MEDIZINREPORT
Ursachenforschung Arteriosklerose: Warum wir die KHK nicht verstehen
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Führen klinische Beobachtungen von heute kombiniert mit historischen pathologischen Befunden zu neuen Ansätzen in der Behandlung der koronaren Herzerkrankung?
Man könnte es als Desaster der biomedizinischen Wissenschaft bezeichnen. Die American Heart Association (AHA) hat gemeinsam mit dem Unternehmen Google angekündigt, einen 75-Millionen-Dollar-Preis an diejenige Gruppe zu vergeben, die zusagt, die Ursache der Arteriosklerose zu finden und effektive Präventionsverfahren zu entwickeln. Fakt ist, dass wir unseren Patienten heute auf beide Fragen – nach der Ätiologie und der rationalen Vorbeugung der koronaren Herzerkrankung (KHK) – keine befriedigenden Aussagen geben können. Abgesehen davon: Wie soll die regenerative Medizin wissenschaftlich begründete Strategien zur Regression der KHK entwickeln, wenn man deren Ursache nicht kennt, sondern nur einige Risikofaktoren aus Jahrzehnte alten epidemiologischen Studien?
Aus dem Blick geraten: Infektionen als Ursache
„Die beste Prävention gegen den Herzinfarkt ist die Grippeschutzimpfung“ erklärte vor zehn Jahren der mittlerweile verstorbene, frühere Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), Prof. Dr. med. Helmut Drexler. Arteriosklerose als inflammatorischer Gefäßwandumbau mit Makrophagenaktivierung stellt das gängige Verständnis der Pathogenese dar, doch eine Infektions-assoziierte Entzündung ist dabei zugunsten anderer Risikofaktoren aus dem Blickfeld geraten. Viele Beobachtungen sprechen für eine infektiöse Ätiologie der Arteriosklerose. So die massiv erhöhte Inzidenz von Herzinfarkten während der Krankenhausbehandlung einer ambulant erworbenen Pneumonie und die überdurchschnittlich häufige KHK bei Herztransplantierten mit Nachweis einer Cytomegalie-Virusinfektion (CMV). Hinzuweisen ist auch auf die Bedeutung des „infectious burden“, der Sero-Positivität von CMV, Hepatitis, Helicobacter pylori, Chlamydia pneumonia und dem Parodontitis-Keim Porphyromonas gingivalis, die mit einem erhöhten Auftreten von Herzinfarkt und Schlaganfall einhergeht.
In einer Vielzahl mikrobiologisch untersuchter arteriosklerotischer Plaques konnte darüber hinaus DNA von mehr als 30 unterschiedlichen Mikroorganismen gefunden werden, die in Einzelfällen sogar anzüchtbar waren. Unser Katalog klassischer Risikofaktoren für die Arteriosklerose ist mit Sicherheit nicht vollständig. Das zeigt auch der jüngst geführte Nachweis der Auslösung des Kawasaki-Syndroms, einer über Jahrzehnte als Autoimmunerkrankung geführten Aneurysmabildung der Koronarien bei Kindern, über die Zellwand durch Candida-Spezies.
Nimmt man Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur globalen Umweltverschmutzung, so lernt man, dass Feinstaub jährlich über vier Millionen Opfer durch Herzinfarkt und Schlaganfall fordert. Global gesehen sind dabei pathogene Umweltnoxen und solche durch häusliche Feuerstellen gleichermaßen verantwortlich. Beide Risikofaktoren – sowohl Infektionen viraler, bakterieller und fungaler Natur als auch pathogene Umweltnoxen – werden in derzeitigen Lehrbüchern oder aktuellen Empfehlungen zur Prophylaxe und Therapie nicht ausreichend gewürdigt.
Zweifel an einer ubiquitär wirkenden Endothelnoxe
Die alltägliche klinische Beobachtung des Kardiovaskularchirurgen und des Pathologen bewirkt darüber hinaus, dass man die Lehrmeinung zur Ätiologie und Pathogenese der Arteriosklerose nicht als universelles Erklärungsmodell akzeptieren kann. So erscheint es zwar allgemein anerkannt, dass der krankhafte Prozess in der Gefäßinnenschicht, also der Intima ihren Ursprung nimmt. Jedoch kann ein einzelnes, hochgradig arteriosklerotisches Blutgefäß in seinem Verlauf durch eine Region mit unterschiedlicher äußerer Beschaffenheit vollständig arteriosklerosefrei bleiben, was mit einer ubiquitär wirkenden Endothelnoxe schwer zu vereinbaren ist.
