POLITIK: Aktuell
Diskussion um den Philosophen Peter Singer: Widerstand gegen eine „neue“ Ethik


Mehrere Jahre lang hatte man kaum etwas gehört von Peter Singer. Doch jetzt sind die umstrittenen Thesen
des Bioethikers wieder in aller Munde. Anlaß für die erneute Diskussion war eine Einladung zu einem Kongreß
des Heidelberger Instituts für systemische Forschung. Dort wollte der Deputy Director des Centre for Human
Bioethics an der Monash University von Melbourne (Australien) erläutern, warum seiner Ansicht nach die
"traditionelle Ethik zusammengebrochen" sei. Massive Proteste von Behindertenorganisationen und Politikern
führten jedoch dazu, daß Singer wieder ausgeladen wurde. Der Philosoph, der sich schließlich von Erlangen
aus dem Kongreß zuschalten ließ, zeigte sich "überrascht" über die Reaktionen in Deutschland. Dabei lösten
seine Ansichten bereits vor Jahren eine heftige Diskussion aus.
Zur Erinnerung: In einer Betrachtung über aktive und passive Sterbehilfe (Deutsches Ärzteblatt, Heft 16/1990)
hatte seine Mitarbeiterin Helga Kuhse den "bioethischen" Standpunkt, der zwischen "lebenswertem" und
"lebensunwertem" Leben unterscheidet, vorgestellt. Für Patienten, die für immer das Bewußtsein verloren
haben, oder für Kinder, die ohne oder fast ohne Gehirn zur Welt gekommen sind, habe das Leben keinen
subjektiven Wert. Es bestehe daher normalerweise kein patientenbezogener Grund, diese Menschen am Leben
zu erhalten. Einen aufgeklärten Patienten solle ein Arzt dann sterben lassen, wenn vom Gesichtspunkt des
Betroffenen her sein durch unheilbares Leiden bestimmtes Leben nicht mehr lebenswert sei. Der Beitrag hatte
eine Flut von Leserbriefen ausgelöst (Hefte 37 und 38/1990), in denen vor allem die Begriffe "lebenswert" und
"lebensunwert" auf Kritik stießen.
"Zusammenbruch der traditionellen Ethik"
Seine "Auseinandersetzung mit einigen Aspekten der Ethik der Unantastbarkeit des Lebens", die er in
Heidelberg vortragen wollte, stellte Singer jetzt in der Zeitschrift "Universitas" vor:
Die traditionelle Ethik der Unantastbarkeit des Lebens habe das Denken und die Entscheidungen der Menschen
fast zweitausend Jahre lang bestimmt. Heute sei sie an einem Punkt angelangt, an dem sie zusammenzubrechen
drohe, schrieb der Philosoph.
Er beruft sich dabei auf die Entwicklung der Rechtsprechung in mehreren Ländern. So habe im Februar 1993
das höchste britische Gericht "viele Jahrhunderte traditionellen Rechts und medizinischer Ethik über Bord"
geworfen, als es im Fall des im Koma liegenden Anthony Bland erlaubte, "Maßnahmen zu ergreifen, die
ausdrücklich darauf zielten, dessen Leben zu beenden".
1993 habe das niederländische Parlament ein Gesetz verabschiedet, nach dem holländische Ärzte jenen
Patienten letale Injektionen geben dürfen, "die unerträglichen Leiden ohne Aussicht auf Besserung ausgesetzt
waren und um Sterbehilfe ersuchten". Und im März 1996 schließlich habe ein Federal Appeal Court der USA
das Verbot der Sterbehilfe für verfassungswidrig erklärt.
Diese Ereignisse seien "nur sichtbare Erschütterungen, die tiefgrei-fende Veränderungen im Kern der
westlichen Ethik anzeigen". Die Haltung gegenüber der Unantastbarkeit menschlichen Lebens ist nach Ansicht
Singers gegenwärtig einem Veränderungsprozeß unterworfen. Der Faktor, "der uns am stärksten zum Wandel
treibt, ist unser wachsendes menschliches Können, Menschen am Leben zu erhalten". Deshalb könne die Ethik
der Vergangenheit nicht länger aufrechterhalten werden. So sei der Hirntod bereits als ein Kriterium für den
Tod des Menschen akzeptiert worden. "Dieser Wandel in der Definition des Todes bedeutet, daß man unter
Umständen warmen, pulsierenden menschlichen Wesen keine weitere medizinische Hilfe gewährt."
Im Fall des 17jährigen Tony Bland, der 1989 in einem Stadion in Sheffield in ein Massengedränge geraten war
und dessen Gehirnteile, die mit Bewußtseinsfunktionen verbunden sind, unwiederbringlich zerstört waren,
hätten die britischen Gerichte "realistisch genug" festgestellt, daß Blands Leben nicht "lebenswert" war. Der
Fall Bland habe das britische Gericht dazu gebracht, den Begriff der Lebensqualität statt den der
Unantastbarkeit des Lebens als Grundlage von Entscheidungen zu akzeptieren.
