ArchivDeutsches Ärzteblatt PP4/2016Psychoanalytische Frühprävention: Forschende Neugier im gemeinsamen Austausch

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Psychoanalytische Frühprävention: Forschende Neugier im gemeinsamen Austausch

Gerlach, Alf

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Die Integration von Migrantinnen und Migranten stellt in Europa derzeit nicht nur Politiker und Verwaltungen vor neue Aufgaben, sondern fordert auch von zahlreichen Pädagogen, Sozialarbeitern und Psychologen die Suche nach neuen Wegen für das Verständnis und die Bearbeitung der spezifischen Schwierigkeiten von Menschen in ihrer Auseinandersetzung mit einer ihnen fremden Kultur. Dies trifft in besonderem Maß auf Schwangere und Mütter mit Kleinkindern zu, da Neugeborene und Kleinkinder in ihrer Entwicklung besonders gefährdet sind und Defizite und Traumatisierungen aus dieser Zeit lebenslange Folgen hinterlassen können.

In dieser Situation bietet das von Claudia Burkhardt-Mußmann herausgegebene Buch mit dem richtungsweisenden Titel „Räume, die Halt geben“ einen Einblick in ein besonderes Projekt psychoanalytischer Frühprävention, das unter dem Namen „Erste Schritte“ in Frankfurt konzeptualisiert wurde. Zugleich wurde es in Zusammenarbeit mit dem Sigmund-Freud-Institut mit einem randomisierten Studiendesign beforscht, damit gesicherte Studienergebnisse eine weitere Verbreitung des Präventionsansatzes möglich machen. Wichtigstes Ziel war, Eltern zu erreichen, die Unterstützung bei früher Elternschaft unter den Bedingungen von Migration benötigten. Als Zeit und Ort für den Rahmen dieses Angebots wurden eineinhalb Stunden im Gruppenraum verschiedener Sprachkursanbieter gewählt, und zwar für die Dauer von drei Jahren beziehungsweise bis zum Kindergarteneintritt.

Gut nachvollziehbar beschreibt die Herausgeberin, wie sich das Konzept der Präventionsarbeit unter aktiver Einbeziehung der Eltern entwickelte und modifizierte. Sie betont dabei die immer wieder neu zu erarbeitende suchende, abwartende Haltung der Gruppenleiterinnen, die in Praxisreflexion und Supervision vermittelt wird. Hier wird der besondere psychoanalytische Ansatz des Projektes deutlicher, weil diese Haltung sich dem Wunsch nach schnellen Lösungen, nach Tipps und Ratschlägen aufseiten der Mütter wie der Gruppenleiterinnen entgegenstellt und stattdessen eine forschende Neugier im gemeinsamen Austausch anregt. Die Gruppen werden als „Räume, die Halt geben“, verstanden, und sollen so einen Wechsel der Perspektive im Zusammenleben mit den Kleinkindern in der neuen, ungewohnten Kultur und die Moderation amibivalenter Gefühle ermöglichen.

In weiteren Kapiteln des Buches werden konkrete Situationen und Fallbeispiele ausgeführt, in denen in sehr lebendiger Weise auch die interkulturellen Probleme des Präventionsprojektes ausgelotet werden. Die verschiedenen Autorinnen nehmen den Leser mit in ihre Beobachtungen nicht nur der Szenen zwischen Müttern und Kleinkindern, sondern auch ihre emotionalen Reaktionen, Irritationen und Missverständnisse. Diese Beispiele laden den Leser zu neuen, ungewohnten Perspektiven ein und können dazu anregen, eigene Projekte zu initiieren oder neu zu überdenken.

Der Band schließt mit einem Überblick zur begleitenden Forschung, der das Forschungsdesign beschreibt und erste Ergebnisse präsentiert. Es wird aber auch wieder einmal deutlich, wie aufwendig und mühsam solche Forschung ist. Alf Gerlach

Claudia Burkhardt-Mußmann (Hrsg.): Räume, die Halt geben. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2015, 192 Seiten, kartoniert, 19,90 Euro

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