SEITE EINS
Ärztliche Behandlung: Fehler ist nicht gleich Pfusch


Alle Menschen machen Fehler – auch Ärzte.“ So lautet der erste Satz eines Mitte März veröffentlichten Beitrags der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung zur aktuellen Behandlungsfehlerstatistik 2015. Auf den ersten Blick wirkt das wie eine Binsenweisheit. Doch diese nicht untypische Betonung des Selbstverständlichen ist symptomatisch für einen zwar schwerfälligen, aber zunehmend erkennbaren Wandel. Die Gesellschaft scheint ihre Haltung zum Umgang der Ärzteschaft mit Behandlungsfehlern zu ändern.
Die öffentliche Entwicklung weg von der „lege artis“-geprägten akademischen Kategorie „Kunstfehler“ über das anklagende Wort „Pfusch“ zum auf Qualitätssicherung und -management ausgelegten „Fehler“ ist Ergebnis eines Prozesses, den die Ärzteschaft selbst beschritten hat. Auf US-amerikanischen Erfahrungen aufbauend und angelehnt an bestehende Fehlersysteme aus der zivilen Luftfahrt wurde im Herbst 2004 mit der Aktion „Jeder Fehler zählt“ unter großer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und Aufregung mancher Gesundheitsberufler etwas begonnen, was inzwischen durch jahrelange kontinuierliche Aufklärungsarbeit Früchte trägt. Die Entwicklung des Fehlermanagements und deren differenzierte Betrachtung gehört inzwischen zur jährlichen Erwartungshaltung der das Gesundheitswesen beobachtenden Medien.
Heute, gut ein Jahrzehnt nach der auch berufsintern divers geführten Diskussion um die Schaffung von Fehlermanagementsystemen, differenziert die öffentliche Meinung sehr wohl zwischen Behandlungsfehlern, die systemisch bedingt, also durch entsprechendes Qualitätsmanagement vermieden werden können und dem, was vulgo als „ärztlicher Pfusch“, also als Vernachlässigung ärztlicher Pflichten und Standards gilt.
Sicher: Nach Maßgaben der Qualitätssicherung ist jeder Fehler einer zu viel. Aber die Meldung der Vorkommnisse, die systemische Betrachtung der Abläufe und die fortlaufende Optimierungsarbeit sind gute Maßnahmen zur Fehlerreduzierung. Laut der für das vergangene Jahr vollzogenen Statistik konnten die bei insgesamt mehr als 688 Millionen Behandlungen festgestellten 2 132 Fehler-Vorkommnisse in noch kleinere Promille-Bereiche geschoben werden. Ergo: Das System wirkt, die Vorfälle nehmen sukzessive ab.
Letztlich passiert das alles in einem Umfeld, das von wachsender Arbeitsverdichtung, immer mehr Reglementierung, hohen Ansprüchen an eine immer bessere Medizin, zunehmender Multimorbidität und gleichzeitig steigender Bedarfslage des Einzelnen an eine gute Ausgewogenheit von Arbeit, Freizeit und Familienleben bestimmt wird.
Ein Gesundheitswesen, dessen Leistungsfähigkeit an so vielen Stellen gleichzeitig gesteigert werden muss (oder soll?), kann auf Qualitätsmanagement nicht verzichten. Hierzu werden die sogenannten CIRS (Critical Incident Reporting-Systems) auch künftig beitragen müssen. Es wird weiterhin darum gehen, Fehler möglichst zu vermeiden.
Wo die Herausforderungen wachsen – und das ist im Gesundheitswesen in den kommenden Jahren definitiv der Fall – müssen das Prinzip Fehlervermeidung, dessen Herausforderungen und Grenzen immer wieder erläutert werden. Nur so kann sich der Unterschied zwischen Pfusch und Fehler weiter etablieren.
Egbert Maibach-Nagel
Chefredakteur
Gronemeyer, Stefan