THEMEN DER ZEIT
Teamarzt bei Hertha BSC: „Es ist eine Leidenschaft, von der man nicht loskommt“


Seit 18 Jahren betreut Dr. med. Ulrich Schleicher die Fußballer von Hertha BSC Berlin. Wenn er ins Stadion kommt, packt ihn die Spannung bis heute.
Eigentlich ist der Samstagmorgen nach einem Abendspiel ein ruhiger Tag. Doch heute ist das anders. Während das Team von Hertha-Trainer Pal Dardai lockere Auslaufrunden auf dem Trainingsgelände am Olympiastadion dreht, läuft Schleicher über die Gänge des Berliner Virchow-Klinikums. Torjäger Vedad Ibisevic muss dort wegen einer Gesichtsfraktur behandelt werden. Er ist beim Spiel gegen Hannover 96 mit einem Gegenspieler zusammengeprallt. Der Verdacht: Fraktur der linken Kieferhöhle. Doch damit nicht genug. Ein Kontrolleur der Welt-Anti-Doping-Agentur hat sich an diesem Sonnentag im April unter die Zaungäste beim Training gesellt. Er will eine unangekündigte Dopingkontrolle bei der Hertha durchführen. Bundesliga-Routine. Auf seinem Zettel steht der Name Ibisevic. Ausgerechnet. Trotz der akuten Verletzung muss der Stürmer die Urinprobe abgeben. An Ort und Stelle, in der Kieferorthopädie im Krankenhaus, der Dopingkontrolleur eilt dorthin. Schleicher ist deshalb ein gefragter Mann an diesem Morgen. Hat Ibisevic genug getrunken? Welche Medikamente hat er bekommen? Doch der Teamarzt erträgt den hektischen Samstag mit stoischer Gelassenheit. „Auch nach 18 Jahren erlebt man noch außergewöhnliche Situationen“, kommentiert er trocken. Und: „Hektik gewöhnt man sich in diesem Job sehr schnell ab.“
Bereits mit 36 Jahren hat sich Schleicher der Hertha verschrieben. Zum Job des Teamarztes kam er, weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort war: in einer orthopädischen Gemeinschaftspraxis im Berliner Bezirk Spandau, unweit der Heimat der Berliner Kicker. Der Verein suchte damals, in der Saison 1997/1998, einen neuen Mannschaftsarzt für die sportmedizinische Betreuung des Kaders. Es gab bereits Verbindungen in die Praxis, und als in dem vierköpfigen Ärzteteam die Frage aufkam, wer den Job übernehmen wird, fiel die Wahl auf den jungen Kollegen Schleicher. Für den gebürtigen Hannoveraner, seit jeher fußballinteressiert, war das fast zu schön, um wahr zu sein. Bereits während seiner Facharztausbildung in der Orthopädie der Universitätsklinik Freiburg hatte er die Vision, Profifußballer zu betreuen. „Ich war damals so oft ich konnte als Zuschauer im Dreisamstadion des SC Freiburg“, erinnert er sich. „Zwei Kollegen und ich hatten uns sogar bemüht, dort die medizinische Betreuung zu übernehmen, es ist uns aber nicht gelungen.“
In Berlin gelang dafür dann ziemlich schnell ziemlich viel. Denn mit Hertha ging es für Schleicher um die Welt. Die Berliner waren nach langer Abstinenz gerade in die 1. Bundesliga aufgestiegen – und starteten durch. Schon in der zweiten Saison nach dem Aufstieg schafften sie die Qualifikation für die Champions League, bislang das erste und einzige Mal, dass sich die alte Dame Hertha auf diesem Parkett zeigen durfte. „Das war natürlich auch für mich faszinierend, weil in Metropolen wie Barcelona, Mailand und Istanbul gespielt wurde“, blickt Schleicher auf die Anfänge zurück, und es ist zu spüren, dass es gute Bilder sind, die ihm in den Kopf kommen.
Doch damals wurde auch schnell klar, was sich bis heute bewahrheitet hat: Für das spannende Leben des Teamarztes zahlt man einen Preis.