Ein weiterer Bestandteil der "neuen" Ethik ist für Singer das "Bedürfnis nach größerer Entscheidungsfreiheit
über unser Leben". So zeigten Umfragen in den Niederlanden, daß 80 Prozent der holländischen Bevölkerung
die gegenwärtige Regelung befürworten. Singer geht davon aus, daß andere Länder deswegen dem Beispiel der
Niederlande folgen werden.
Für die meisten Gegner Singers stellt sich die Frage, ob seine Thesen überhaupt diskutabel sind. Der
querschnittgelähmte Münchner Organisationsberater Claudio Kürten ließ sich jedenfalls auf eine Diskussion
ein. "Stimmt überhaupt die Richtung all der Fragen nach der Qualität und dem Wert von Leben, den wir
erwarten? Muß nicht die Frage aller Fragen umgekehrt lauten: Welche Antworten haben wir für und mit den
Menschen, die mit gesundheitlichen Einschränkungen zur Welt kommen oder die damit zu leben haben? Kann
die Antwort wirklich lauten: Nichtsein ist besser als ein Leben mit Einschränkungen?" fragte Kürten in
"Universitas".
Auch der Vizepräsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, ist der Ansicht, daß man
sich mit Singer auseinandersetzen sollte. In einer freien Gesellschaft müsse man alle Meinungen zu Wort
kommen lassen, die innerhalb der allgemeinen Moral liegen; man dürfe dabei niemanden verletzen und keine
Ideen verfolgen, die mit der Verfassung nicht in Einklang sind, sagte er in einem Interview.
Singers Thesen bezeichnete Hoppe als "verführerische Argumente, die auf das Mitleidsgefühl zielen, nicht auf
das Mitleid mit den Betroffenen, sondern auf das Mitleid mit den Leuten auf der Beobachterseite, die das Leid
nicht aushalten können. Denn diejenigen, um die es sich handelt, sind meistens subjektiv nicht
mitleidsbedürftig. Die leben so, wie sie leben, gerne und zufrieden."
Das Heidelberger Institut für systemische Forschung und die Internationale Gesellschaft für systemische
Therapie, die Veranstalter des Kongresses, erläutern in einer Pressemitteilung, warum sie Singers Einladung
für gerechtfertigt hielten. Sie vertreten die Ansicht, daß Leben und Tod nicht mehr allein biologisch bestimmt
seien. "Längst wird der Tod eines Menschen nicht mehr nur festgestellt, sondern Menschen werden ,für tot'
erklärt, obwohl ihr Herz noch schlägt." Ein semantischer Trick, um zu kaschieren, daß hier de facto zwischen
"lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben unterschieden werde. "Die Frage, wer leben darf und wer nicht,
die Herr Singer stellt, wird alltäglich in Kliniken praktisch entschieden." So werde beispielsweise ein großer
Prozentsatz der jedes Jahr in Deutschland durchgeführten Abtreibungen wegen pränatal diagnostizierter
Behinderungen vorgenommen.
"Der Verdacht ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß all die Bestialitäten der Nazi-Zeit auch deshalb
stattfinden konnten, weil in Deutschland die Meinungsfreiheit nicht genügend geschützt wurde", heißt es
weiter. Langfristig seien Behinderte in einer Gesellschaft ohne geschützte Meinungsfreiheit gefährdeter als in
einer Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit unabhängig von den vertretenen Inhalten als hoher Wert
betrachtet wird. Die Veranstalter bedauern deshalb die Ausladung Singers. "Allein die Abwägung der zur
Debatte stehenden Werte rechtfertigt unsere Entscheidung", teilten sie mit.
Doch gerade die Behindertenverbände wollen keine neue "Euthanasie-Diskussion". Die Deutsche
Behindertenhilfe Aktion Sorgenkind e.V. schreibt: "Zu sehr fühlen sie sich an die Nazi-Ideologie vom
,unwerten Leben' erinnert. Sie werfen den sogenannten Bioethikern vor, Menschen, die nicht den
Leistungsnormen der Gesellschaft entsprechen, das Lebensrecht abzusprechen. Sie fürchten, daß hier im
Gewande einer scheinbar vorurteilsfreien Diskussion altes Eu-thanasie-Gedankengut wieder salonfähig
gemacht werden soll."
Unterstützung finden die Behindertenverbände auch bei Politikern. "Mit Entschiedenheit treten wir Singers
These entgegen, daß das mutmaßliche Glück des Kindes und seiner Eltern Meßlatte für die Zumessung des
Lebensrechts ist. Singer befürwortet die Tötung behinderter Ungeborener, Neugeborener und Erwachsener, die
sich selbst ,nicht als über die Zeit hinweg existierend wahrnehmen'. Dies bedeutet, daß für ihn das Lebensrecht
kein Menschenrecht ist, das jedem allein deshalb zusteht, weil er Mensch ist", betonen die CDU-Abgeordneten
Hubert Hüppe, Dr. Peter Liese und Peter Altmaier.
Das Europäische Parlament in Straßburg hat mit einer von Christdemokraten, Konservativen und Grünen
verabschiedeten Resolution Singers Thesen ebenfalls zurückgewiesen. Das Parlament wendet sich in der
Entschließung vor allem gegen die Aussage, "daß neugeborene Kinder und behinderte Menschen kein
uneingeschränktes Recht auf Leben haben". Gisela Klinkhammer
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