Dies lässt sich unschwer an intramyokardial verlaufenden Koronarien, aber auch an den intramuskulären Ästen der Arteria femoralis sowie intraossär verlaufenden Arterien beobachten. Genau deshalb verwendet man in der Herzchirurgie bevorzugt die Arteria thoracica interna (A. mammaria) als Bypassmaterial, weil hier praktisch niemals eine Arteriosklerose vorkommt. Auch die regelhaft vollständige Normalisierung der Gefäßarchitektur der sklerotischen Arteria carotis interna mit ihrem Eintritt in die Schädelgrube macht einen allein über eine Intimaläsion ausgelösten Krankheitsprozess außerordentlich unwahrscheinlich. Diese Beobachtung nimmt der Krankheit auch das Stigma der „Systemerkrankung“, bleiben doch vorhersagbar Gefäße in definierbaren anatomischen Regionen grundsätzlich ausgespart.
Die völlig unterschiedliche Ausprägung in verschiedenen Gefäßprovinzen ist schwer mit dem gängigen Konzept einer generalisierten Krankheit in Einklang zu bringen. Unseren Studierenden können wir daher ebenso wenig wie unseren Patienten heute eine Antwort auf zwei Kernfragen zur Klinik der Arteriosklerose geben:
- Was löst den Prozess aus?
- Wieso bleiben definierte Gefäßabschnitte ausgespart?
Recherchiert man zum Thema Infektion und Arteriosklerose, stößt man auf sehr alte wissenschaftliche Publikationen. Die zwar häufig zitierten, wahrscheinlich aber seltener gelesenen Beiträge befassen sich mit histopathologischen Untersuchungen an Verstorbenen – viele davon an Kindern, die überwiegend Opfer von Infektionskrankheiten wurden. Die Mehrzahl dieser Veröffentlichungen aus der Zeit von vor über 100 Jahren, also vor Verfügbarwerden von Antibiotika und Impfprogrammen, erschienen in deutscher Sprache. Sie sind daher über übliche Literatursuchprogramme nicht unmittelbar verfügbar. Für die aktuelle Frage des Bezuges von Infektionen und der Pathogenese der Arteriosklerose sind sie allerdings von größter Bedeutung, gerade weil sie über Befunde aus verschiedenen Ländern und an großen Fallzahlen berichten. Der Blick in medizinhistorische Daten kann tatsächlich wichtige Erkenntnisse liefern.
Es waren im wesentlichen Pathologen, die ab circa 1850 das Wissen um die Pathogenese der Arteriosklerose erforschten. So entstand ein erbitterter Meinungsstreit zwischen den verschiedenen Schulen. Während Rokitansky (1) einen entzündungsfreien exsudativen Prozess sowie endoluminäre Fibrinabscheidungen als Ursache der Intimaverdickung postulierte, widersprach Virchow (2) vehement. Dies mit dem Hinweis, dass nur eine Nekrose der Intima zur Koagulation des Blutes und zu einer endothelialen Thrombose führen könne. Ursache der Entzündung sei eine „Irritation der Gefäßwand durch eine Ernährungsstörung“. So entstand ein Disput – endotheliale versus adventitielle Hypothese – bereits in den 50er Jahren des vorletzten Jahrhunderts.
Einige Klarheit in diese Auseinandersetzung brachte Köster (3). Ihm gebührt das Verdienst, die Mesarteriitis, also die Entzündung der Tunica media, nicht nur ausführlich zu beschreiben, sondern auch auf die Rolle der Vasa vasorum bei der Entstehung der Medialäsion mit nachfolgenden Veränderungen der Intima hinzuweisen. In diesem Zusammenhang beschreibt er sehr deutlich die entzündlichen Veränderungen in der Adventitia und die von dort entlang der Vasa vasorum in die Media eintretende „Entzündung mit bindegewebiger Wucherung“ (Kasten).