Schleichers Alltag ist fast genauso getaktet wie das Leben eines Profis. Bundesliga, Wettbewerbe, Trainingslager: Der Orthopäde ist mit dabei, wo und wann immer die Spieler auf einen Stadionrasen auflaufen. Neben der Spielbegleitung gibt es für den Mediziner zwei Pflichttermine im regulären Trainingsbetrieb: das Abschlusstraining vor jedem Spiel und das Auslaufen am Tag danach. Zwei-Meter-Mann Schleicher versorgt dann im Behandlungszimmer auf dem Hertha-Gelände die großen und kleinen Blessuren der Kicker. Beendet ist der Hertha-Dienst damit aber nicht. Denn: Auch wenn Schleicher gerade keinen verstauchten Fuß bandagiert oder neben den Auswechselspielern auf der Betreuerbank sitzt, muss er für Spieler, Trainer, Teammanager und die Physiotherapeuten aus seinem medizinischen Team erreichbar sein. Quasi rund um die Uhr. „Eine Erreichbarkeit am Telefon ist immer gegeben. Das geht nicht anders.“
Zweitleben: Die Praxis bleibt Haupteinnahmequelle
Besonders knifflig kann diese Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit dann werden, wenn Schleicher sein anderes ärztliches Leben lebt. Nämlich das eines ganz regulären, niedergelassenen Orthopäden. Denn mit dem Fußballjob ist die Arbeit für den 55-Jährigen, den bei Hertha alle nur „Uli“ rufen, nicht getan. Gemeinsam mit seinem Bruder Gert, er ist Teamarzt der Basketballer von Alba Berlin, und einem weiteren Kollegen, praktiziert Schleicher in seiner Privatpraxis im Berliner Westen. Privat deshalb, weil sich bereits nach wenigen Jahren als Teamarzt herausstellte, dass es „neben der Betreuung eines Profikaders schwierig ist, seine Dienste in der Praxis zu vollrichten.“ Schon 2003 gab Schleicher seine Kassenzulassung zurück.
Berlin-Zehlendorf, Clayallee, 2. Etage: Dick auftragen ist Schleichers Sache nicht. In der Praxis finden sich nur dezente Spuren des Hertha-Engagements. In Schleichers Sprechzimmer fällt ein eingerahmtes blau-weißes Trikot, auf dem die Spieler unterschrieben haben, ins Auge. Ein Geschenk zum 50. Geburtstag. An einer anderen Wand hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Hertha-Teams aus der Vergangenheit. Ansonsten, typisch Arztpraxis: viel Praxisweiß, viele Räume, schön viel Licht.
Auch in der eigenen Praxis hat es die Taktung für Schleicher in sich: Montag und Dienstag sind seine langen Praxistage, dann arbeitet er den ganzen Tag. Dienstag sowie Donnerstagvormittag sind feste OP-Blöcke terminiert. Der Freitag ist ein Hertha-Praxis-Mix-Tag: Bis Mittag ist Arbeit in der Praxis angesagt, ab Nachmittag steht das Training bei der Hertha auf dem Programm. Wenn ein Auswärtsspiel ansteht, geht es danach direkt in den Flieger. Raum für eine Auszeit von der Hertha und der Praxis? Mittwoch- und Donnerstagnachmittag. Vom Wochenende bleibt in der Regel nur der Sonntagnachmittag. Ein nicht alltägliches Arbeitspensum, auch nicht für einen Mediziner. Doch Schleicher klagt nicht. Im Gegenteil: „Der Vorteil meines Jobs ist, dass er mir sehr viel Spaß macht. Das erleichtert es sehr“, sagt er.
Doch Schleicher betont, dass die Praxis auch finanziell wichtig für ihn ist. „Auch wenn man im Vergleich zu anderen Sportarten im Profifußball natürlich eine Art Aufwandsentschädigung bekommt, bleibt die Praxis meine Haupteinnahmequelle.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs muss er schmunzeln, denn: „Es wird immer gerne argumentiert, dass das Renommee und die Bekanntheit eines Arztes steigen, der als Teamarzt tätig ist. Das ist sicherlich auch so. Das Problem ist nur: Um den Bekanntheitsgrad nutzen zu können, müssen sie auch präsent sein und in der Praxis arbeiten können.“ Da hake das Prinzip dann manchmal.
Wann ist ein Spieler wieder fit?
Zu Schleichers größten Herausforderungen gehört es, Spieler durch die Zeit schwerer Verletzungen zu steuern und die schwierige, stets drängende Frage zu beantworten: Wann ist der Spieler wieder fit? „Es gibt im Profifußball immer wieder Muskelverletzungen, die nicht so ausheilen, wie man sich das wünscht. Normalerweise würde man sagen, man muss der Sache Zeit geben, aber diese Zeit ist nicht da“, sagt Schleicher. Als Arzt sitze er dann manchmal zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite gilt es für ihn, das Interesse des Trainers und des Vereins zu wahren, auf der anderen Seite die Gesundheit des Spielers zu schützen.
