SUPPLEMENT: Perspektiven der Onkologie
Diagnostik: Liquid Biopsy – Status 2016


Die enorme Sensitivitätssteigerung der innovativen Analysemethoden wie Parallelsequenzierung (NGS), Digitale PCR und Einzelzellanalyse stellt einen technischen Quantensprung für die onkologische Diagnostik dar.
Die Liquid-Biopsy-Analytik von Tumorerkrankungen gilt neben der Immuntherapie als eines der Schlüsselfelder der modernen Onkologie und hat in den letzten vier Jahren einen wahren Boom erfahren, der sich zum Beispiel in der Verzehnfachung der Beiträge in diesem Zeitraum beim jährlichen ASCO-Meeting widerspiegelt. Auch wurden, insbesondere in den USA, Dutzende Firmen neu gegründet, die sich ausschließlich dieser Technik und deren wirtschaftlicher Verwertung widmen. Das von Bill Gates unterstützte Startup GRAIL hat mit einer Anschubfinanzierung von 100 Millionen US$ sicherlich die meiste öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, auch weil diese Firma sich zum Ziel gesetzt hat, das schwierige Feld „Diagnostik der Krebsfrüherkennung aus Blut“ in nur wenigen Jahren bis zur Marktreife zu führen.
Insgesamt sind die Erwartungen zur Umsetzung in der Klinik immens, da Liquid Biopsy nicht nur zur Verbesserung der Diagnostik von Tumoren, sondern auch insgesamt zur Verbesserung der Präzisionsmedizin beitragen soll. Die wichtigsten Anwendungsfelder sind:
- die Früherkennung von Tumoren,
- die Unterstützung bei der Therapiewahl nach Auffindung eines Tumors (beispielsweise die Bestimmung von Treibermutationen wie „EGFR-T790M“ in Abwesenheit von Tumorgewebe) und
- das Monitoring einer möglichen Resttumor-Aktivität im Patienten unter (zielgerichteter) Therapie.
Das Tumor-Monitoring mittels Liquid Biopsy ist besonders interessant, weil es möglicherweise entstehende Rezidivtumore sowohl sehr früh erkennen als auch deren gegebenenfalls verändertes molekulares Profil entschlüsseln kann. Treten zum Beispiel Resistenzmutationen unter der Erstlinientherapie auf, kann durch einen Wechsel („Switch“) der zielgerichteten Therapie (so ist die Hoffnung) das Überleben des Patienten deutlich verbessert werden. Die Liquid-Biopsy-Diagnostik dringt damit in diagnostische Bereiche der Onkologie vor, die bisher von der Pathologie (am Gewebe) oder der Radiologie (mittels bildgebender Verfahren) bedient wurden.
Grundlagen
Unter einer Liquid-Biopsy-Diagnostik versteht man (im engeren Sinne gesehen) die molekulare Analyse von tumorabgeleiteten Nukleinsäuren aus Körperflüssigkeiten, insbesondere aus Blut. Dabei können die tumorabgeleiteten Nukleinsäuren im Blut zellulär gebunden sein (in Form zirkulierender Tumorzellen oder CTCs), frei vorliegen (in Form zellfreier Tumor-DNA oder ctDNA) oder in Form von sehr kleinen Vesikeln (Exosomen). Exosomen sind insbesondere aufgrund ihres Gehalts an charakteristischen microRNAs diagnostisch interessant.
Beachtet werden sollte, dass in Zukunft durchaus weitere diagnostisch brauchbare Analyte im Blut oder anderen Körperflüssigkeiten entdeckt werden könnten: So haben Best et al. (1) gezeigt, dass Thrombozyten molekulare microRNA-Signaturen von Tumorzellen quasi wie ein Schwamm aufnehmen und diese daher diagnostisch genutzt werden können.
Bei vielen Tumorentitäten ist der Ursprung, die Stabilität und der Abbau der derzeit am häufigsten untersuchten Blutanalyte (CTCs, ctDNA, Exosomen) noch wenig erforscht. Der Boom im Feld der molekularen Blutdiagnostik beruht also nicht darauf, dass ein Quantensprung im Verständnis dieser Analyte vollzogen worden wäre. Der tatsächlich erfolgte Quantensprung war und ist vielmehr technologiegetrieben durch eine enorme Sensitivitätssteigerung bei innovativen Analysemethoden wie Parallelsequenzierung (NGS), Digitaler PCR und Einzelzellanalyse.
