ArchivDeutsches Ärzteblatt20/2016Kodieren in der Praxis: „Die ärztliche Sicht kommt zu kurz“

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Kodieren in der Praxis: „Die ärztliche Sicht kommt zu kurz“

Beerheide, Rebecca

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Ohne Kodieren von Erkrankungen geht es auch in der ambulanten Medizin nicht mehr. Wie gut ist die Qualität der Erfassung von Behandlungsanlässen in der Praxis? Als Antwort auf ein Kassengutachten hat die KBV eine Expertise erstellen lassen.

Kodieren in der Arztpraxis: Das gehört auch in der ambulanten Medizin inzwischen dazu. Foto: iStockphoto
Kodieren in der Arztpraxis: Das gehört auch in der ambulanten Medizin inzwischen dazu. Foto: iStockphoto

Für Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus und in der Praxis gehört es zum Alltag: Das Kodieren von Erkrankungen nach ICD-10. Von der Kodierung hängt in der Klinik die Vergütung im DRG-System ab – in der niedergelassenen Praxis besteht seit dem Jahr 2000 die Pflicht, Krankheiten zu kodieren und zu verschlüsseln. Ambulante Kodierrichtlinien (AKR) scheiterten zwar im Jahr 2012, dennoch sind die Kodierungen nach ICD-10 seit 2012 relevant zur Anpassung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung, die bei den Honorarverhandlungen zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und GKV-Spitzenverband sowie auch auf Länderebene diskutiert werden.

Dabei spielt immer wieder eine Rolle, wie sich die Morbidität unter den Versicherten in Deutschland verändert. Zu dieser Frage hatte der GKV-Spitzenverband bereits 2012 ein Gutachten beim IGES-Institut in Auftrag gegeben, das zu dem Schluss kam, dass die Kodierqualität bei einigen Krankheiten und Arztgruppen nicht überzeugend ist. Untersucht wurden die Kodierungen für Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkrankungen, psychische Störungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Dialyse. Kritisiert wurde beispielsweise, dass „medizinisch unplausible Diagnosekombinationen“ bei den Versicherten dokumentiert sind.

Perspektive des Versorgers

Diese These hat nun durch ein Gutachten relativiert, welches die KBV ihrerseits in Auftrag gegeben hat. „Schon bei der ersten Durchsicht des IGES-Gutachtens hatten wir erste Hinweise, dass die medizinische/ärztliche Sicht zu kurz gekommen ist“, sagt Prof. Dr. med. Saskia Drösler im Gespräch mit dem Deutschen Ärzteblatt. Die Fachärztin für Anästhesiologie und Professorin für Medizincontrolling an der Hochschule Niederrhein in Krefeld sieht beispielsweise das klassische und bekannte Nord-Süd-Gefälle bei Schilddrüsenerkrankungen in der IGES-Studie nicht berücksichtigt.

Empfehlungen für Kodierrichtlinien, die auf ein Minimum beschränkt sind: Saskia Drösler und Benno Neukirch von der Hochschule Niederrhein in Krefeld. Foto: Svea Pietschmann
Empfehlungen für Kodierrichtlinien, die auf ein Minimum beschränkt sind: Saskia Drösler und Benno Neukirch von der Hochschule Niederrhein in Krefeld. Foto: Svea Pietschmann

 „Bei der Analyse der Kodierung muss man die Perspektive des Primärversorgers im Blick behalten. Daten von Patienten verändern sich nun einmal“, erklärt Prof. Dr. med. Benno Neukirch, der gemeinsam mit Drösler die Studie erarbeitet hat. Neukirch ist Internist und Dekan des Fachbereichs Gesundheitswesen an der Hochschule Niederrhein. Für die Studie konnten beide Forscher auf Abrechnungsdaten der KBV zugreifen, verglichen die kodierten Diagnosen mit den damit verbundenen Gebührenordnungspositionen sowie den daraufhin verordneten Arzneimitteln. Dies habe plausible Ergebnisse ergeben – besonders, wenn „man zu den

betrachteten Krankheitsbildern die Leitlinien hinzuzog“, schreiben Drösler und Neukirch. Ein Rückschluss, den das IGES-Gutachten nicht in seine Studie mit einbezogen hat.