Virchow: Veränderungen der Intima sind sekundärer Natur
In Bezug zur Ätiologie der Arteriosklerose nahm Rindfleisch (4) eine entzündliche Hyperplasie der Intima an. Die Wandverdickung führe zu einem „Missverhältnis zwischen den Ernährungsmitteln und der Masse dessen, was zu ernähren ist.“ Während die lumen-nahen Intimaabschnitte noch via Diffusion vom Blutstrom versorgt wären, träte die intimale Ischämie in den Schichten nahe der Media auf. Genau hier fänden sich dann auch die „fettige Degeneration und die Verkalkung“. Hierzu hatte Virchow (2) mit folgendem Ergebnis experimentiert: „jedes chemische oder mechanische, auf die innere oder äußere Gefäßfläche applizierte Reizmittel . . . Entzündungserscheinungen nur in den äußeren und mittleren Schichten der Gefäßhäute bedingt, . . . die Veränderungen der inneren Haut nur sekundär und passiver Art sind.“
Degeneration von Zellen als Grund für Fetteinlagerungen
Zur subintimalen Atherombildung, heute als Stadium I der Arteriosklerose bezeichnet, vertrat Virchow die Ansicht, es bestünde ein „Wesensunterschied“ zwischen „gewöhnlichen Fettflecken und einem Atherom der Gefäßwand. Marchand (5) glaubte fest an die Fettdegeneration als das „für die Arteriosklerose Charakterische; zuerst werden die tiefsten Schichten der Intima angegriffen“. Einigkeit bestand hingegen in der Erkenntnis, dass die fettige Degeneration nur „leidende Zellen“ beträfe, überwiegend glatte Muskelzellen und dass dieses Phänomen auf einer Ernährungsstörung beruhe. Eine zusammenfassende Befundung ist bei Faber (6) zu finden. Der dänische Pathologe hatte am eigenen Sektionsgut in einem hohen Prozentsatz von an Nephritis, Tuberkulose und akuten Infektionen Verstorbener eine fettige Degeneration in verschiedenen Abschnitten der arteriellen Gefäßstrombahn, namentlich der Aorta, gefunden Er beschreibt dabei, dass
- Fettropfenanhäufung eine außerordentlich häufige Erscheinung in sämtlichen Schichten und Geweben der Gefäßwand ist,
- die größten Arterien und einzelne bestimmte Gefäßgebiete am kräftigsten betroffen sind,
- die Veränderungen bei Infektionen und Nephritis chronica am stärksten und häufigsten auftreten.
Wie alle seine Kollegen zu der Zeit bezieht er die Fetteinlagerungen in der Arterienwand somit auf die Degeneration von Zellen beziehungsweise Anteilen der Gefäßwand und nicht auf den Einstrom von Cholesterin via Intima. Laut seinen Autopsiebefunden waren diese Einlagerungen vor allem in Zusammenhang mit Infektionen der damaligen Zeit zu beobachten. Ein weiteres, pathogenetisch und klinisch bedeutsames Element der von Marchand als Atherosklerose benannten Erkrankungen stellt die Verkalkung dar. Sie war in Entstehung und Ausprägung weit weniger umstritten als die grundsätzliche Frage der Ätiologie – Entzündung, Ernährung, Gefäßmechanik – und der Atherombildung. Der Stand des Wissens unserer Pathologen vor 100 Jahren ist erneut von Faber sehr gut zusammengestellt. Er hatte Untersuchungen zum Kalkgehalt, dessen Lokalisation in der Gefäßwand sowie deren Bezug zum Alter und der Todesursache der untersuchten Verstorbenen gemacht.
Gerade beim Auftreten von Kalk zeigten sich bedeutsame Unterschiede in der heutigen Klinik im Vergleich zur Atherosklerose vor 100 Jahren. Nicht nur konnte Faber zeigen, dass bereits Kinder und Jugendliche, die an akuten und chronischen Infektionen verstorben waren, zum Teil massive Verkalkungen ihrer arteriellen Strombahn aufwiesen. Er stellte auch durchaus unterschiedliche loco-regionäre Befallsmuster der Arteriosklerose im Vergleich zum heutigen Krankengut dar. So zeigte er in hohem Maße sklerotische, verkalkte Veränderungen in der Pulmonalarterie. Auch war ein auffallend hoher Befall der Viszeralarterien zu verzeichnen, ein Befund, der heute bei uns eher Seltenheitswert besitzt.
