POLITIK
8. World Health Summit: Wie ein ganzer Staat in der Fremde


Die humanitäre Situation und Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen sowie Migranten war eines der zentralen Themen des diesjährigen World Health Summit in Berlin.
Seit dem Zweiten Weltkrieg waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Not wie heute. Dieses Los trifft nach Angaben der Vereinten Nationen etwa 65 Millionen Menschen, die Hälfte von ihnen ist jünger als 18 Jahre. Diese Zahl entspricht der Bevölkerungsgröße von Großbritannien. Gemessen an der Weltbevölkerung von 7,3 Milliarden ist somit jeder 113. Mensch ein Schutzsuchender fern seiner Heimat.
„Lebten alle in einer Region, dann würden sie das 21. größte Land der Welt bilden“, veranschaulichte die frühere dänische Ministerpräsidentin und jetzige Vorsitzende der Hilfsorganisation „Save the Children“, Helle Thorning-Schmidt, die Dimension der Flüchlings- und Migrantenströme: „Erst wenn wir uns alle geflohenen Menschen als Einwohner eines Landes vorstellen, wird deutlich, dass sie hinsichtlich Gesundheit, Zugang zu Bildung und anderen Schlüsselfaktoren weit hinter anderen Ländern zurückbleiben.“ Und wie die Bürger vieler realer Länder handele es sich um eine Bevölkerung mit Menschen aus verschiedenen Kulturen, Religionen und Sprachen. Kennzeichen dieses imaginären „Migrantenstaates“ sind laut Thorning-Schmidt:
- die am schnellsten wachsende Bevölkerung der Welt,
- eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt sowie
- eine hohe Kindersterblichkeit trotz vermeidbarer Gesundheitsrisiken.
Statistiken könnten zwar eine Vorstellung vom Ausmaß der gesellschaftspolitischen Herausfordungen vermitteln, aber nicht vom Leid der Geflüchteten, die dringend Schutz und medizinische Versorgung benötigten. „Wir müssen uns weniger auf die Zahlen und mehr auf das Individuum fokussieren“, betonte Thorning-Schmidt in Berlin.
Ziel: Universeller Zugang zur Gesundheitsversorgung
„Die Zivilgesellschaft wird keine Kriege beenden, das ist die Aufgabe der Politik. Aber wir müssen garantieren, dass Flüchtlinge gut und nachhaltig medizinisch versorgt werden“, ergänzte Yves Daccord, Generaldirektor des Internationalen Komittees des Roten Kreuzes (IOC). Er forderte universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle Geflüchteten, aber auch Sicherheit für das Personal der Hilfsorganisationen, die vielfach unter Lebensgefahr in Krisengebieten arbeiteten. Daccord erinnerte daran, dass die Mehrheit der Flüchtlinge – anders als hierzulande häufig wahrgenommen – sich weit entfernt von der „Wohlstandsinsel“ Europa aufhalte: „86 Prozent der Schutzsuchenden werden in Staaten mit geringem Einkommen und schwachen Gesundheitssystemen beherbergt. Der finanzielle und politische Druck auf diese Länder ist enorm. Die Flüchtlinge können dort nicht bleiben“, so Daccord in Berlin.
Der Druck auf die Aufnahmeländer ist enorm
Sechs der zehn Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen liegen nach Angabe des UN-Berichts „Global Trends“ in Afrika – angeführt von Äthiopien und gefolgt von Kenia, Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und dem Tschad. Das mit Abstand größte Aufnahmeland ist mit mehr als 2,5 Millionen Menschen die Türkei. In Relation zur Bevölkerungszahl aber trägt der Libanon die schwerste Last, dort kommen auf 1 000 Einwohner 183 Flüchtlinge.
Daccord warnte davor, die langfristigen Herausforderungen der gesundheitlichen Betreuung von Flüchtlingen und Migranten zu unterschätzen. Bereits jetzt habe die Zahl von psychischen Erkrankungen in dieser Gruppe „epidemische Ausmaße“ erreicht. Die damit zusammenhängenden Auswirkungen werden nach Einschätzung von Daccord die politische Agenda der kommenden zehn Jahre bestimmen. Ohne adäquate Behandlung sei das Leben von ein oder sogar zwei Generationen verloren.
Einen Einblick in die Herausforderungen einer Hilfsorganisation gab Florian Westphal, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, die derzeit in mehr als 40 Ländern medizinische humanitäre Hilfe für Geflüchtete und Vertriebene leistet. Laut Westphal haben deren Mitarbeiter im vergangenen Jahr rund 100 000 Flüchtlinge an Land und 23 000 auf See medizinisch versorgt. Die Menschen, die von Rettungsschiffen aufgenommen würden, seien vielfach dehydriert, manche litten an schweren Hautverbrennungen. Seekrankheit, Unterkühlungen, respiratorische Infektionen, Diarrhoe und Hauterkrankungen wie Skabies seien weitere häufige Diagnosen.
