ArchivDeutsches Ärzteblatt12/2016Arzneimitteltests in der DDR: „Der Skandal, der keiner war“

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Arzneimitteltests in der DDR: „Der Skandal, der keiner war“

Richter-Kuhlmann, Eva

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Intensive Forschungsarbeit zeigte jetzt: Es gibt keine Hinweise darauf, dass ethische Standards bei klinischen Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR verletzt worden sind.

Als Prüfzentren fungierten nicht nur Universitätskliniken, sondern auch Bezirkskrankenhäuser und andere Einrichtungen des öffentlichen DDR-Gesundheitswesens. Foto: dpa
Als Prüfzentren fungierten nicht nur Universitätskliniken, sondern auch Bezirkskrankenhäuser und andere Einrichtungen des öffentlichen DDR-Gesundheitswesens. Foto: dpa

Es war eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten, aber kein Schlussverkauf menschlicher Ressourcen eines bankrotten realsozialistischen Regimes“, so beschreibt Prof. Dr. phil. Carola Sachse von der Universität Wien kurz und knapp die vielfach erfolgte Testung von Medikamenten in der DDR durch westliche Pharmafirmen. Sachse ist Sprecherin des Wissenschaftlichen Beirats des medizinhistorischen Forschungsprojekts „Klinische Studien in der DDR im Auftrag westlicher Pharmafirmen“ des Instituts für Medizingeschichte der Charité – Universitätsmedizin Berlin, dessen Abschlussbericht am 15. März in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Das Fazit ist überraschend eindeutig: Es gibt keine Hinweise darauf, dass ethische Standards bei klinischen Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR verletzt worden sind. „Dokumente aus dieser Zeit zeigen, dass die klinischen Auftragsstudien norm- und sachgerecht dokumentiert und die Patienten auch über die Teilnahme an einer Studie aufgeklärt wurden“, betonte Sachse. Die Aufklärungsgespräche und deren Dokumentation entsprachen zwar nicht den heutigen Regeln im Sinne eines „informed consent“, doch dies war auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs nicht der Fall. Denn die Gesetze zur Arzneimittelprüfung konkretisierten sich international erst nach und nach.

Keine Heimlichtuerei

Die Studien seien Teil einer regulären klinischen Forschung gewesen und nicht heimlich durchgeführt worden, konstatiert der Bericht. „Das in der DDR geltende normative Regelwerk entsprach den seit den 1970er Jahren zunehmend schärfer gefassten internationalen Standards und war der westdeutschen Entwicklung einer penibleren Arzneimittelgesetzgebung und -kontrolle zunächst sogar um Jahre voraus“, ergänzte Sachse. Somit haben sich den Ergebnissen der Untersuchung zufolge die Vorwürfe, es habe systematische Rechtsverstöße und Unterschreitungen der damals geltenden Regeln gegeben, nicht bestätigt.

Erhoben wurden sie in den letzten Jahren durch verschiedene Berichte über die „günstige Medikamenten-Teststrecke DDR“. Schlagzeilen vom „Versuchslabor Ost“, von „Menschenversuchen“ und „schnellem Profit“ gingen vor allem 2013 durch die Medien. Sie waren schließlich der Auslöser für die rund zweieinhalbjährigen Nachforschungen und das jetzt abgeschlossene Forschungsprojekt. „Der Skandal, der keiner war“ titeln nun die Autoren des Abschlussberichts, Prof. Dr. med. Volker Hess, Laura Hottenrott und Dr. Peter Steinkamp von der Forschungsgruppe „DDR-Arzneimittelforschung“.

Suche nach der „Stecknadel“

Finanziell gefördert wurde das Vorha

Volker Hess, Studienleiter. Foto: dpa
Volker Hess, Studienleiter. Foto: dpa
ben von der Bundesbeauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer sowie der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Bundesärztekammer, den Landesärztekammern von Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Saarland und Sachsen sowie unter Beteiligung des Verbandes forschender Arzneimittelhersteller (VfA) und des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI). „Wir mussten Berge von Material sichten, um quasi die Nadel im Heuhaufen zu finden“, berichtete Studienleiter Hess bei der Präsentation des Abschlussberichts. Die Forscher waren erfolgreich: Insgesamt fanden sie 900 Hinweise auf klinische Studien oder Erprobungen von Arzneimitteln westlicher Hersteller in den Unterlagen der DDR-Behörden für den Zeitraum von 1961 bis 1990. Mehr als 300 Auftragsstudien wurden dem Bericht zufolge im Rahmen des „Immateriellen Exportprogramms“ der DDR durchgeführt, also von 1982 bis 1990. Die Forschergruppe wertete dafür nicht nur die von den DDR-Behörden hinterlassenen Materialien an den Universitätskliniken und den Bezirkskrankenhäusern und Unterlagen der Staatssicherheit aus, sondern auch Aktenmaterialien der pharmazeutischen Unternehmen sowie Interviews mit Zeitzeugen.

