MEDIZIN: Aktuell
Serie: Diabetische Neuropathie – Klinik und Therapie der sensomotorischen diabetischen Polyneuropathie
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Klassifikation
Die Diagnose einer diabetischen PNP kann in der Regel vom diabetologisch erfahrenen Allgemeinarzt oder
Internisten mit einfachen klinischen Mitteln gestellt werden (8). Außer der Erhebung einer gezielten Anamnese
mit der Frage nach sensiblen (Parästhesien und Schmerzen) sowie eventuell motorischen (Crampi)
Reizerscheinungen und Ausfällen (zum Teil Taubheit, Gangunsicherheit, Muskelschwäche) braucht man zur
Befunderhebung nur einen Reflexhammer, eine graduierte Stimmgabel (zur Messung des
Vibrationsempfindens) sowie einen Wattebausch und einen spitzen Gegenstand (zur Prüfung des Berührungs-
und Schmerzempfindens). Ein Neurologe oder Nervenarzt sollte aber immer dann zur weiteren ätiologischen
Abklärung hinzugezogen werden, wenn schwere motorische oder ungewöhnlich asymmetrisch angeordnete
Ausfälle vorliegen oder die klinische Symptomatik rasch fortschreitet.
Vom Verteilungsmuster der Ausfälle her kann man drei Manifestationstypen unterteilen: 1. den symmetrischsensiblen ("sensibles Kernsyndrom" nach Erbslöh) und 2. den symmetrisch-paretischen Manifestationstyp
sowie 3. die asymmetrischen Manifestationstypen (auch fokale oder multifokale Neuropathien genannt). Die
Häufigkeitsverteilung ist aus der Tabelle 1 ersichtlich (7). Es macht keinen Unterschied, ob die Patienten an
einem Typ-I- oder Typ-II-Diabetes leiden.
Für Verlaufsbeobachtungen und wissenschaftliche Fragestellungen ist die Hinzuziehung von psychophysischen
(Vibratometrie und Thermotestung) sowie elektrodiagnostischen Verfahren, auf die noch im weiteren
eingegangen wird, und von Funktionstests autonomer Nerven erforderlich. Mit deren Hilfe läßt sich auch eine
Unterteilung in subklinische (lediglich pathologische Werte in den Funktionstests) und klinische (subjektive
Beschwerden, pathologische klinische Befunde) Neuropathie (1) und eine Schweregradeinteilung in die Stadien
0 (keine Neuropathie), 1 (asymptomatische Neuropathie), 2 (symptomatische Neuropathie) und 3
(symptomatische Neuropathie mit Behinderung) (3) vornehmen.
Symmetrisch-sensibler Manifestationstyp
Der symmetrisch-sensible Manifestationstyp ist gekennzeichnet durch sensible Störungen, die in der Regel an
den Zehen und Füßen beginnen und sich von dort nach proximal ausbreiten (7, 10). Sie sind
gliedabschnittsweise angeordnet (socken-, strumpf-, handschuhförmig). Frühzeitig, manchmal sogar als
Erstsymptom, schwinden die Achillessehnenreflexe, so daß deren Überprüfung in die Routineuntersuchung von
Diabetikern gehören sollte. In einem Teil der Fälle klagen die Patienten von Anfang an oder auch im Verlauf
der Erkrankung über sensible Reizerscheinungen und Crampi. Sind mehr dicke, bemarkte Nervenfasern
betroffen, die das Berührungsempfinden und die Tiefensensibilität (Lageempfinden, Vibrationsempfinden)
leiten, dann bringen die Patienten Klagen über Kribbeln, Prickeln, Ameisenlaufen, Pelzigkeitsgefühl, Taubheit,
Gefühl der Schwellung oder des Eingespanntseins eines Extremitätenabschnitts vor, und man findet eine
Hypästhesie sowie meist frühzeitig eine Minderung des Vibrationsempfindens (Pallhypästhesie) sowie später
auch des Lageempfindens der Zehen ("large fibres neuropathy"). In fortgeschrittenen Fällen kommt es zu einer
sensiblen Ataxie ("pseudo-tabes diabetica"). Bei überwiegendem Befall der dünnkalibrigen Fasern, die
Schmerzen- und Temperaturempfinden vermitteln, klagen die Patienten über Schmerzen (zum Beispiel
"burning feet") und/oder Wärme- und Kälteparästhesien. Bei der neurologischen Untersuchung findet man
dissoziierte Empfindungsstörungen ("small fibres neuropathy"). Das Fehlen von Schmerzwahrnehmung ist eine
der Ursachen für die Entstehung des neurogenen Ulcus. Meist sind allerdings alle Fasertypen befallen, so daß
alle Sensibilitätsqualitäten gestört sind. Die differentialdiagnostische Abgrenzung gegenüber den beim Diabetes
mellitus häufig vorkommenden arteriellen Verschlußkrankheiten ergibt sich vor allem aus den Klagen der
Patienten über belastungsabhängige Schmerzen ("Claudicatio intermittens") und dem charakteristischen
angiologischen Befund (fehlende Fußpulse, typischer Dopplerbefund) bei in der Regel unauffälligem
neurologischen Status. Allerdings können auch beide Syndrome bei demselben Patienten beobachtet werden.