Allein in Griechenland säßen derzeit rund 60 000 Menschen in oft überfüllten Lagern fest. Diese sollten zwar höchstens 72 Stunden in Erstaufnahmezentren verweilen, viele müssten dort jedoch zwei bis drei Monate ausharren. Viele Flüchtlinge würden unter unannehmbaren Bedingungen leben. „Es gibt keinen ausreichenden Schutz und medizinische Versorgung, insbesondere für die besonderen Bedürfnisse von Kindern oder Schwangeren“, so Westphal. „Die Gesundheit dieser Menschen und ihre Psyche ist sehr stark betroffen durch das Erlebte, die Unsicherheit über die Zukunft und das Gefühl, keinen Einfluss auf das weitere Schicksal zu haben.“ Nach den Erfahrungen von Ärzte ohne Grenzen, litten 79 Prozent der Flüchtlinge (nach im Mittel drei traumatischen Ereignissen) an psychischen Störungen.
Brückenbauer zwischen den Kulturen
Aber: Jeder Mensch verarbeite die ungewohnte Situation unterschiedlich, sagte Westphal und warnte vor Pauschalisierungen: „Man muss in jedem Einzelfall untersuchen, wie groß das subjektive Leiden ist. Die Wahrscheinlichkeit für psychische Probleme steigt an, je häufiger Personen massiven Bedrohungen und dem Überlebenskampf ausgesetzt werden.“ Da andere Länder teilweise ein anderes Verständnis von psychischer Gesundheit und Krankheit hätten, sei man – als Brückenbauer zwischen den Kulturen – auf die Unterstüzung von Helfern angewiesen, die die jeweilige Muttersprache beherrschten.
„Kinder und Jugendliche in Flüchtlingscamps haben das Gefühl, wie Straftäter in einem Gefägnis zu sein. Wir dürfen diesen jungen Menschen nicht die Zukunft verbauen“, fügte Thorning-Schmidt hinzu. „Jugendliche brauchen eine Tagesstruktur, Perspektiven und sinnvolle Anreize. Sie wollen arbeiten und etwas lernen.“ Viele seien handwerklich geschickt, die Pflege von Menschen oder das Hüten von Kindern gewohnt. Stattdessen müssten sie erst einmal warten, sie fühlten sich nutzlos – das sei zermürbend.
„Flüchtlingskinder sind in erster Linie Kinder – ganz gleich, woher sie kommen, welcher Gemeinschaft sie angehören und welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Sie haben ein Recht auf Schutz, Fürsorge, Gesundheitbetreuung und Bildung“, so Thorning-Schmidt. Im Interesse der Kinder sei „save the children“ nicht nur auf politische Unterstützung angewiesen, sondern auch auf die Zusammenarbeit mit Firmen (Public Private Partnership), die Impfstoffe und Medikamente herstellen.
Nach Ansicht von William Lacy Swing, Generaldirektor der Internationalen Organisation für Migration (IOM), ist an der Gesundheit der Flüchtlinge abzulesen, ob Integration gelungen sei. Der IOM gehören 162 Mitgliedsstaaten und 10 000 Mitarbeiter an. Sie organisiert im Auftrag der Regierungen den Transport der Flüchtlinge von den großen Aufnahmezentren in die aufnahmebereiten Staaten (Resettlement). Für Deutschland führt die IOM freiwillige Rückreisen von abgelehnten Asylbewerbern und anderen Ausländern durch.
Integration ist ein dynamischer Prozess
Lacy forderte die europäischen Länder zum Umdenken auf: „Wir haben keine europäische Migrationskrise, sondern eine europäische Fluchtamnesie. Aus diesem Erdteil flohen im Zweiten Weltkrieg Millionen Menschen, jetzt wird er zum Aufnahmekontinent.“ Es könne künftig in einer Gesellschaft nicht so sehr um Identität gehen, sondern um gemeinsame Werte und Interessen. „Wir müssen mit Unterschiedlichkeit umgehen lernen. Alle Länder werden in Zukunft multikulturell, multiethnisch, multireligiös.“
Integration sei ein dynamischer Prozess, der von der gesamten Gesellschaft mitgestaltet werde. „Wir müssen vor allem das Migrationsnarrativ ändern. Einwanderung ist nicht toxisch, sondern hat überwältigend positive Effekte. Einwanderungsfreundliche Länder genießen mehr Wohlstand und Wachstum“, so Lacy. In den USA beispielsweise seien 40 Prozent der Vorstandsvorsitzenden der größten Unternehmen Einwanderer oder deren Kinder. Wenn die Regierungen zusammenarbeiten und Nichtregierungsorganisationen sowie der Privatsektor angemessen beteiligt werden, erreichen wir nicht nur für das Individuum, sondern für die globale Gemeinschaft einen Mehrwert.“
Dr. med. Vera Zylka-Menhorn