THEMEN DER ZEIT: Kommentar
Medizinische Sachverständige: Objektiv oder interessengeleitet?


Transparenz dürfte das einfachste und beste Mittel sein, um sich über mögliche Interessenkonflikte eines medizinischen Sachverständigen zu orientieren, meint der Kommentator.
Das medizinische Begutachtungswesen im Sozial- und Zivilrecht hat sich wie das Begutachtungswesen insgesamt in den letzten Jahren professionalisiert – in Gestalt von Leitlinien und zertifizierten Fortbildungen. Zertifizierte Fortbildungen werden von unabhängigen Fachgesellschaften, wie etwa der Deutschen Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung (DGNB), angeboten. Sie werden aber auch von der Versicherungswirtschaft durchgeführt, so von der Rückversicherung GenRe in Köln zum „Medizinischen Sachverständigen cpu“. Auf deren Homepage wird darauf verwiesen, dass die Universität zu Köln dieses Fortbildungsprogramm in Kooperation mit der GenRe Business School zertifiziert. Dass es sich bei dem universitären Partner um das Pädagogische Institut handelt, wird dort allerdings nicht erwähnt.
Ein anderes Beispiel für mögliche Interessenkonflikte und fehlende Transparenz stellt die aktuelle AWMF-Leitlinie zur „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen“ dar. Wesentliche Teile davon wurden in einer von der Dr.-Karl-Wilder-Stiftung geförderten Studie entwickelt und evaluiert. Das wird auch erwähnt, nicht aber, dass diese Stiftung von der deutschen Lebensversicherungswirtschaft gegründet wurde und medizinische Forschungsprojekte aus dem Bereich der Versicherungsmedizin unterstützt.
Gerichtsgutachter haben es im Sozial- und Zivilrecht, neben den Klägern auf der einen Seite, vorrangig mit der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und den Berufsgenossenschaften (BG) oder mit Haftpflicht-, Berufsunfähigkeits- und privaten Unfallversicherungen zu tun. Im Verwaltungsverfahren, also vor einem potenziellen Rechtsstreit, erfolgt die Begutachtung häufig durch Ärzte des Sozialmedizinischen Dienstes oder durch Ärzte von Reha- oder BG-Unfallkliniken, die in einem direkten oder indirekten Abhängigkeitsverhältnis zur BG oder GRV stehen.
Bei privaten Versicherungen sind im Verwaltungsverfahren niedergelassene Fachärzte als Gutachter tätig, zunehmend aber Einrichtungen, die ausschließlich im medizinischen Begutachtungswesen tätig sind. Die finanzielle Abhängigkeit der Sachverständigen von den Auftraggebern kann also gering bis sehr hoch sein. Geht man von der lebensnahen Hypothese aus, dass eine Versicherung es lieber sieht, nicht zu zahlen, dürfte dies bei den Sachverständigen mit der Tendenz zu einer strengeren Begutachtung verbunden sein. Entsprechende Studien liegen dazu allerdings nicht vor.
Privatgutachten sind nach der Berufsordnung objektiv zu erstatten. Gefälligkeitsgutachten, egal in welche Richtung, sind untersagt. Die Idee einer objektiven Begutachtung muss sich nicht nur behaupten gegen ökonomische Abhängigkeiten und tendenziell in eine Richtung zielende Erwartungen der Auftraggeber, sondern manchmal zusätzlich noch gegen ganz besondere finanzielle Anreize, wie etwa bei gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung der Geschäfts- oder Testierfähigkeit. Die Vergütung des gerichtlichen Sachverständigen erfolgt unabhängig vom Streitwert. Der Parteigutachter dagegen kann sein Honorar für ein „Gegengutachten“ mit der Seite, die vielleicht den Prozess und etliche Millionen zu verlieren droht, frei aushandeln – eine vielleicht verlockende Gelegenheit, endlich einmal einen Stundensatz wie ein Spitzenanwalt abrechnen zu können – was per se nicht verwerflich ist. Möglicherweise werden solche Aufträge nicht immer ergebnisoffen bearbeitet. Der Privatgutachter könnte der Versuchung unterliegen, in Ermangelung von substanziellen Argumenten dem Gericht durch das Zünden von Nebelkerzen den ohnehin meist schon schwierigen (medizinischen) Durchblick weiter zu erschweren. Vielleicht würde hier die Verpflichtung etwas Abhilfe schaffen, die Rechnung des Parteigutachters grundsätzlich offenzulegen. Schließlich findet sich auch die Rechnung des gerichtlichen Sachverständigen in den Akten.
Transparenz dürfte der einfachste und beste Gradmesser für Gerichte und Parteien sein, sich ein Bild über mögliche Interessenkonflikte eines medizinischen Sachverständigen zu verschaffen. Warum sollten umsatzsteuerpflichtige medizinische Sachverständige nicht einfach auf ihrer Homepage angeben müssen, wie viel Umsatz sie im vergangenen Jahr in den beiden Bereichen Berufsgenossenschaften und Privatversicherungen jeweils erwirtschaftet haben? Die Beweisanforderungen im Zivil- und Sozialrecht für den Versicherten beziehungsweise Kläger sind hoch. Das, was Kläger – ebenso wie Gericht und natürlich auch Beklagte – aber erwarten können und sollten, sind objektive, also unparteiische Gutachter.
Schröter, Frank
Genius, Ranihildis