Das 20. Jahrhundert: Cholesterin-Hypothese
Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts kam eine völlig neue Hypothese zur Entstehung der Arteriosklerose in die wissenschaftliche Diskussion. Inspiriert durch die Vermutung von Metchnikoff, dem russischen Immunologen und Nobelpreisträger 1908, dass eine zu proteinreiche Ernährung toxische Auswirkungen auf den Organismus habe, führte Ignatowsky (7) in St. Petersburg Fütterungsexperimente an Kaninchen durch. Nach wahrlich hochdosierter Gabe von Eiweiß, Fleisch und Milch stellte er insbesondere nach Fütterung von Eiern neben Veränderungen in Leber, Milz und Nieren deutliche arteriosklerotische Veränderungen der Aorta fest. Ebenfalls in St. Petersburg entschlüsselte der Experimentalpathologe Anitschkow (8) das Cholesterin als die Substanz, die auch isoliert verabreicht zu Atheromen in der Aortenwand von Kaninchen führte.
Fütterungsversuche mit Tieren erzeugt Atheromatose
Die entstandene Atheromatose glich allerdings keineswegs den arteriosklerotischen Veränderungen beim Menschen, wo das subintimale Fett als Folge der Degeneration vorhandener Zellen nachweisbar war. Auch erstreckten sich die Veränderungen beim Kaninchen selten über die thorakale Aorta hinaus in die periphere Strombahn. Darüber hinaus waren bei Nicht-Vegetariern wie dem Hund oder der Ratte vergleichbare Ergebnisse nicht zu erzielen. Auch wurde Kritik an den initialen Experimenten Anitschkows bezüglich der extrem hohen Serum-Cholesterinwerte (zwischen 500 und 1 000 mg/dL) angeführt.
Unter den etablierten Arterioskleroseforschern seiner Zeit stießen die Ergebnisse auf Unverständnis, insbesondere als die histologische Ausprägung sich so sehr von den human-pathologischen Befunden unterschied. Entsprechend kommentiert Faber (6): „In den letzten Jahren sind eine Anzahl Fütterungsversuche an Tieren angestellt worden, um den Einfluss einer perversen Ernährung auf den Organismus zu untersuchen. Ignatowsky fütterte Kaninchen mit wesentlich eiweißhaltiger Nahrung, was sehr bedeutende Veränderungen im Organismus bewirkte (Leberzirrhose, Milzgeschwulst, Hypertrophie der Nebennieren, parenchymatöse Nephritis); unter diesen Veränderungen sah man in einer Anzahl Fälle auch Atheromatose-ähnliche Prozesse in der Intima aortae, außer Nekrose der Elemente der Media.“
Die bereits von Virchow 1856 postulierte und in zahlreichen pathologischen Instituten nachgewiesene entzündliche Ursache der Arteriosklerose wurde zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts auch von Klinikern bestätigt. So formulierte der Magdeburger Internist Aufrecht in seinem viel zitierten Werk „Zur Pathologie und Therapie der Arteriosklerose“ 1908 „von einem rein anatomischen Stand aus fühle ich mich berechtigt, den Prozess der Arteriosklerose als eine Inflammation der Vasa vasorum anzusehen, welche zu trophischen Störungen der media und der intima führen.“
Diese somit akzeptierte Lehrmeinung wurde ebenso wie die Cholesterin-Hypothese in Tiermodellen experimentell untersucht. Der russische Pathologe Saltykoff (9) legte hierzu die wohl ausführlichste Studie im Jahre 1910 vor, dies aus dem Kantons-Spital St. Gallen. Über mehrere Monate injizierte er im Abstand von mehreren Wochen unterschiedliche Stämme von Staphylokokken intraperitoneal beim Kaninchen, nach seinen Angaben gar nicht zum Zwecke der Untersuchung von arteriosklerotischen Veränderungen. Nach einer maximalen Überlebenszeit von zehn Monaten zeigte sich bei allen Tieren eine Arteriosklerose, je nach Versuchsdauer in unterschiedlicher Ausprägung.