Der symmetrisch-paretische Manifestationstyp
Treten die sensiblen Störungen kombiniert mit symmetrisch angeordneten motorischen Ausfällen auf, spricht
man von einem symmetrisch-paretischen Manifestationstyp, der sich zum Teil aus dem symmetrisch-sensiblen
Manifestationstyp entwickelt. Meist sind die Ausfälle im Bereich der vom Nervus peroneus versorgten Muskeln
am stärksten ausgeprägt. Es gibt aber auch eine Gruppe von Patienten, die vor allem symmetrisch angeordnete
atrophische Lähmungen der Beckengürtel- und Oberschenkelmuskeln aufweisen ("symmetric proximal lower
limb motor neuropathy").
Asymmetrische Manifestationstypen
Man trennt die Mononeuropathia multiplex von der Schwerpunktsneuropathie ab. Bei der ersteren halten sich
die Ausfälle exakt an das Versorgungsgebiet der betroffenen Nerven (vor allem Nn. ulnaris, medianus, radialis,
femoralis, cutaneus femoris lateralis, peroneus), während beim letzteren sich Symptome eines symmetrischen
Manifestationstyps mit Schwerpunktbildungen im Ausbreitungsgebiet einzelner Nerven kombinieren. Auf drei
Sonderformen sei besonders hingewiesen:
Hirnnervenausfälle
Hirnnervenausfälle werden insbesondere im höheren Lebensalter beobachtet (12). Am häufigsten sind die Nn.
III und VI betroffen. Die Symptomatik setzt meist mit Orbitaschmerzen ein, bevor die Doppelbilder auftreten.
Pupillenreaktionen bleiben meist unbeteiligt. Die Prognose ist günstig, in den meisten Fällen ist die
Augenmuskellähmung nach vier bis sechs Wochen verschwunden. Umstritten ist der Zusammenhang zwischen
dem gleichfalls häufigen Auftreten einer peripheren Fazialisparese und dem Diabetes mellitus.
Diabetische Radikulopathie
Als Folge einer diabetischen Neuropathie können auch die segmental angeordneten Spinalnerven des
Brustmarks irritiert werden (8). Die Patienten leiden dann unter gürtelförmigen Schmerzen, die vom Rücken
zur Brust oder zum Bauch ausstrahlen. Meist wird zunächst an eine mechanische Irritation der
Spinalnervenwurzeln beim Verlassen der Brustwirbelsäule gedacht. Bei der neurologischen Untersuchung
findet man sensible Ausfälle im entsprechenden Dermatom, häufig im distalen Ausbreitungsgebiet an Brust
oder Bauch und, bei Mitbeteiligung der motorischen Fasern, segmental angeordnete Lähmungen, die dann als
hervorquellende Bauchmuskelwülste imponieren.
Diabetische Amyotrophie
Die diabetische Amyotrophie entspricht einer meist unilateral auftretenden oberen Lumbosakralplexopathie.
Die Patienten klagen anfänglich über heftige Schmerzen vom Kreuz über die Hüfte zur Vorder- und Innenseite
des Oberschenkels ausstrahlend. Schnell folgen atrophische Paresen der Beckengürtel- und vom N. femoralis
versorgten Oberschenkelmuskeln mit Verlust des Patellarsehnenreflexes. Sensible Störungen sind nur gering
ausgeprägt. Die Ausfälle gehen meist innerhalb von vier bis sechs Wochen zurück. Die wichtigste
Differentialdiagnose ist die Abgrenzung einer Wurzelirritation L 4, die manchmal nur mit Hilfe bildgebender
Verfahren wie dem CT der Lendenwirbelsäule gelöst werden kann.