Derzeit am intensivsten beforscht wird die ctDNA, die aus apoptotisch oder nekrotisch gewordenen Tumorzellen stammt, welche ihre Nukleinsäuren ins Blut abgegeben haben. Die ctDNA kann leicht unter relativ standardisierten Bedingungen aus dem Blutplasma isoliert werden. Bisher werden an ctDNA vor allem die Mutationen derjenigen Gene analysiert, deren Bedeutung für das Tumorgeschehen bereits aus der Tumorgewebeanalytik bekannt ist, wie zum Beispiel die gut charakterisierten Treibermutationen in den Genen EGFR, KRAS, NRAS, BRAF oder PIK3CA.
Wegweisende Publikationen der letzten zwölf Monate
In zweiten Halbjahr 2015 und ersten Halbjahr 2016 sind eine Reihe von neuen wegweisenden Publikationen im Feld der Liquid Biopsy erschienen. So konnten die Autoren Garcia-Murillas et al. (2) am Beispiel Brustkrebs zeigen, dass eine blutbasierte DNA-Analytik sehr gut geeignet ist, eine sich abzeichnende Rezidiverkrankung vorherzusagen. Mit Hilfe sogenannter personalisierter digitaler PCR-Assays wurden die im jeweiligen Primärtumor der Brust gefundenen Treibermutationen (z. B. in den Genen TP53 oder PIK3CA) alle sechs Monate nach der Tumorentfernung im Blutplasma weiterverfolgt. Die Patientinnen mit einer frühen Rezidiverkrankung (n = 12) zeigten alle in der ctDNA einen raschen Wiederanstieg der primären Treibermutation. Hingegen blieb bei 25 von 26 krankheitsfreien Patientinnen die ursprüngliche Treibermutation auch Jahre später nicht nachweisbar. Dies heißt: ctDNA-Negativität nach Tumor-OP scheint ein guter Surrogatmarker für eine erfolgreiche Tumortherapie beim Mammakarzinom zu sein. Interessant ist auch, dass in dieser Studie ein Rückfall mittels Liquid-Biopsy-Diagnostik im Mittel acht Monate früher vorhergesagt werden konnte als mit konventionellen bildgebenden Verfahren.
Die Arbeitsgruppe um Thomas Wurdinger (1) konnte Ende letzten Jahres zeigen, dass die NGS-Sequenzierung von Thrombozyten-RNAs diagnostisch hoch interessant ist, da Blutplättchen vom Tumor abstammende sezernierte Membranvesikel aufnehmen, die tumorassoziierte mRNAs und microRNAs enthalten. Aus diesen „tumor-educated platelets“ (TEPs) lassen sich RNA-Profile definieren, die sowohl zur Früherkennung, als auch zur Differenzialdiagnose von Tumoren verwendet werden können. Dass unterschiedliche Tumorentitäten scheinbar sogar charakteristische TEP-RNA-Profile aufweisen, ist gerade auch für die Früherkennung interessant. Denn bisher nachweisbare Treibermutationen wie PIK3CA oder KRAS sind nicht oder kaum entitätenspezifisch.
Grenzen der Liquid Biopsy
Die bisherigen Studien haben gezeigt, dass die Menge an nachweisbarer ctDNA im Blut von Tumorpatienten tumorstadien- und tumorentitätenabhängig ist. Während ctDNA über alle Entitäten in 82 % der Stadium-IV-Patienten nachweisbar war, waren es in Frühstadien nur 47 % (3). Bei Patienten mit Gehirntumoren konnte ctDNA lediglich in weniger als 10 % der Fälle nachgewiesen werden. Die Ausfallrate ist damit wesentlich höher als beim Tumorgewebe, wo in circa 5 % der Fälle keine Biopsie verfügbar ist. Dies erschwert eine regelhafte molekulare Diagnostik mittels Liquid Biopsy.
