ArchivDeutsches Ärzteblatt14/2016Radikalisierung: „Die Ideologien versprechen Orientierung und Halt“

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Radikalisierung: „Die Ideologien versprechen Orientierung und Halt“

Bühring, Petra

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Warum wenden sich Jugendliche und junge Erwachsene rechtsradikalen und – aktuell verstärkt – militanten islamistischen Gruppierungen zu? Die Antworten sollen Ärzten und Therapeuten ermöglichen, extremistisch Entglittenen Hilfen anzubieten.

Nach den Terroranschlägen versammelten sich am Abend des 23. März hunderte Trauernde im Zentrum von Brüssel. Fotos: picture alliance
Nach den Terroranschlägen versammelten sich am Abend des 23. März hunderte Trauernde im Zentrum von Brüssel. Fotos: picture alliance

Brüssel und Paris – islamistisch motivierte Terroranschläge sorgen für Entsetzen, Trauer und Wut. Europa scheint dem Gewaltpotenzial des sogenannten Islamischen Staats (IS) zurzeit nicht viel entgegensetzen zu können. Gleichzeitig zünden rechtsextreme Gruppen oder Einzeltäter Flüchtlingsunterkünfte an; an Übergriffe auf Migranten erinnert immer noch der medial geführte Prozess um NSU-Mitglied Beate Zschäpe. Mit der Frage, wie und warum Menschen sich radikalisieren und in extremistische Gruppierungen entgleiten, befassten sich im vergangenen November Experten am Rande einer Psychiatertagung. Es sei höchste Zeit, sich dem Phänomen aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Perspektive zu nähern, um Radikalisierung und Extremismus entgegenwirken zu können, hieß es dort. Das Deutsche Ärzteblatt berichtete ausführlich darüber („Ein psychopathologisches Musterprofil gibt es nicht“, Heft 40/2015).

Wenig Forschung vorhanden

Die Soziologin Michaela Glaser leitet beim Deutschen Jugendinstitut in Halle die Forschungsstelle Rechtsextremismus und Radikalisierungsprävention. Sie beschäftigt die Frage, warum sich junge Menschen rechtsradikalen und islamistischen Gruppierungen zuwenden. „Das Thema Islamismus wurde in Deutschland erst sehr spät in den Blick genommen“, sagte sie bei einem Forum zum Thema Extremismus auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie Mitte Februar in Berlin. Entsprechend gebe es hier auch nur wenige Forschungsarbeiten; international sei die Forschung nur begrenzt vergleichbar. Dem Einstieg in extremistische Gruppen jeglicher Ideologie gemeinsam seien Desintegrations- und Krisenerfahrungen in Bezug auf Schule, Ausbildung oder Arbeit; schwierige Elternbeziehungen oder auch Gefängnisaufenthalte seien nicht selten. „Die Jugendlichen suchen nach sozialen Bindungen und werden von der vermeintlichen Attraktivität der Gemeinschaft angezogen, von der ‚Kameradschaft‘ in rechtsextremen Zusammenhängen, der ‚brotherhood‘ oder ‚sisterhood‘ islamistischer Gruppen“, berichtete Glaser. Der Einstieg erfolge in der Regel in der Jugendphase. Beim Rechtsextremismus liege das Alter der Einsteiger bei 13 bis 14 Jahren, beim Islamismus meist im jungen Erwachsenenalter. In dieser Zeit spiele generell die Suche nach Sinnstiftung eine Rolle, die Abgrenzung von den Eltern, die Suche nach Grenzerfahrungen und Abenteuern, die Neigung zur Provokation. Die Soziologin sprach von „Ideologie als Lösung für gesellschaftliche Konflikte“. Doch unabhängig davon, wie lange ein junger Mensch bereits in extremistischen Gruppen verkehrt: „Es gibt immer die Möglichkeit zum Ausstieg“, erklärte Glaser. Wichtig sei es, in der Ausstiegsarbeit eine Vertrauensbeziehung aufzubauen, die Einstellung von der Person zu trennen, um dann eine problemlagenorientierte Stabilisierung vornehmen zu können.

Der frühere Berliner Rapper und Radikalislamist Denis Cuspert (alias Deso Dogg) auf einem Screenshot eines auf Twitter veröffentlichten Fotos. Er ist in einem mutmaßlichen Enthauptungsvideo des IS zu sehen.
Der frühere Berliner Rapper und Radikalislamist Denis Cuspert (alias Deso Dogg) auf einem Screenshot eines auf Twitter veröffentlichten Fotos. Er ist in einem mutmaßlichen Enthauptungsvideo des IS zu sehen.