Doch warum fanden die Studien, die überwiegend Teil von größeren multinational und multizentrisch angelegten Arzneimittelprüfungen waren, überhaupt in der DDR statt? Für die Forscher ist die große Anzahl der klinischen Studien in der DDR im Auftrag von westlichen Pharmafirmen zunächst einmal ein Ausdruck der ständigen engen Verbindung von Ost und West, gerade auf medizinisch-wissenschaftlichem Gebiet. Allerdings habe eine Asymmetrie der Beziehungen bestanden, die aus der wachsenden Überschuldung der DDR resultierte, erläuterte Hess. Dieser versuchte sie mit den sogenannten immateriellen Exporten zu begegnen, wie der Behandlung von Patienten aus dem Westen, der Weiterbildung von Fachkräften oder der Teilnahme an den Studien.

Besonders ab 1982 wurden die Betreuungs- und Forschungsleistungen für westliche Länder zum Handelsgut. Die DDR-Behörden stellten westlichen Unternehmen ihr zentralistisches Gesundheitswesen hauptsächlich als Forschungseinrichtung zur Verfügung, um Devisen für die eigene überschuldete Planwirtschaft zu erhalten. Die Studien brachten aber auch den Zugang zu begehrten medikamentösen Neuentwicklungen. All diese „Projekte“ wurden staatlich gesteuert und überwacht.

„Für die Prüfärzte stand das Patienteninteresse im Vordergrund, ebenso wie ihr wissenschaftliches Interesse und die Möglichkeit, sich mit westlichen Kollegen auszutauschen“, erläuterte Steinkamp bei der Präsentation des Abschlussberichts. Finanzielle Anreize hätte es für die DDR-Prüfärztinnen und -ärzte kaum gegeben, allenfalls Medikamentenproben und westliche Fachliteratur sowie medizinische Geräte für die gesamte Abteilung der Klinik. Alle vertraglichen Regelungen seien über ein zentrales Organisationsbüro des SED-Staates gelaufen, das die Prüfzentren und die Prüfärzte bereitstellte, die Korrespondenz übernahm und die fachliche Qualität der Studien überwachte.

Gerade diese zentralistische Organisation war es auch, die die DDR für die westlichen Pharmafirmen so attraktiv machte. Wer aber glaubt, die klinischen Studien seien in der DDR für die Pharmafirmen besonders „billig“ zu haben gewesen, liegt falsch: „Der entscheidende betriebswirtschaftliche Vorteil für die westlichen Firmen war nicht ein geringeres Honorar, sondern der beträchtliche Zeit- und Effizienzgewinn, den die aufsichtsführenden Behörden des diktatorischen DDR-Regimes gewährleisteten, indem sie Einzelinteressen von Prüfärzten und Prüfzentren deckelten, die öffentliche Kritik ausschalteten und so für eine zügige Durchführung sorgten“, erläuterte Hess. „Das Gesundheitssystem der DDR bot westlichen Pharma-Unternehmen die Möglichkeit, Studien zuverlässig, exakt und zügig durchführen zu lassen“, betonte er. Auch die „preußische Mentalität“ der Prüfärzte hätte eine Rolle gespielt: Sie galten als hoch motiviert, qualifiziert, zugewandt, ganz bei der Sache und allzeit bereit - so das summarische Urteil eines klinischen Forschungsleiters von Hoechst. Zudem habe eine hohe Anzahl der benötigten Patienten durch das staatlich geführte Gesundheitssystem mit vielen Spezialkliniken zur Verfügung gestanden.

Noch offene Fragen

Kann mit dem Projekt dieses Kapitel deutsch-deutscher Geschichte geschlossen werden? Längst seien noch nicht alle Fragen beantwortet, meinte Sachse, unter anderem Anfragen von ehemaligen Patienten zu Studien, die nicht im Fokus des Projekts lagen. Offen bliebe auch, inwieweit die Probanden tatsächlich immer aufgeklärt wurden und ihre Einwilligung gaben. Zu beachten sei ferner das in der DDR besonders paternalistisch ausgeprägte Arzt-Patienten-Verhältnis sowie der Mangel an Medikamenten. Beides könnte möglicherweise die Bereitschaft der Patienten zu einer Teilnahme an einer Studie erhöht haben. Ferner habe es in der DDR keine kritische Öffentlichkeit gegeben, die Fehler hätte aufdecken können.

Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

@Bisher dazu im DÄ erschienen:
http://d.aerzteblatt.de/UH23

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