Seinen Job interpretiert er so, sich im Zweifelsfall auch einmal vor einen Spieler zu stellen. „Der Druck auf die Spieler ist enorm. Wenn Trainer, Berater, der Manager oder die Medien auf ihn zukommen, um zu fragen, ob er wieder fit ist, muss man auch schon mal dazwischen gehen und klar sagen, nein, ist er nicht. Es ist aus medizinischer Sicht zu riskant.“ Dieses Dazwischen-Grätschen hat der Arzt erst lernen müssen. Gerade zu Beginn seiner Karriere habe auch er sich dem großen Druck, der im Profigeschäft herrsche, manchmal gebeugt, räumt Schleicher offen ein. Er habe in seiner Karriere schon „bitteres Lehrgeld“ bezahlt, weil er Spieler zu früh wieder aufs Feld gelassen hat und dadurch Verletzungen wieder aufbrachen.
Routine und Selbstbewusstsein allein reichen nicht, um als Teamarzt bestehen zu können. Vielmehr ist der Job auch nach 18 Jahren alles andere als ein Selbstläufer. Verein, Spieler und Trainer erwarten, dass Schleicher stets über neueste Entwicklungen der Sportmedizin im Bilde ist. Und er bemüht sich, dem nachzukommen, indem er in Berlin Kongresse und fachspezifische Symposien besucht, wann immer es die Zeit zulässt. „Es ist extrem wichtig, sein Wissen regelmäßig zu überprüfen und zu erfahren, welche neuen Therapiemethoden es gerade gibt.“ Es sei für die Psyche der Spieler entscheidend, dass sie sich gut aufgehoben wüssten und Vertrauen in die Diagnose und Therapiewege hätten.
Zu den Spielern hat Schleicher zwar ein enges, aber gleichzeitig ein distanziertes Verhältnis. Heute. Zu Beginn seiner Karriere war das anders. „Als ich anfing, war ich 36 Jahre alt und die ältesten Spieler bei Hertha, wie etwa Michael Preetz, waren Anfang 30. Da ist man auch schon mal miteinander weggegangen. Heute könnten die jungen Spieler meine Kinder sein und leben in ihrer eigenen Welt.“ Allerdings ist klar, dass die Chemie stimmen muss: „Man muss als Typ von den Spielern akzeptiert werden und einen Draht zu ihnen haben, sonst funktioniert der Job nicht.“
Einen Draht hat Schleicher offensichtlich nicht nur zu den Spielern, sondern auch zu den Trainern. Dass ein Teamarzt bereits seit 18 Dienstjahren bei ein und demselben Verein tätig ist, ist im Profigeschäft eine Rarität. Denn: Jeder Trainerwechsel ist knifflig. „Wenn ein neuer Trainer kommt, hat er das Sagen. Auch für einen Vereinsarzt ist das manchmal schwierig.“ Man müsse behutsam herausfinden, wie ein Trainer tickt, was er will, was seine Wünsche sind, wo potenzielle Reibungspunkte liegen. Es könne durchaus vorkommen, dass ein Teamarzt einen Trainerwechsel nicht überlebt. Bei Schleicher ist bislang jeder Wechsel gut gegangen und das, obwohl sich bei der Hertha schon oft das Trainerkarussell gedreht hat. Wie viele Trainer er schon überlebt hat? Schleicher lacht und überlegt kurz, dann zählt er leise durch. „Eins, zwei, drei... .“ Bei acht bleibt er stehen. „Es waren mehr als das. Aber da müsste ich mich schon richtig konzentrieren, um sie alle zusammenzubekommen.“
Privat: Die Unterstützung der Familie ist gewiss
Urlaub? Auszeit? Ein schwieriges Thema für den medizinischen Chef eines Profikaders. Spieler und Verein schießen sich auf den Mediziner ein, erwarten seine Dauerpräsenz. Schleicher ist es inzwischen jedoch gelungen, sich etwas Freiraum rauszuboxen. Seit sechs Jahren hat er einen Vertreter, der ihm ab und zu den Rücken frei hält. Sich völlig auszuklinken ist allerdings selbst dann nicht möglich, wenn Schleicher für einen Urlaub einmal fernab von Berlin weilt. „Auch wenn ich im Urlaub bin, telefonieren mein Kollege und ich regelmäßig. Wenn es Probleme gibt, müssen wir uns eng abstimmen“, sagt Schleicher. Er mache dies nicht nur seinem Vertreter zuliebe, sondern auch für sich selbst. „Ich muss wissen, was läuft.“ Doch für Schleicher ist es nach 18 Jahren rund um den Fußball zwingend notwendig, sein Leben auch einmal ohne den Dauereinfluss der Lederkugel zu leben. Circa vier Wochen im Jahr macht er – mehr oder weniger – Hertha-frei.