Mit dem Ausstieg aus islamistischen Gruppen oder spezifischer mit gewaltorientierten Salafisten und militanten Jihadisten befassen sich die Mitarbeiter von Hayat-Deutschland, einer bundesweit arbeitenden Beratungsstelle. Angehörige von Menschen, die sich in diesem Sinne radikalisieren und sich dem IS anschließen und nach Syrien oder in den Irak ausreisen, finden dort Hilfe. Aber auch wer damit brechen will kann sich an Hayat wenden (Kasten). „Bundesweit beraten wir zurzeit 230 Familien – quer durch alle Gesellschaftsschichten, aus Ostdeutschland wie aus Westdeutschland“, berichtete Claudia Dantschke von Hayat und dem Zentrum Demokratische Kultur.

Die Islamismus-Expertin beobachtet seit 2011 einen sogenannten Pop-Jihadismus, der Jugendliche stark anzieht. Figuren wie Denis Cuspert, der zunächst als Rapper „Deso Dogg“ und später als salafistischer Prediger und IS-Kämpfer Bekanntheit erlangte, sind stellvertretend hierfür. Der in Berlin geborene Cuspert starb 2015 in Syrien. Zu diesem Phänomen gehört auch die äußerliche Erscheinung mit Kappe, Vollbart und weiten Hosen bis zum Knöchel.

Salafistische Angstpädagogik

„Der Salafismus beansprucht die absolute Souveränität Gottes in allen Lebensbereichen und lehnt eine zeitgemäße Interpretation des Islam strikt ab“, erklärte Dantschke. Propagiert werde die Rückkehr zu einem vermeintlich „reinen“ Islam, wie er zu Zeiten des Propheten Muhammad im siebten Jahrhundert gelebt worden sein soll. Ungläubige in diesem Sinne sind alle Muslime, die nicht dem strengen Islamverständnis der Salafisten folgen sowie alle Andersgläubigen und Atheisten. „Die jugendgerechte Aufmachung der salafistischen Angstpädagogik, im Sinne von ‚das Pa-radies liegt im Jenseits‘ funktio-niert erschreckend gut“, betonte Dantschke. Entsprechende Videos gebe es im Internet, wie überhaupt die Radikalisierung der Jugendlichen über die sozialen Netzwerke stattfinde. Diese mit dem Glauben verbundenen ‚Paradies-Jenseits-Versprechen‘ übten eine enorme Anziehung aus.

Die Salafisten sind nach Erkenntnissen von Claudia Dantschke eine sehr heterogene Bewegung: Es gibt auch unpolitische Salafisten, die Mehrheit bildet jedoch eine politisch-missionarische Strömung, die aber Gewalt ablehnt. Daneben gibt es eine Strömung, die den bewaffneten Jihad legitimiert und schließlich die jihadistischen Salafisten, die zu Gewalt aufrufen und/oder selbst gewaltbereit sind. Die letztgenannten beiden Gruppen werden vom Verfassungsschutz beobachtet, die deren Zahl auf rund 8 350 Personen schätzt. Nach Dantschkes Ansicht müssten noch 10 000 bis 20 000 hinzu gezählt werden. Rund 1 500 gewaltbereite Jihadisten halten sich nach Einschätzung der Expertin aktuell in Syrien auf.

Warum Jugendliche und junge Erwachsene aus Deutschland sich salafistisch radikalisieren und sogar nach Syrien ausreisen, um sich dem IS anzuschließen, versuchte Ahmad Mansour, ebenfalls vom Zentrum für Demokratische Kultur, zu erklären. Der Diplom-Psychologe, der aus einem kleinen arabischen Dorf in Israel stammt, führt das einerseits auf „die Suche nach einer Vaterfigur“ zurück, auch bei den Frauen, die immerhin 20 Prozent der Syrien-Ausreiser ausmachten. „Meist sind es Jugendliche, bei denen der Vater fehlte, mit kritischen Lebensereignissen, Depressionen und Diskriminierungserfahrungen.“ Die bereits erwähnte Angstpädagogik der Salafisten arbeite mit einem „bestrafenden Vater und Gott“. „Außerdem wirkt das Nicht-infrage-Stellen des Korans, dieses blinde Folgen, für diejenigen sehr attraktiv, die überfordert sind mit den vielen Entscheidungen des Lebens“, sagte Mansour. „Die salafistische Ideologie verspricht Orientierung und Halt.“

Der Psychologe Ahmad Mansour vom Zentrum für Demokratische Kultur erklärt die Faszination des Salafismus. Aufgrund seiner aktuellen Medienpräsenz braucht er Personenschutz.
Der Psychologe Ahmad Mansour vom Zentrum für Demokratische Kultur erklärt die Faszination des Salafismus. Aufgrund seiner aktuellen Medienpräsenz braucht er Personenschutz.