Die detaillierte histopathologische Gewebediagnostik mit anschließender molekularpathologischer Analyse der aufgearbeiteten Tumorzell-DNA wird daher vermutlich auch weiterhin der etablierte Standard in der Bestimmung onkologischer Treibermutationen zum Zeitpunkt der Diagnose bleiben. Eine „real-world“-Liquid-Biopsy-Studie zur Analyse eines klinisch relevanten Panels von fünf Treibermutationen beim Lungenkarzinom erreichte tatsächlich nur eine Gesamtsensitivität von 58 % verglichen mit der Tumorgewebediagnostik (4). Die Übereinstimmungswerte (Konkordanz) zwischen blut- und gewebebasierter Diagnostik werden in den nächsten Jahren durch unterschiedliche Verbesserungen in der Prä-Analytik und Nachweistechnologie sicherlich noch gesteigert werden können.
Es bleibt aber festzustellen, dass in vielen Tumorentitäten ein signifikanter Anteil der Tumore fast keine ctDNA aufweist, so dass auch die sensitivsten Methoden wie digitale PCR oder BEAMing (5), die herunter bis 2–3 Moleküle pro Messansatz nachweisen können, an ihre technischen Grenzen stoßen. Verständlich natürlich auch, dass Messverfahren im Bereich von Einzelmolekülen einer höheren Kontaminationsgefahr unterliegen als Standardverfahren.
Klinische Nützlichkeit
In den letzten Monaten wurden zunehmend mehr klinische Studien publiziert, die die klinische Nützlichkeit („Clinical utility“) der Liquid Biopsy aufzeigen sollen. Clinical Utility ist offensichtlich rasch dort zu erreichen, wo Blut analysiert werden kann, wenn Tumorgewebe nicht verfügbar ist und der Nachweis einer Treibermutation für den Patienten therapierelevant ist. Bestes Fallbeispiel ist der Nachweis der „EGFR-T790M“-Mutation als Grundlage für den Einsatz von Drittlinien-Tyrosinkinase-Inhibitoren, die spezifisch das mutierte EGFR-Protein inhibieren können.
Der Nachweis erworbener Resistenzmutationen im Verlauf gerichteter Therapien ist über wiederholte Gewebebiopsien kaum zu bewerkstelligen. Hier kann die blutbasierte Nukleinsäureanalytik effektiv genutzt werden, um die Evolution des Tumors über die Zeit zu charakterisieren. So konnten Thress et al. (6) im Rahmen der AURA-Studie zeigen, dass Patienten fast gleichermaßen gut auf den Tumorkinaseinhibitor Osimertinib (Tagrisso®) ansprachen – und zwar unabhängig davon, ob die molekulare Typisierung des EGFR-Status über Blut- oder Gewebediagnostik erfolgte. Allerdings zeigte die Studie auch, dass die verfügbaren diagnostischen Plattformen (cobas®, therascreenTM, ddPCTTM und BEAMING dPCR) recht unterschiedliche Leistungen bezüglich Sensitivität, Spezifität und Konkordanz zum Tumorgewebe aufwiesen.
Die Liquid-Biopsy-Diagnostik soll zukünftig auch helfen, ein lange bestehendes klinisches Dilemma zu lösen, und zwar dass Patienten mit langsam wachsenden („low risk“) Prostatakarzinomen übertherapiert werden. Durch die Analyse von Urinproben von 210 Patienten nach digitaler rektaler Untersuchung konnten Kim et al. (7) eine Signatur von 34 Proteinen definieren, die eine Unterscheidung von aggressiven und indolenten Prostatakarzinomen ermöglichen soll. Die Daten sollen nun an einem großen internationalen Kollektiv von 1 000 Patienten bestätigt werden.
Ausblick, Chancen und Risiken
Derzeit etabliert sich die Liquid-Biopsy-Diagnostik zusehends als zusätzliches diagnostisches Standbein – dabei weniger als Konkurrenz zur etablierten Tumorgewebediagnostik, sondern als sinnvolle Ergänzung, wenn das Gewebe aufgebraucht oder nicht verfügbar ist. Das Potenzial der Liquid Biopsy für die Verlaufskontrolle von Tumorerkrankungen sollte für jede Tumorentität in größeren Studien vergleichend gegenüber etablierten bildgebenden Verfahren ermittelt werden.
