ArchivDeutsches Ärzteblatt15/2016Deutscher Ethikrat: Fokus: Patientenwohl

POLITIK

Deutscher Ethikrat: Fokus: Patientenwohl

Richter-Kuhlmann, Eva

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Einen Denkzettel erhalten die Krankenhäuser vom Deutschen Ethikrat. Die Ökonomie – und nicht der Patient – stünde derzeit im Fokus des Krankenhausalltages, kritisiert er und schlägt konkrete Änderungen vor.

Abbildung: Fotolia/MadDog; Fotolia/eveleen007 (M)
Abbildung: Fotolia/MadDog; Fotolia/eveleen007 (M)

Es ist seine letzte Stellungnahme in dieser Amtszeit und mit ihr legt der Deutsche Ethikrat den Finger in die Wunde: Der steigende ökonomische Druck, besonders auf den Krankenhaussektor, lasse zunehmend die Sorge um das Wohl der Patienten in den Hintergrund treten, urteilt das Gremium in seiner jüngsten Stellungnahme „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus“.

„Wir besitzen in Deutschland eine Krankenhausversorgung auf hohem Niveau. Diese ist jedoch teilweise nicht ausbalanciert, weshalb durchaus Reformbedarf besteht“, erläuterte die Ende April aus dem Amt scheidende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Dr. med. Christiane Woopen, bei der Vorstellung des Papiers am 5. April in Berlin. Wenn Krankenkassen vorrangig auf Ausgabenverringerung und Anbieter auf Ertragssteigerung fokussiert seien, entstünden Effekte, die im Hinblick auf das Patientenwohl als den eigentlichen maßgeblichen normativen Maßstab „Anlass zur Sorge“ geben würden, betonte die Ärztin und Medizinethikerin.

Fehlentwicklung sichtbar

So führten beispielsweise Mengenausweitungen von Therapien nicht nur zu dem beabsichtigten Effekt der Kostensenkung, sondern häufig auch zu Zweifeln an der individuellen medizinischen Rechtfertigung. Ferner gehe teilweise die Konzentration auf besonders gewinnbringende Behandlungsverfahren zulasten anderer notwendiger Behandlungsangebote. „Solche Entwicklungen haben erhebliche Auswirkungen auf das Patientenwohl und seine Funktion als Leitprinzip der Gesundheitsversorgung“, sagte Ethikratmitglied Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Heinemann.

Nach seiner Ansicht und der des gesamten Ethikrates gehört zum Patientenwohl nicht nur die nach medizinischen Maßstäben beurteilte körperliche und seelische Situation und Therapie des Patienten, sondern auch die subjektiv empfundene Behandlungsqualität, die Möglichkeit zur Selbstbestimmung sowie die Zugangs- und Verteilungsgerechtigkeit angesichts knapper Ressourcen. Mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz und dem Krankenhausstrukturgesetz versuche der Gesetzgeber zwar bereits, verstärkt auf eine Profilierung nach Qualitätskriterien abzuzielen, sagte Heinemann. Die maßgebliche Herausforderung bestehe allerdings darin, die Kriterien für eine qualitativ hochwertige und patientengerechte Versorgung zu bestimmen, heißt es in der Stellungnahme, die für die Krankenhausversorgung durchaus einen Denkzettel darstellt.

Denn vieles muss sich nach Ansicht des Ethikrates am Alltag in deutschen Krankenhäusern ändern. Zu allererst die Kommunikation: Eine angemessene Kommunikation zwischen Arzt und Pflegepersonal sowie Patient trete derzeit oftmals aus Zeitgründen in den Hintergrund und sei die Ursache für Komplikationen und viel Verdruss, sagte der Psychologe Dr. phil. Michael Wunder. „In Zukunft werden wir auf immer besser informierte Patienten mit einem höheren Kommunikationsbedarf treffen; zudem auf mehr ältere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund“, analysierte er. Dies erfordere sowohl linguistische Fähigkeiten als auch Empathie.