Mansour, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt und sich seitdem für Demokratie, Gleichberechtigung und friedliches Zusammenleben engagiert, steht aufgrund seiner aktuellen Medienpräsenz unter Personenschutz. In Interviews und Talk-Runden erklärt er unter anderem die Gewaltbereitschaft salafistisch radikalisierter junger Männer auch mit einer unterdrückten Sexualität. „Der Salafismus tabuisiert Sex vor der Ehe, was bei vielen gerade zu einer obsessiven Beschäftigung mit dem Thema führt.“ Ein Ausdruck davon sei das Posieren militanter Salafisten im Internet mit Katzen. Katzen als Ersatz und zum Kuscheln. Die Ausreise nach Syrien oder in den Irak sei für diese jungen Männer dann eine ersehnte Lösung.

Frauen reisen Männern nach

Junge Frauen, die sich dem IS anschließen, reisen nach Kenntnissen von Mansour entweder ihren Ehemännern oder den „Pop-Jihadisten“ nach. Muslimische Frauen, die aus patriarchalen Familienstrukturen kommen, „empfinden diesen Schritt oft als sehr erleichternd“, erklärt Mansour. „Radikalisierung als Befreiung vom Vater und den Brüdern.“ Die meisten Frauen würden sich jedoch schnell wieder zurückwünschen, wenn sie die Realität in Syrien erlebten.

Zurück zum deutschen Gesundheitssystem. Wie können Ärzte und Psychotherapeuten dazu beitragen, ausstiegsbereite junge Menschen zu reintegrieren? Wo bekommen sie Rat und Unterstützung, wenn sie in der Praxis mit radikalen Ideologien konfrontiert werden? Den Schulterschluss sucht seit Anfang 2015 das Diagnostisch-Therapeutische Netzwerk Extremismus (DNE), eine psychologisch-psychotherapeutische Fachstelle des Zentrums Demokratische Kultur in Berlin, die mit lokalen Ansprechpartnern bundesweit konsiliar-psychologische Beratung zur Deradikalisierung anbietet (Kasten). Der Geschäftsführer des DNE, der Kriminologe Dr. Bernd Wagner, berichtet im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt, wie es dazu kam: „In der Polizeiarbeit war schon in den frühen 90er-Jahren in der Diskussion, psychologische Flankierungen zu suchen, denn wir wussten, dass wir ein islamistisches Problem bekommen werden. Die Anschläge vom 11. September in New York waren dann ein Ausdruck dessen.“ Zudem sei sowohl bei Hayat als auch bei Exit ein erheblicher psychologischer Bedarf erkennbar geworden. „Wir brauchten unbedingt ein Netzwerk.“

Netzwerk Extremismus

Ziel des DNE ist grundsätzlich, ein Netzwerk von Praxen und Kliniken aufzubauen. Bisher nehmen die vier Mitarbeiter des noch jungen Netzwerks meist selbst Kontakt zu spezialisierten Ärzten, Psychotherapeuten und Suchtkliniken auf, wenn sie therapeutische Hilfe für diejenigen brauchen, die aussteigen wollen. „Die Motivation für eine Psychotherapie kommt oft durch den biografischen Transformationsprozess, der vieles verändert, was früher noch abgelehnt wurde oder nicht kompatibel mit der eigenen Person oder der Gruppe erschien“, erklärt Sozialwissenschaftlerin Kerstin Sischka, Projektleiterin beim DNE und Psychologische Psychotherapeutin in Ausbildung. „Manche erkennen im Ausstiegsprozess auch, dass sie ein Problem mit der Affektregulation haben und sich dadurch begünstigt an Gewalthandlungen beteiligt haben.“

Auf der anderen Seite gibt es auch psychiatrische Einrichtungen, die radikalisierte Menschen behandeln, die sich während der Therapie für einen Ausstieg entscheiden, berichtet Sischka. „Stellen die Ärzte oder Therapeuten dann – mit Einwilligung des Betroffenen – den Kontakt zu uns her, steht die Tür in die Fallarbeit offen.“