Bei der Liquid-Biopsy-unterstützten Therapiewahl (Beispiel EGFR-Inhibitoren) sind erste Erfolge zu verzeichnen. Die Interpretation bei solchen Ansätzen wird jedoch schwierig werden, wenn im Blut (z. B. durch NGS-Analysen) mehrere Treiber- oder Resistenzmutationen in unterschiedlichen Konzentrationen gefunden werden. Welche Genmuster bei welchen Konzentrationen für eine bestimmte Tumorerkrankung klinisch relevant sind, ist zumeist noch völlig unklar.
Dies gilt umso mehr für das schwierige Feld der blutbasierten Krebsfrüherkennung. Hier stellt sich die Frage:
- Wird eine – zeitlich deutlich vor der Bildgebung erkennbare – Veränderung im Blut (z. B. der Nachweis einer Treibermutation) wirklich zu einer progredienten Tumorerkrankung führen?
- Was macht der Arzt/Onkologe mit einem solchen „Patienten“?
Die neue, extrem hohe Nachweissensitivität für molekulare Veränderungen in Tumor- und (gesunden) Körperzellen könnte möglicherweise die Grenzen zwischen „gesund“ und „krank“ fließend machen. Es ist zu hoffen, dass dem nicht so ist und sich klare molekulare Muster und Grenzwerte definieren lassen, die zwischen maligne und benigne unterscheiden können.
Dabei könnten „Big-Data“-Analysen klinischer und molekularer Daten mit neuen Verfahren wie „Deep Learning“ (Verfahren im Rahmen der künstlichen Intelligenz) helfen.
Es wird sehr spannend sein, zu erleben, wie das Anwendungspotenzial der Liquid-Biopsy-Diagnostik in den nächsten Jahren wachsen wird. ▄
DOI: 10.3238/PersOnko/2016.09.30.01
Prof. Dr. rer. nat. Edgar Dahl
Molekularpathologische Diagnostik, Institut für Pathologie,
Uniklinik RWTH Aachen
Arbeitsgruppe Molekulare Onkologie, Institut für Pathologie;
Biomaterialbank am Institut für Pathologie,
Medizinische Fakultät der RWTH Aachen
Interessenkonflikt: Der Autor erhielt Honorare für Beratertätigkeiten von
den Firmen Roche, Advisory Board Meeting zu Liquid-Biopsy-Diagnostik sowie Vortragshonorare von Roche anlässlich eines Vortrags zum Thema Liquid-Biopsy-Diagnostik auf der DGP-Tagung 2015.
@Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit3916
1. | Best MG, et al.: RNA-seq of tumor-educated platelets enables blood-based pan-cancer, multiclass, and molecular pathway cancer diagnostics. Cancer Cell 2015; 28(5): 666–76 CrossRef MEDLINE PubMed Central |
2. | Garcia-Murillas I, et al.: Mutation tracking in circulating tumor DNA predicts relapse in early breast cancer. Sci Transl Med 2015; 7: 302ra133 CrossRef |
3. | Bettegowda C, et al.: Detection of circulating tumor DNA in early- and late-stage human malignancies. Sci Transl Med 2014; 6: 224ra24 CrossRef |
4. | Couraud S, et al.: Noninvasive diagnosis of actionable mutations by deep sequencing of circulating free DNA in lung cancer from never-smokers: a proof-of-concept study from BioCAST/IFCT-1002. Clin Cancer Res 2014; 20: 4613–24 CrossRef MEDLINE |
5. | Diehl F, et al.: BEAMing: single-molecule PCR on microparticles in water-in-oil emulsions. Nat Methods 2006; 3: 551–9 MEDLINE MEDLINE |
6. | Thress KS, et al.: EGFR mutation detection in ctDNA from NSCLC patient plasma: A cross-platform comparison of leading technologies to support the clinical development of AZD9291. Lung Cancer 2015; 90: 509–15 CrossRef MEDLINE |
7. | Kim Y, et al.: Targeted proteomics identifies liquid-biopsy signatures for extracapsular prostate cancer. Nat Commun 2016; 7: 11906 CrossRef MEDLINE PubMed Central |