Unspektakuläre Fehler

Insgesamt ziehen beide den Schluss, „dass die Kodierung angemessen für den Sachverhalt“ verläuft. „IGES kritisiert oft, dass zu unspezifisch kodiert werden würde. Da muss man sagen: Ärztinnen und Ärzte haben zu Beginn einer Behandlung nicht alle Informationen, da Patienten oft noch nicht so weit diagnostiziert sind“, erklärt Drösler. Beispiel hierbei sind Patienten, bei denen ein Diabetes mellitus Typ 1 kodiert wurde. Hier wurden in der IGES-Studie gravierende Fehlkodierungen in Form von Über- und Unterkodierung vor allem bei Fachärzten festgestellt. Dazu gehört, dass bei 72 Prozent der Typ-1-Patienten zeitgleich auch ein Typ- 2-Diabetes kodiert wurde. Drösler und Neukirch halten die unspezifischen Kodierungen, die vor allem durch „bestimmte nicht primär behandelnde Arztgruppen“ entstanden seien, für unspektakulär. „Aus unserer Sicht ist es nicht Aufgabe eines Urologen, zwischen Diabetes Typ 1 und 2 zu unterscheiden. Für seine Arbeit braucht er das nicht“, so Neukirch. Gleiches gelte auch für Augenärzte, die deutlich unspezifischer kodieren als Hausärzte. „Das ist für uns völlig nachvollziehbar“, so Drösler. Außerdem: „Diese Unrichtigkeit ist durch einen gezielten Hinweis zu beheben“, heißt es in der Studie. Wesentliche Auswirkungen auf die Modelle, die zur Kodierung und Vergütung im Bewertungsausschuss angestellt werden, habe die Kodierung allerdings nicht, folgern die Forscher.

Minimale Kodierrichtlinien

Drösler und Neukirch haben auch festgestellt, dass viele Ärzte beim ersten Kontakt mit dem Patienten eher zurückhaltend kodieren. „Da niemand weiß, wie sich die Situation weiter entwickelt, raten wir dazu, dass hier auch weiter mit einer gewissen Zurückhaltung kodiert wird“, so Neukirch.

Im Fazit der Studie formulieren sie es so: „Das Nebeneinander verschiedener Kodes erwies sich beim genaueren Hinsehen als nachvollziehbar.“ Somit ist der Rat der Gutachter an die KBV: „Sinnvoll wären Kodierrichtlinien, die auf ein Minimum beschränkt, aber sehr einfach und strukturiert gehalten sind. Ärztinnen und Ärzte sollen nicht mit mehr Dokumentation belastet werden. Es sollte aber sichergestellt sein, dass gleiche Fälle gleich dokumentiert werden“, so Drösler. So könnten nach Ansicht der beiden Forscher auch die deutlichen Unterschiede der beiden Gutachten bei den Kodierungen von Erkrankungen bei Dialysepatienten behoben werden. Neukirch wirbt für ein gemeinsames Verständnis davon, welche Fachrichtung wie spezifisch oder unspezifisch kodieren muss. Fehlanreize, die beispielsweise durch bestimmte Krankenkassenverträge oder Strukturpauschalen entstehen, könne man bereits jetzt sehen. Daher brauche es klare Regeln, erklärten Drösler und Neukirch. Was allerdings nicht passieren sollte: „Keinesfalls soll die rückwärtige Betrachtungsweise eingeführt werden, indem man Ärzte dazu anhält, bestimmte Kodes anzuwenden, damit Effekte in den Modellen erzielt werden“, heißt es im Fazit.

Die Studie wird die KBV in die fachliche Diskussion im Bewertungsausschuss einbringen.

Dort werde auf Arbeitsebene derzeit über die Kodierqualität und in diesem Zusammenhang über die Ermittlung der diagnosebezogenen Veränderungsraten beraten, um den Behandlungsbedarf angesichts der älter werdenden Bevölkerung realitätsnah abzubilden. KBV-Vorstandsvorsitzender Dr. med. Andreas Gassen sieht dabei das im Gesetz verankerte System der Klassifikation für Diagnosen, das zur Anpassung des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfs in der Bevölkerung im Bewertungsausschuss eingesetzt wird, als ein lernendes System. „Das heißt, dass die bei der Klassifikation identifizierten Probleme durch gezielte Maßnahmen behoben werden können“, erklärt Gassen.

Ein Beispiel sei das Kodierproblem für das unplausibel häufige Auftreten von Typ-1-Diabetes. Hier könnte man einen gezielten Altersfilter oder eine geänderte Hierarchiebeziehung der Krankheitsgruppen einfügen, schlägt Gassen vor. Damit würden bestimmte ICD-Kodes bei der Gruppierung und Komprimierung gar nicht zum Tragen kommen, so Gassen.

Kein Anlauf zur neuen AKR

Über einen zweiten Anlauf zur Einführung der AKR denkt die KBV allerdings derzeit nicht nach. Zwar wäre dann der „Ruf der Kodierqualität von ambulanten Diagnosen besser und die Krankenkassen würden eine Projektionsfläche einer oft mit Klischees operierenden Kritik verlieren“, so Gassen, dennoch würde es – jedenfalls gefühlt – zu mehr Bürokratie in Arztpraxen kommen und durch ein ambulantes Kodierregelwerk könnte es zu neuen innerärztlichen Konflikten kommen. Daher soll das Bemühen auf eine „stärker standardisierte Betrachtung der Kodierregeln bei der Dokumentation des Krankheitsgeschehens“ konzentriert werden und das neue Gutachten in die Weiterentwicklung des Klassifikationssystems des Bewertungsausschusses einfließen.

Rebecca Beerheide

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