Wagner, der auch ein Staatsexamen in forensischer Psychologie besitzt und seit 1974 mehr als 700 Rechtsextreme beim Ausstieg begleitet hat, rät Ärzten und Psychotherapeuten zu einem offenen Umgang ohne Vorbehalte. „Da kommt so ein optisch schon auffälliger, vielleicht volltätowierter Mensch daher, mit rüder Aura, und erzählt dann auch noch von seiner Nazi-Horde – das kann schon erschrecken.“ Wichtig sei grundsätzlich, diese Denkwelten nicht als Irrationalität zu begreifen, sondern als eine Wirklichkeitsform des Extremisten. In keinem Fall sollte der Betroffene auf Zurückweisung oder Ablehnung stoßen, denn das könne die Radikalisierung noch verstärken. „Es empfiehlt sich, Kritik und Zuhören miteinander zu verbinden. „Man ist ja nicht da, um denjenigen sogleich zu deradikalisieren, sondern um ihn zunächst zu begreifen“, betont Wagner. Im therapeutischen Prozess könnten jedoch bestimmte Fragen in Richtung Zweifel angelegt werden, die in die Deradikalisierung übergehen können. Wenn der Betroffene dann sagt, er würde gerne aussteigen, sollte der Therapeut eine Brücke bauen und zudem das DNE konsultieren.

In der Therapie hält Sischka einen psychodynamischen Ansatz für sinnvoll: „Warum sich jemand einer bestimmten Ideologie zuwendet und sich dieser in seiner Identität angleicht, wird auch durch psychodynamische Prozesse beeinflusst. Gruppenprozesse und Ideologie sind auch immer eine Projektionsfläche für bestimmte Konflikte.“ Darüber hinaus rät die Extremismus-Expertin Ärzten und Psychotherapeuten, die aktuell mit Flüchtlingen zu tun haben, besonders aufmerksam zu sein. Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern bereits mit religiösem Fanatismus konfrontiert wurden, selbst Traumaerfahrungen gemacht haben und dann hier erkennen, dass ein Leben, so wie sie es sich erhofft hatten, kaum möglich ist, seien besonders gefährdet: „Wenn diese Menschen hier Kontakt zu religiösen Extremisten bekommen, radikalisieren sie sich möglicherweise erneut.“

DNE-Geschäftsführer Wagner hält eine konstante Finanzierung des Netzwerks und der Beratungsstellen in der Extremismus-Arbeit für enorm wichtig, denn er sieht den wachsenden Bedarf. Sein Prognose ist düster: „Wenn wir den Flüchtlingsansturm nicht in den Griff bekommen, werden uns die auf europäischem Boden ausgetragenen Regionalkämpfe und die verschiedenen Extremismen noch gigantisch beschäftigen. Dazu kommt ein aufsteigender Rechtsextremismus auch militanter Prägung.“ Und das werde sich auch im medizinisch-therapeutischen Bereich niederschlagen.

Petra Bühring

Die Initiativen

Das Diagnostische-Therapeutische Netzwerk Extremismus (DNE) in Berlin bietet konsiliar-psychologische Beratung für Ärzte, Psychotherapeuten und Fachkräfte aus dem psychosozialen Bereich, die mit radikalisierten Menschen zu tun haben. Das DNE leistet in Zusammenarbeit mit Exit-Deutschland und Hayat-Deutschland Unterstützung bei Ausstiegsprozessen. Anliegen des Netzwerkes ist es zudem, weitere Praxen, Ambulanzen und Kliniken für die Zusammenarbeit zu gewinnen.

Das DNE startete Anfang 2015 als Modellprojekt des Bundesprogramms „Demokratie leben“, das sich auf diverse Erscheinungsformen von politischer Radikalität richtet und vom Bundesfamilienministerium gefördert wird. Initiator des DNE ist ebenso wie bei Hayat und Exit das Zentrum für Demokratische Kultur. Die Zusammenarbeit mit den beiden Ausstiegsberatungsstellen läuft Hand in Hand.
Kontakt: Telefon: 030 23489328, kontakt@dne-deutschland.de, dne-deutschland.de

Exit-Deutschland, ist eine bundesweit tätige Initiative, die Menschen hilft, die mit dem Rechtsextremismus brechen wollen. Sie werden unterstützt mit Maßnahmen zur Sicherheit, Reflexion, sozialen Diensten und Arbeitsmarktintegration. Die Initiative gibt es seit zehn Jahren. Seitdem konnte rund 600 Menschen beim Ausstieg geholfen werden.
Kontakt: 0177 2404592, info@exit-deutschland.de, www.exit-deutschland.de

Basierend auf den Erfahrungen von Exit wurde 2011 Hayat-Deutschland gegründet, die bundesweit erste Beratungsstelle für Angehörige von Menschen, die sich salafistisch radikalisiert oder sich dem militanten Jihadismus angeschlossen haben. In einem zweiten Schritt wird dann versucht, auf die radikalisierte Person zuzugehen. Die Beratungsstelle wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gefördert.
Kontakt: 0157 71359963 oder 030 23489335, info@hayat-deutschland.de, www.hayat-deutschland.de

Die angehörige – Fallbeispiel 1

Frau S. wird seit 2015 durch das DNE nach Beratung und Vermittlung durch Hayat-Deutschland in einer psychischen Krise aufgrund der Ausreise ihres Sohnes zu einer jihadistischen Gruppierung im Irak psychologisch unterstützt. Zum Sohn bestand infolge der Radikalisierung und von Familienkonflikten kein Kontakt mehr.