Zusatzuntersuchungsbefunde
Liquor cerebrospinalis
Eine Lumbalpunktion ist nur bei differentialdiagnostischen Schwierigkeiten zur Diagnosestellung notwendig.
Man findet dabei allerdings häufig eine leichte Gesamteiweißerhöhung als Hinweis auf eine Mitbeteiligung der
Nervenwurzeln. Die Zellzahl ist normal.
Elektromyographie und Elektroneurographie
Mit der Nadel-Elektromyographie (EMG) kann schon frühzeitig, auch wenn klinisch noch keine
Parese nachweisbar ist, eine Mitbeteiligung motorischer Fasern durch Nachweis eines pathologischen
Entladungsmusters (pathologische Spontanaktivität, neurogener Umbau der Aktionspotentiale, gelichtetes
Aktivitätsmuster) erfaßt werden. Die motorische und/oder sensible Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) ist, wenn
überhaupt, meist nur leicht verlangsamt, wobei in der Regel die sensible NLG (zum Beispiel des N. suralis)
früher pathologisch verändert ist als die motorische. Darüber hinaus ist als Hinweis auf eine axonale Läsion der
Nerven das sensible Nervenpotential beziehungsweise das Muskelantwortpotential in der Amplitude reduziert.
Die Elektroneurographie dient vor allem auch zur differentialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber PNP mit
überwiegender Markscheidenschädigung wie beim akuten und chronischen Guillain-Barré-Syndrom, bei denen
man eine erhebliche NLG-Verzögerung vorfindet.
Therapeutische Möglichkeiten
Da eine langfristig bessere Blutzuckereinstellung mit einer niedrigeren Prävalenz der sensomotorischen
Neuropathie assoziiert ist, hat man einen kausalen Zusammenhang zwischen Blutzuckereinstellung und
Nervenschädigung vermutet. Diese Hypothese konnte durch die DCCT-Studie (9) bestätigt werden.
Intensivierte konventionelle Insulintherapie über fünf Jahre reduziert bei Typ-I-Diabetikern mit kurzer
Krankheitsdauer (im Mittel weniger als drei Jahre) die Manifestation einer klinischen Neuropathie um 69
Prozent (Häufigkeit in der konventionell behandelten Patientengruppe 9,8 Prozent, in der intensiviert
behandelten Gruppe 3,1 Prozent). Bei Typ-I-Diabetikern mit längerer Krankheitsdauer (knapp neun Jahre)
führte diese Behandlung ebenfalls zu einer Reduktion des Neuauftretens um 57 Prozent. Wie bedeutsam der
möglichst frühe Beginn einer nahezu normoglykämischen Stoffwechseleinstellung ist, zeigen die Ergebnisse
der Pankreastransplantation, die meist erst nach langer Krankheitsdauer (über 20 Jahre) bei Typ-I-Diabetikern
mit symptomatischer Neuropathie durchgeführt wurde: Beschwerden wurden geringer.
Indizes für motorische, autonome und sensorische Nervenfunktionen zeigen, daß die noch vorhandenen
Restfunktionen erhalten bleiben, Verbesserungen aber erst nach jahrelanger Therapie – wenn überhaupt – zu
erwarten sind (4).
Der gelegentlich äußerst quälende Schmerz kann symptomatisch mit trizyklischen Antidepressiva wirksam
behandelt werden (zum Beispiel Amitriptylin, Imipramin, Clomipramin, Nortriptylin, Desipramin; Beginn mit
10 bis 25 mg per os abends, Steigerung um 25 mg in Wochenabständen, wirksame Dosis meist zwischen 50
und 100 mg). Leider sind Nebenwirkungen häufig und manchmal schwerwiegend, so daß vor Therapiebeginn
Risiko und Nutzen der Behandlung sorgfältig analysiert werden müssen. In zweiter Linie können
Carbamazepin oder zuletzt Mexiletin eingesetzt werden. Mexiletin ist für diese Indikation vom
Bundesgesundheitsamt nicht zugelassen, so daß die Risiken besonders beachtet werden müssen. Die topische
Schmerztherapie mit Capsaicin-Creme (0,075 Prozent, vier Mal am Tag auftragen) wird häufig wegen der
anfangs erheblichen zusätzlichen Beschwerden nicht akzeptiert.
