POLITIK: Kommentar
Bundesteilhabegesetz: Große Erwartungen – große Enttäuschungen


Mit dem Bundesteilhabegesetz sollte die Versorgung von Menschen mit Behinderung verbessert werden. Mit dem vorliegenden Entwurf wird das nicht erreicht.
Angekündigt im Koalitionsvertrag von 2013 als großes Reformvorhaben fand unter der Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter Mitwirkung von Selbsthilfegruppen, Wohlfahrtsverbänden, Fachverbänden, Fachgesellschaften ein komplexer Prozess zur Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) statt. Die Absicht, Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu fördern und damit umfassend der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden, kann nicht genug unterstützt werden. Das hehre Ziel, vollmundige Versprechungen und der partizipative Prozess selbst bewirkten anfangs sehr große Erwartungen.
Doch als Arbeitsentwurf, Referenten- und nun der Kabinettsentwurf publik wurden, waren Ernüchterung und Enttäuschung groß. Scharfe Kritik wurde laut. Öffentlicher Protest – medial nur unzulänglich begleitet – wurde organisiert. Naturgemäß sind die Schwerpunkte der Kritik nicht völlig identisch. Vereint sind alle Kritiker in der Ablehnung der Kostendämpfungs- und Sparabsichten, die nicht nur im Gesetzestext sichtbar werden, sondern auch an vielen Positionen der Ländervertreter (Bundesratsdrucksache 428/1/16).
Die Bewertung des umfangreichen und hoch komplexen Gesetzes – es umfasst immerhin 369 Seiten Gesetzestext mit Begründung – wird dadurch erschwert, dass zeitgleich auch das Dritte Pflegestärkungsgesetzes mit seinen erheblichen Wechselwirkungen mit dem BTHG im Parlament beraten wird.
Gemäß dem zeitgemäßen Behinderungsbegriff der WHO muss die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO Anwendung im BTHG finden. Doch der Gesetzentwurf hat viele ICF-Aspekte willkürlich verstümmelt und die amtliche Terminologie der deutschsprachigen ICF-Fassung des DIMDI vielfach ignoriert. Bliebe das so, würde das erhebliche Auswirkungen auf die sozialmedizinische Begutachtung haben. Mittlerweile munkelt man sogar, manche Akteure wollten die Bedeutung der ICF im ersten Abschnitt des Gesetzes noch weiter abschwächen. Käme dies tatsächlich, wäre es ein fachlicher und politischer Skandal.
Im Bereich der Eingliederungshilfe, die die Leistungen der Dienste und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung umfasst, sind weitreichende Veränderungen vorgesehen. Als Voraussetzung für den Leistungsbezug der Eingliederungshilfe sollen – ohne fachliche Begründung, offensichtlich nur aus fiskalischen Gründen – wenigstens fünf von neun möglichen Teilhabebe-reichen der ICF eingeschränkt sein. Scharf zu kritisieren ist, dass die Leistungen der Pflegeversicherung für Menschen mit Behinderung künftig den Leistungen der Eingliederungshilfe vorgehen sollen. Man beabsichtigt, die von der Eingliederungshilfe zu erbringenden Leistungen zur Vermeidung, Minderung oder Beseitigung der Behinderung ausschließlich der Medizinischen Rehabilitation zuzuordnen und somit auf die Leistungen der GKV zu beschränken. Das verletzt den Artikel 26 der UN-Behindertenrechtskonvention.
Assistenzleistungen der Gesundheitssorge kommen im BTHG-Entwurf deutlich zu kurz. Um sich deren große Bedeutung klarzumachen: Menschen mit geistiger oder seelischer Behinderung, die in Einrichtungen wohnen oder durch Dienste der Eingliederungshilfe ambulant begleitet werden, sind oft nicht in der Lage, die üblicherweise von jeder und jedem zu erwartende Verantwortung für die gesunde Lebensführung, die Beobachtung von Krankheitszeichen sowie die rechtzeitige Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen selbstständig zu übernehmen. Dafür brauchen sie Hilfe und Unterstützung Dritter in Form von Information, Erinnerung, Motivation, Anleitung und stellvertretender Ausführung. Wenn das in der Eingliederungshilfe nicht übernommen werden kann, liegen die Konsequenzen auf der Hand: Für die ohnehin mangelhaft versorgten vulnerablen Personengruppen werden gesundheitliche Versorgung und Gesundheitszustand noch schlechter. Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verlangt jedoch, dass Menschen mit Behinderung eine medizinische Versorgung wie alle andere Menschen bekommen und darüber hinaus diejenigen Leistungen, die sie speziell wegen ihrer Behinderung benötigen. An der UN-Behindertenrechtskonvention ist das BTHG zu messen – nicht an den finanziellen Interessen von Bund, Ländern oder
Sozialleistungsträgern.
Eisfeld, Stephan