systems und der Psyche auf die Spur zu kommen. Im Rahmen dieses Projektes hat die Firma
Hoffmann-La Roche für einzelne Forschungsvorhaben zu zwölf Erbkrankheiten eine finanzielle Beteiligung von
bis zu 200 Millionen Dollar in Aussicht gestellt - und zwar erfolgsbezogen für die kommenden fünf Jahre.
Jetzt sollen neben der DNA-Genotypisierung eines jeden Einwohners auch medizinische Daten wie
Untersuchungsbefunde, Behandlungsergebnisse und Familiengenealogien in die zentrale Erfassung eingebracht
werden. Folgende Ziele werden mit der "Icelandic Health-Care Database" nach Firmenangaben verfolgt. Zum
einen soll es möglich werden, Programme für das Krankheitsmanagement zu entwickeln; dazu gehört auch die
gezielte Prävention von Betroffenen, die durch entsprechende Gentests aufgespürt worden sind. Zum zweiten
wollen die Forscher anhand der geno-phänotypischen Korrelation die individuelle Ansprechbarkeit auf
Medikamente ergründen, die möglicherweise durch geringe genetische Variationen bedingt ist. Man hofft, durch
diese Erkenntnisse personenbezogene Medikamente zu entwickeln.
Die Daten sollen von Gesundheitsbehörden, Kliniken und niedergelassenen Ärzten rekrutiert werden und
anonymisiert in einen zentralen Datenpool eingehen. Liegt kein ausdrücklicher Widerspruch der Betroffenen
gegen die Datenerfassung vor, so können die Genbefunde und medizinischen Informationen über jeden
Inselbewohner von Ärzten und Kliniken an die zentrale Genkartei weitergegeben werden. Die Nutzungsrechte
der genetischen Informationen liegen zwar allein bei dem Privatunternehmen, jedoch besteht für die isländische
Gesundheitsbehörde Zugang dazu.
Was bekommen die Isländer dafür? Die Probanden sollen von den wissenschaftlichen Erkenntnissen anhand
ihres Erbgutes profitieren können: So sicherte ihnen deCode Genetics zu, Genteste beziehungsweise
Medikamente, die im Zusammenhang mit dem Genomprojekt entwickelt werden, kostenlos zur Verfügung zu
stellen.
Aus wissenschaftlicher Sicht bewertet der Heidelberger Humangenetiker Prof. Dr. Claus Bartram das Projekt als
durchaus interessant. Man habe hier quasi eine große Familie vor sich, anhand deren Erbmaterials man in der
Lage sei, Krankheitsgene leichter herauszufinden. So sei es beispielsweise einfacher, genetische Veränderungen
der Hypertonie zu erforschen, wenn man eine Population mit ansonsten weitgehend ähnlichem genetischen
Hintergrund vor sich habe. Dies gelte auch für andere polygene Krankheiten.
Kritisch bewertet Bartram allerdings die Art der Datenerhebung. Die Erhebung und Weitergabe von genetischen
und medizinischen Daten setze die explizite Zustimmung jedes einzelnen voraus. Dieser Grundsatz der
Freiwilligkeit werde bei dem isländischen Genomprojekt nicht eingehalten. Bürger hätten lediglich das Recht,
durch eine Art Widerspruchslösung die Erfassung ihrer Daten zu verhindern. Schließlich verweist Bartram auf
das mangelnde Wissen der betroffenen Bürger über genetische Zusammenhänge: Man könne nicht davon
ausgehen, daß das Gros der Bevölkerung ausreichende genetische Grundkenntnisse habe, um zu wissen, worauf
es sich einlasse, kritisiert er.
Als Beispiel führte er die Vorhersage für eine Erbkrankheit durch Gentest an. Nach seiner Erfahrung wollen die
meisten Menschen dies nämlich gar nicht erfahren, zumal dann, wenn es sich um eine nicht behandelbare
Krankheit handle. Dies zeige auch die gängige Praxis in humangenetischen Beratungsstellen. Stimmten vor der
Beratung 80 Prozent der Ratsuchenden einem Gentest zu, so schrumpfe dieser Anteil auf ganze 20 Prozent nach
der Beratung.
Auch die Verantwortung der Ärzte mahnt Bartram an. Es werde in diesem Fall nicht einfach Blut anonymisiert
weitergegeben, was ebenfalls eine Aufklärung voraussetzen würde, sondern eine Zusammenschau ärztlicher
Befunde einschließlich der genetischen Daten. Eine Rückverfolgung auf das Individuum sei also möglich. Hier
müsse sich jeder Arzt überlegen, ob er mitarbeiten wolle. Schließlich sieht der Wissenschaftler durch die
generelle Datenerfassung den Schutz der Privatsphäre eines jeden gefährdet. Eine Regierung oder Partei könne
darüber nicht einfach beschließen.
Wie andere Kritiker des Projektes sieht auch Bartram es als problematisch an, daß eine Privatfirma die
exklusiven Nutzungsrechte der Gendaten habe. In anderen Ländern habe man deshalb nationale Genomprojekte
aufgelegt, um Privatfirmen im Sinne der Forschungsfreiheit Paroli zu bieten.
Die Heidelberger Genomforscherin Dr. Annemarie Poustka sieht es als höchst problematisch an, daß bei dem
isländischen Genomprojekt, was ja ein ausschließlich industrielles sei, der wissenschaftlichen Gemeinschaft der
dort gewonnene Datenpool vorenthalten werde. Jeder Wissenschaftler, der in öffentlichen
Forschungseinrichtungen arbeite, müsse seine Ergebnisse publik machen, und dies hält sie im Sinne des
wissenschaftlichen Fortschrittes auch für erforderlich. Vor allem für die Patienten sei es wichtig, daß möglichst
viele Forscher Zugriff auf genetisches Datenmaterial hätten, um aufgrund dieser Information schneller neue
Therapien entwickeln zu können.
Der Leiter der Geschäftsstelle des Deutschen Humangenomprojekts, Dr. Johannes Maurer aus Berlin, verwies
darauf, wie schwierig es in der Regel für Genomforscher sei, Patienten für genetische Familienanalysen zu
gewinnen. Wissenschaftlich betrachtet finde man somit bei der isländischen Bevölkerung "als großer Familie"
ideale Bedingungen vor. Was die Rekrutierung der Gendaten anlange, betonte er, daß man in der hiesigen
Forschungslandschaft größten Wert auf die Einhaltung eines "informed consent", also einer Zustimmung nach
vorhergehender Information und Zustimmung des einzelnen, lege.
Auch in Island ist das Genomprojekt umstritten. Neben dem isländischen Medizinerverband haben sich Gegner
des Projekts - darunter namhafte Forscher und Ärzte - in einem Verbund namens "Mannvernd" (Association of
Icelanders for Ethics in Science and Medicine) zusammengeschlossen mit dem Ziel, den Regierungsbeschluß für
die zentrale medizinische Datenbank rückgängig zu machen. Sie sehen die Menschenrechte und Privatsphäre
gefährdet sowie anerkannte medizinische und wissenschaftliche Standards unterlaufen. Nach der jüngsten
Umfrage einer isländischen Tageszeitung fürchtet jeder vierte Einwohner einen Mißbrauch der Information aus
dem Datenpool, 12 Prozent lehnen die Aufnahme ihrer Daten in die zentrale Gendatei ab, und jeder fünfte ist
unentschieden beziehungsweise verweigerte eine Antwort. Ingeborg Bördlein
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