Kommunikation als Schlüssel

Der Rat möchte deshalb die kommunikative und interkulturelle Kompetenz aller im Krankenhaus Tätigen fördern. Diesbezüglich sollten Aus-, Weiter- und Fortbildungsangebote entwickelt werden, schreiben die 26 Mitglieder in ihrem Papier. Sie fordern ferner, Pflegepersonalschlüssel in Abhängigkeit von Stations- und Bereichsgrößen für Krankenhäuser zu entwickeln und die Voraussetzungen für eine personale Kontinuität in der Pflege der Patienten zu schaffen. Geschäftsführer von Kliniken sollten zudem neben ihrer ökonomischen Fachkompetenz auch über grundlegende Kenntnisse in Medizin und Pflege verfügen.

Als eine Ursache für die ungünstige Entwicklung sieht der Ethikrat auch das derzeit geltende Fallpauschalensystem im Krankenhaus. „Wir sind aber Realisten und wollen das DRG-System weder abschaffen noch komplett verändern“, sagte Wunder. „Wir bauen aber auf die Lernfähigkeit des Systems und wollen einen Pflock einschlagen: das Patientenwohl.“ So sollte nach Ansicht des Gremiums zeitlicher und organisatorischer Aufwand bei den Vorgaben für die Vergütung berücksichtigt werden.

Zur Weiterentwicklung des DRG-Systems empfiehlt der Ethikrat ferner, Fehlanreizen entgegenzuwirken, die dem Patientenwohl entgegenstehen, wie vorzeitige beziehungsweise verzögerte Entlassungen oder Verlegungen von Patienten. Diese „Drehtür-Effekte“ kämen besonders bei multimorbiden Patienten vor. Um sie zu vermeiden, sollte die Abrechnung von zwei und mehr DRGs für einen Krankenhausaufenthalt ermöglicht werden. Unnötige Eingriffe könnten vermieden werden, wenn Vergütungsmodelle etabliert würden, die auch die begründete Unterlassung etwaiger Maßnahmen und das Abwarten honorierten, meint der Rat.

Für hochbetagte Patienten, Patienten mit seltenen Erkrankungen oder Patienten mit besonderen Verhaltensauffälligkeiten sollten ferner neue Vereinbarungsmöglichkeiten für Zusatzentgelte geschaffen werden. Ratsmitglied Dr. phil. Peter Radke betonte, dass allen Menschen mit Behinderung der Zugang zur Leistung zusätzlicher Assistenzpflege im Krankenhaus ermöglicht werden sollte. Für Patienten mit Demenz sollten demenzsensible Versorgungsstrukturen gefördert werden.

Geteilte Resonanz

Die Reaktionen auf die Vorschläge des Ethikrates kamen schnell. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) betonte noch am gleichen Tag, dass für die Krankenhäuser bereits jetzt das Patientenwohl die Leitschnur des Handelns sei. „Zentrale Voraussetzung für eine versorgungsgerechte Personalausstattung in den Krankenhäusern ist allerdings die gesicherte Finanzierung des Personalbestandes“, erklärte DKG-Präsident Thomas Reumann. Der Marburger Bund (MB) begrüßte die Stellungnahme des Rates. „Wir teilen auch die Kritik an dem derzeitigen DRG-Vergütungssystem, das den Patienten weniger in seiner individuellen Bedürftigkeit, sondern mehr als pauschalierten Behandlungsfall betrachtet“, sagte Rudolf Henke, Erster Vorsitzender des MB. Auch der Hartmannbund sieht sich in seinen Warnungen vor den Folgen des ökonomischen Drucks an den Krankenhäusern bestätigt. Der Vorsitzende, Dr. med. Klaus Reinhardt, appellierte an das Bundesgesundheitsministerium, die Hinweise des Ethikrates ernst zu nehmen.