Die Franzosen Boinet und Romary (10) beschrieben 1897 den postmortalen Nachweis von Streptokokken in arteriosklerotischen Läsionen bei einem Patienten mit rheumatischer Perikarditis und einem anderen Mann, der an Erysipel verstorben war. Ferner gelang ihnen der Nachweis von Streptokokken in der Intima der erkrankten Aorta eines Kaninchens, das sie zuvor mit Streptokokken infiziert hatten.
Fazit: Neue Ansätze in der Forschung sind erforderlich
In der Vergangenheit haben wir versucht, die Arteriosklerose in vereinfachten Modellsystemen und Tiermodellen zu verstehen. Mit dem aktuellen Aufruf von AHA und Google zur Intensivierung dieser Forschung wird die Unzulänglichkeit unserer bisherigen Bemühungen deutlich. Das Verständnis der Komplexizität des Prozesses der Entstehung einer Arteriosklerose scheint durch eine reine Intensivierung bisheriger Forschungsansätze kaum erreichbar. Dazu müssen wir – in geeigneten Modellen – das Verhalten und das Verhältnis aller Elemente des Prozesses, einschließlich relevanter Störfaktoren des biologischen Systems „arterielle Gefäßwand“ untersuchen, während es funktioniert. Unklar bleibt:
- Was macht die Infektion mit den Vasa vasorum, warum werden gerade sie geschädigt?
- Warum betrifft die Arteriosklerose bei lokalisierten Infektionen fokusferne Gefäßprovinzen wie die Aorta?
- Wie können umwelttoxische, infektiöse und andere Faktoren denselben Schädigungsmechanismus auslösen? Handelt es sich um eine vergleichbare Pathogenese bei unterschiedlicher Ätiologie?
Bei den Todesursachen an der Spitze: Die „chronische ischämische Herzkrankheit“ und der „akute Myokordinfarkt“ zählen laut Statistischem Bundesamt zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland. Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
Konzept der Risikofaktoren: Da keine eindeutige Ursache für die koronare Herzerkrankung (KHK) bekannt ist, wurden Risikofaktoren identifiziert. Dazu zählen unter anderem Rauchen, Hypertonie, Diabetes, familiäre Belastung und LDL-Cholesterinerhöhung.
Entzündlich bedingte Ischämie der Arterienwand: Dies war in der Mitte des 19. Jahrhunderts überwiegende Lehrmeinung, wobei der Adventitia und den Vasa vasorum eine weitaus größere Bedeutung zukam als einer primären Intimaläsion.
Unterschiedliche Ausprägung: Die Arteria mammaria wird gerne als Bypassmaterial verwendet, weil hier praktisch niemals eine Arteriosklerose vorkommt. Eine sklerosierte Arteria carotis normalisiert sich in der Regel mit Eintritt in die Schädelgrube.
Arteriosklerose als Systemerkrankung? Die Tatsache, dass die Ausprägung sehr unterschiedlich ist, macht diese Annahme unwahrscheinlich. Bestimmte anatomische Regionen bleiben praktisch immer ausgespart.
Bis zum Jahre 1915 haben Wissenschaftler in Deutschland und Europa über einen Zeitraum von gut 50 Jahren unzählige Befunde aus Autopsien erhoben sowie gezielte Experimente zur Ätiologie und Pathogenese der Arteriosklerose durchgeführt.
Das Wissen vor 100 Jahren bezog sich auf die Arteriosklerose, wie sie in einem Zeitalter ohne Antibiotika, ohne Insulin, ohne Dialyse und – vor allem – unter Verzicht auf heutige apparative Verfahren zur klinischen In-vivo-Diagnostik erfasst wurden.
Die Pathogenese von Arterienverfettung und -verkalkung sowie der Intimaverdickung war bereits vor einem Jahrhundert bekannt. Die auch derzeit noch favorisierten Theorien zur Ätiologie wurden bereits damals streitbar diskutiert.