Schleicher weiß, dass bei so viel Fußball mache Dinge zu kurz gekommen sind. Seine drei Kinder zum Beispiel, die heute 21, 19 und 12 Jahre alt sind. „Ich habe mich um meine Kinder nie so gekümmert, wie das vielleicht andere Familienväter machen. Und natürlich habe ich ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen, das kann ich klar sagen.“ Dass der intensive Job eines Mannschaftsarztes überhaupt mit der Familie vereinbar sei, habe er seiner Frau zu verdanken. „Sie ist Gott sei Dank immer mitgezogen, hat mich zum Glück nie vor die ultimative Frage gestellt und meine Arbeit immer toleriert.“
Schleicher nennt es selbst, „ein bisschen bekloppt“, dass er sich seit inzwischen fast zwei Jahrzehnten mit Haut und Haaren dem Fußball verschrieben hat. Doch die Faszination Fußball lässt ihn nicht los: Bis heute hat er Herzklopfen, wenn er eine volle Arena betritt und die Fangesänge hört. Ans Aufhören denkt er nach wie vor nicht. Wenn er nicht irgendwann bei einem Trainerwechsel von der Hertha vor die Tür gesetzt wird, will er noch eine Weile mit in die Stadien einlaufen. Das Phänomen Teamarzt ist für ihn ziemlich leicht auf den Punkt zu bringen: „Es ist eine Leidenschaft, von der man nicht loskommt.“
Nora Schmitt-Sausen
@Ein Interview mit Dr. med. Schleicher: www.aerzteblatt.de/n68028
Anpfiff
Samstag, 15.30 Uhr: klassische Anstoßzeit in der Bundesliga. Anderthalb bis zwei Stunden vor Spielbeginn betritt Schleicher die Kabine – wie auch die Profis. Und dann geht es los: Die Spieler machen erste Stretching-Übungen, Schleicher und sein Team kontrollieren die Wirbelsäule und die Muskulatur auf Verspannungen. Bei einigen Spielern wird ein lädierter Fuß getapt, bei anderen noch ein Medikament verabreicht. Ein gern eingesetzter Kniff kurz vor Anpfiff: Entzündungshemmer, die nur eine begrenzte Wirksamkeit von zwei bis drei Stunden haben. Allerdings geht das Team von Schleicher in diesen Fällen sehr vorsichtig vor: „Solche Maßnahmen sind immer mit dem Risiko verbunden, dass eine Verletzung danach wieder schlechter wird.“
In den 90 Minuten, in denen der Ball rollt und die Spieler um den Sieg kämpfen, heißt es für den Teamarzt vor allem: wachsam sein. „Als Teamarzt muss man die Spielsituation immer sehr genau beobachten, denn aus der Art und Weise, wie ein Foul passiert, kann man viele Rückschlüsse auf die Verletzung ziehen und entsprechend handeln.“ Funktionstests, die richtigen Handgriffe, Bewusstseinschecks: Schleicher weiß genau, was zu tun ist, wenn er einen verletzten Spieler auf dem Rasen erreicht hat. „Man hat auf dem Weg zum Spieler eigentlich immer schon ein Gefühl dafür, ob etwas passiert ist oder nicht.“ Relevant sei vor allem das, was nach einer notwendigen Auswechslung passiert. „Die Situation nach der Auswechslung ist sehr wichtig. Wenn man unmittelbar mit einem Kompressionsverband versorgt und mit Eiswasser kühlt, und es dadurch schafft, dass die Einblutungsphase nicht stattfindet, kann man am Ende drei, vier Tage rausholen. Bei Kapitalverletzungen spielt dieser Zeitraum natürlich nicht die Rolle, aber bei Muskelverletzungen und Prellungen ist es absolut relevant.“
Wenn sich eine Verletzung als so schlimm herausstellt, dass ein Spieler ins Krankenhaus muss, wird er von einem der Physiotherapeuten begleitet. Schleicher muss am Spielfeldrand bleiben. Falls es den Nächsten trifft. In solchen Verletzungsfällen kann der Abend nach dem Spiel für den Doc noch lange werden. Bevorzugte Behandlung der Profis? Fehlanzeige. „Ich habe schon nächtelang in Rettungsstellen gehockt, gerade an Wochenenden. Es wird zwar versucht, die Spieler schnell zu behandeln, aber wenn gerade Notfälle sind, muss man halt warten.“