Dr. med. Eva Richter-Kuhlmann

@Die Stellungnahme im Internet:
www.aerzteblatt.de/16700

Deutscher Ethikrat: Hintergründe, Fakten und Personen

Der Deutsche Ethikrat formiert sich neu: Mit der jetzt vorgelegten Stellungnahme zum „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus“ scheiden 14 der 26 unabhängigen Mitglieder des Rates aus. Am 28. April wird sich in Berlin ein neuer Deutscher Ethikrat konstituieren, der ebenfalls Stellungnahmen zu aktuellen ethischen Themen aufgrund seines eigenen Entschlusses, im Auftrag des Deutschen Bundestags oder der Bundesregierung erstellen wird. Berufen werden die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem naturwissenschaftlichen, medizinischen, theologischen, philosophischen, ethischen, sozialen, ökonomischen und rechtlichen Bereich hälftig auf Vorschlag des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung. Eine Amtszeit dauert vier Jahre, wobei dann noch einmal eine Wiederberufung möglich ist – so sieht es das 2007 verabschiedete Ethikratgesetz vor.

Der Bundestag hat seine Vorschläge für die folgende Amtszeit bereits im März vorgelegt: Die Unionsfraktion nominiert erneut die Juristin Constanze Angerer, Prof. Dr. theol. Peter Dabrock und die Ärztin Prof. Dr. med. Elisabeth Steinhagen-Thiessen und schlägt neu Prof. Dr. jur. Steffen Augsberg, die Ärztin Prof. Dr. med. Adelheid Kuhlmey sowie Prof. Dr. theol. Andreas Lob-Hüdepohl vor. Die SPD benennt Prof. Dr. med. Claudia Wiesemann für eine zweite Amtszeit und nominiert den Psychologen Prof. Dr. phil. Andreas Kruse, die Therapeutin Dr. Petra Thorn und Prof. Dr. jur. Dagmar Coester-Waltjen neu. Die Links-Fraktion schlägt erneut die Ärztin Dr. med. Christiane Fischer vor, die Grünen die Ethikerin Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. Sigrid Graumann.

Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, die Ärztin und Medizinethikerin Christiane Woopen, scheidet jetzt im April ebenfalls aus dem Rat aus. Foto: Deutscher Ethikrat, Reiner Zensen
Die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, die Ärztin und Medizinethikerin Christiane Woopen, scheidet jetzt im April ebenfalls aus dem Rat aus. Foto: Deutscher Ethikrat, Reiner Zensen

Die Bundesregierung nominiert jetzt Bischof Prof. Dr. theol. Martin Hein, den Philosophen Prof. Dr. h.c. Carl Friedrich Gethmann, den Arzt Prof. Dr. med. Leo Latasch – Mitglied im Direktorium des Zentralrats der Juden – , den türkischstämmigen Mediziner Prof. Dr. med. Ilhan Ilkilic, Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel und die Hirnforscherin Prof. Dr. med. Katrin Amunts für eine weitere Amtszeit. Als neue Mitglieder schlägt sie Prof. Dr. theol. Franz-Josef Bormann, die Medizinethikerin Prof. Dr. med. Alena Buyx, die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer, Prof. Dr. jur. Volker Lipp, die Biologin Prof. Dr. rer. nat. Ursula Klingmüller, den Humangenetiker Prof. Dr. med. Wolfram Henn sowie den Physiker und Bundesvorsitzende des gemeinnützigen Vereins Mukoviszidose, Stephan Kruip, vor.

Dass in diesem Jahr so viele Mitglieder ausscheiden, die zudem teilweise mehr als acht Jahre ethisch beratend tätig waren, liegt an der Geschichte des Ethikrates. Seit 1984 beraten Gremien Bundestag und Bundesregierung in ethischen Fragen. Auf die Enquetekommission des zehnten Deutschen Bundestags „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ folgte im Jahr 2000 die Enquetekommission des 14. Deutschen Bundestags „Recht und Ethik der modernen Medizin“. 2001 setzte das Bundeskabinett den „Nationalen Ethikrat“ ein, in dem unter anderem Christiane Woopen bereits tätig war. 2007 wurde das Ethikratgesetz verabschiedet. Der damit begründete Deutsche Ethikrat ist seit Mai 2008 tätig.

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