Die psychologische Hilfe, die von den realen Problemlagen ausging, war für Frau S. entlastend. Sie konnte die Konflikte durchsprechen, fühlte sich emotional verstanden und stabilisierte sich. In den wöchentlichen Beratungsgesprächen über mehrere Monate gewann sie mehr Einsicht in die Dynamiken und Hintergründe der Radikalisierung des Sohnes.

Ambivalent zwar, entwickelte sie den Wunsch, wieder Kontakt zum Sohn aufzunehmen, um Möglichkeiten der Deradikalisierung zu finden. Es gelang ihr, einen Kontakt zu ihm herzustellen und auch zu halten. Dabei wird sie vom DNE und durch Hayat begleitet. So konnte Frau S. auch in das Hayat-Elternnetzwerk integriert werden.

Im beruflichen Kontext, wo sie mit jungen Menschen zu tun hat, wirkt Frau S. mittlerweile als Schnittstelle zu Hayat, weil sie bei Radikalisierungsanzeichen zu einer kollegialen Ansprechpartnerin geworden ist. Bei einer etwaigen Rückkehr des Sohnes möchte sie gemeinsam mit Hayat versuchen, ihn zu einem Ausstieg aus dem religiösen Extremismus zu bewegen.

Der aussteiger – Fallbeispiel 2

Herr A. meldete sich 2015 auf Anstoß seiner Freundin bei Exit-Deutschland. Der 34-Jährige stand zu diesem Zeitpunkt in direktem Kontakt zu einem extremistisch gewaltbereiten Segment des deutschen rechtsradikalen Fußballhooligantums. Er war mit (Staatsschutz)-Delikten (Propaganda und rechtsradikale Gewalt) unter Alkoholeinfluss polizeilich auffällig geworden und sah sein Leben in einer Sackgasse.

In ersten Gesprächen konnte die Motivation des Klienten gestärkt werden, Unterstützung anzunehmen, um einen Ausweg aus der eskalierenden Problemspirale zu finden und sich vom extremistischen Milieu zu distanzieren.

Das DNE wurde von Beginn an konsiliarisch zur psychodynamischen Fallreflexion hinzugezogen. Es wurden Therapieempfehlungen entwickelt, die der Klient annahm. Er entschied sich für eine stationäre Suchtrehabilitation. DNE nahm Kontakt zu einer geeigneten Klinik auf, mit der im Folgenden gut zusammengearbeitet wurde.

Der Ortswechsel ermöglichte dem Klienten eine Distanz zum bisherigen sozialen Umfeld. Durch regelmäßige Gespräche wurde er während der Klinikbehandlung durch DNE in seinem Rückblick auf sein bisheriges Leben und in seinem Versuch der Neuorientierung begleitet.

Die Motivation des Klienten, Abstand von der gewaltbereit-extremistischen Szene zu halten, stabilisierte sich. Er konnte einige Dinge in seinem Leben ordnen, entwickelte eine realistischere und ernsthaftere Sicht auf einige seiner Probleme und informierte sich eigenständig über ambulante Selbsthilfemöglichkeiten im Suchtbereich.

Nach dem Ende der Klinikbehandlung kann nun durch Exit auf dem Erreichten aufgebaut werden.

1.
Dantschke C, Mansour A, Müller J, Serbest J: Ich lebe nur für Allah – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin 2011
2.
Mansour A: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015
3.
Schmitz, D M: Ich war ein Salafist – Meine Zeit in der islamistischen Parallelwelt. Econ Verlag, Berlin, 2016.
1.Dantschke C, Mansour A, Müller J, Serbest J: Ich lebe nur für Allah – Argumente und Anziehungskraft des Salafismus. Schriftenreihe Zentrum Demokratische Kultur, Berlin 2011
2.Mansour A: Generation Allah. Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2015
3.Schmitz, D M: Ich war ein Salafist – Meine Zeit in der islamistischen Parallelwelt. Econ Verlag, Berlin, 2016.

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