In Deutschland wird seit langem bei symptomatischer PNP a-Liponsäure eingesetzt. Erst kürzlich ist
nachgewiesen worden, daß diese Substanz nicht nur als Coenzym, sondern vor allem als Radikalenfänger wirkt
und damit an einem zentralen Mechanismus der Pathogenese der Neuropathie angreift. In einer doppelblinden,
plazebokontrollierten Studie wurde die Besserung von neuropathischen Beschwerden unter dreiwöchiger
Therapie mit 600 mg a-Liponsäure als i.v.-Infusion nachgewiesen (11). Für die orale Therapie fehlen leider
bisher entsprechende Studien.
Biochemische und morphologische Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben zu verschiedenen
pathogenetischen Hypothesen der Neuropathie geführt, die allerdings bislang die allgemein verfügbaren
therapeutischen Möglichkeiten nicht vergrößert haben, wie zum Beispiel Aldosereduktase-Hemmer, MyoInositol, Ganglioside, gamma-Linolensäure, Uridin, durchblutungsfördernde Medikamente, Aminoguanidin,
Nervenwachstumsfaktoren, Azetyl-L-Carnitin (5). Ein Überblick über die weiteren therapeutischen
Maßnahmen ist im Textkasten dargestellt.
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 1996; 93: A-1529–1532
[Heft 23]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis im Sonderdruck, anzufordern über die
Verfasser.
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med. Bernhard Neundörfer
Neurologische Klinik mit Poliklinik der Universität Erlangen-Nürnberg
Schwabachanlage 6
91054 Erlangen
1. | American Diabetes Association, American Academy of Neurology: Consensus Statement. Report and recommendations of the San Antonio Conference on Diabetic Neuropathy. Diabetes Care 1988; 11: 592-597 |
2. | Dyck PJ, Karnes J, O'Brien PC: Diagnosis, staging and classification of diabetic neuropathy and associations with other complications. In: Dyck PJ, Thomas PK, Asbury AK, Winegrad AI, Porte D eds: Diabetic Neuropathy. London, Toronto, Mexico City, Rio de Janeiro, Sydney, Tokyo, Hong Kong: Saunders Comp Philadelphia 1987: 36-44 |
3. | Dyck PJ: Detection, characterization and staging of polyneuropathy: assessed in diabetics. Muscle and Nerve 1988; 11: 21-32 |
4. | Kennedy WR, Navarro X, Goetz FC, Sutherland DE: Effects of pancreatic transplantation on diabetic neuropathy. N Engl J Med 1990; 322: 1031-1037 |
5. | Luft D: Medikamentöse Behandlung der diabetischen Neuropathie. Möglichkeiten und Grenzen. Internist Prax 1993; 33: 637-644 |
6. | Neundörfer B, Claus D, Engelhardt A: Diagnostik der Polyneuropathien. Dtsch med Wschr 1990; 115: 220-223 |
7. | Neundörfer B: Die diabetische Polyneuropathie aus internistischer Sicht. Internist 1984; 25: 613-619 |
8. | Schulz A: Brennende Schmerzen an Rumpf und Oberschenkel mit Bauchdeckenparesen. Dtsch med Wschr 1972; 97: 1568-1569 |
9. | The Diabetes Control and Complications Trial Research Group: The effect of intensive treatment of diabetes on the development and progression of long-term complications in insulin-dependent diabetes mellitus. N Engl J Med 1993; 329: 977-986 |
10. | Thomas PK, Tomlinson DR: Diabetic and Hypoglycemic Neuropathy. In: Dyck PJ, Thomas PK eds: Peripheral Neuropathy. 3. Edition. London, Toronto, Montreal, Sydney, Tokyo: Saunders Comp Philadelphia 1993: 1219-1250 |
11. | Ziegler D, Hanefeld M, Ruhnau KJ, Meißner HP, Lobisch M, Schütte K, Gries FA: The ALADIN Study Group: Treatment of symptomatic diabetic peripheral neuropathy with the anti-oxidant a-lipoic acid. A 3-week multicentre randomized controlled trial (ALADIN Study). Diabetologia 1995; 38: 1424-1433 |
12. | Zorrilla E, Kozak GP: Ophthalmoplegia in Diabetes mellitus. Ann Intern Med 1967; 67: 968-972 |