Die Adventitia gehört in den Mittelpunkt der Forschung. Das scheint auch deswegen sinnvoll, weil nur so der differenzielle Befall einzelner Stromgebiete verständlich wird. Von besonderer Bedeutung sind zweifelsohne die Vasa vasorum.
Cholesterinentstehung in situ: Das damals erhobene Postulat folgt der Vorstellung einer Ischämie der Gefäßwand. Die Annahme passt zu der sich relativierenden Bedeutung von Serumspiegeln, wie sie aktuell klinisch diskutiert wird.
Mikrobiologische Ursachen müssen wieder intensiver in die Arterioskleroseforschung einbezogen werden. Dies ist auch deshalb notwendig, weil ähnliche Mechanismen bei einer Feinstaubbelastung wirksam sein können.
Prof. Dr. med. Axel Haverich
Prof. Dr. med. Hans H. Kreipe
Medizinische Hochschule Hannover
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1016
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Bedeutung der Vasa Vasorum
Der Pathologe Köster beschrieb bereits 1875 eine Entzündung der Tunica media und ging auf die Rolle der Vasa vasorum ein:
„in der Muscularis zahlreiche helle Flecke, kann aber in diesen nicht eine einfache und primäre Zerreißung der elastischen Fasern erkennen, sondern erklärt sie für Entzündungsstellen mit bindegewebiger Wucherung, wie bei Leberzirrhose oder partieller interstitieller Nephritis. Dafür spricht, dass sie alle mit einem Stiel bis zur Adventitia reichen, dass in ihnen regelmäßig Gefäße existieren, d. h. dass sie um die Vasa nutritia herum sich entwickeln und dass in dem Stiel die ein- und austretenden Arterien, Venen und auch Lymphgefäße liegen. Ferner, dass regelmäßig in der Adventitia an den Eintrittsstellen der Gefäße und um diese herum eine zellige Bindegewebswucherung zu erkennen ist.
Die Entzündung beginnt also um die Vasa nutritia herum an der Außenseite der Gefäße, geht mit diesen senkrecht in die Muscularis hinein und verbreitet sich innerhalb dieser am stärksten gerade da, wo die Vasa nutritia sich capillär auflösen und nach des Vortragenden Untersuchungen im rechten Winkel umbiegen. . . . Dieses entsteht also nicht durch Endarteriitis, sondern durch Mesarteriitis.“ (Niederrheinische Gesellschaft in Bonn, Sitzung vom 19. Januar 1875).
1. | Rokitansky K: Über einige der wichtigsten Erkrankungen der Arterien. Vorgetragen in der Sitzung der mathematisch-naturwissenschaftlichen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am 26. Juni 1851. K.-K. Hof- und Staatsdruck 1852; S. 3 ff. |
2. | Virchow R: Gesammelte Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin. 1856; S. 492. |
3. | Köster: Die Entstehung der spontanen Aneurysmen und die chronische Mesarteriitis. Berliner Klinische Wochenschrift 1875. |
4. | Rindfleisch E: Lehrbuch der pathologischen Gewebelehre. II. Aufl.; S. 181, 184, 185. |
5. | Marchand F: Ueber Arteriosklerose. Verhandl D Kongr F inn Med Leipzig 1904. |
6. | Faber A: Die Arteriosklerose. Jena: Gustav Fischer Verlag 1912; S. 51. |
7. | Ignatowski A: Über die Wirkung des tierischen Eiweisses auf die Aorta und die parenchymatösen Organe der Kaninchen. Virchows Arch Pathol Anat Physiol Klin Med 1909;198:248–70 CrossRef |
8. | Anitschkow N: Über die Atherosklerose der Aorta beim Kaninchen und über deren Entstehungsbedingungen. Beitr Path Anat Allg Path 1914 , 59: 306. |
9. | Saltykow S: Arteriosklerose bei Kaninchen nach wiederholten Staphylokokkeninjektionen. Ziegler’s Beitr 1908; 43: 147. |
10. | Boinet E, Romary D: Recherches experimentales sur les aortites. Arch Med Exp 1897; 9: 902. |
Intorp, Hans W.; Schneider, Carsten; Hussmann, Sibylle A.
Aschoff, Jürgen
Kreutzfeldt, Annette
Keil, Ulrich; Spelsberg, Angela
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